Schweden setzt weiterhin auf Herdenimmunität – Kritik durch 25 schwedische Ärzte und Wissenschaftler

Für den schwedischen Chef-Epidemiologen Tegnell ist die deutsche Corona-Strategie eine Art stotternde Bremse, ähnlich dem Autofahren bei Eis und Schnee. Man könne ganze Gesellschaften nicht erst voll bremsen, wieder anfahren und möglicherweise erneut voll bremsen. Schwedens Regierung setzt weiter auf Selbstkontrolle und Herdenimmunität. Nun melden sich auch andere Virologen Schwedens zu Wort.
Von 28. Juli 2020

Der schwedische Epidemiologe Tegnell kritisiert die deutsche Corona-Strategie als „Pumpbromsa“. Pumpbromsa bedeutet übersetzt so viel wie „Stotterbremse“. So könne man Gesellschaften nicht erst voll bremsen, dann anfahren und möglicherweise nochmal voll bremsen. Pauschale Abschottungen und Schulschließungen seien „völlig sinnlose Maßnahmen“, so „n-tv“.

Schweden entschied sich, nicht in einen Lockdown zu gehen, sondern auf Vernunft, Selbstkontrolle und gesunden Menschenverstand zu setzen. Das öffentliche Leben lief weiter, Gastronomie und Schulen blieben geöffnet. Es wurde jedoch ein Versammlungsverbot von über 50 Personen ausgesprochen. Weiterhin gilt in Schweden ein Einreiseverbot für Menschen außerhalb der EU, Maskenpflicht besteht nicht.

Obwohl die WHO Anfang Juli Schwedens Strategie lobte (was für viele Regierungen Europas brisant ist und diesen die Legitimation für die massiven Quarantänemaßnahmen entzieht) wächst gleichwohl auch Kritik im Land.

Kritik durch 25 schwedische Ärzte und Wissenschaftler

25 schwedische Ärzte und Wissenschaftler stellen sich aktuell mit einem offenen Brief gegen die Strategie der Herdenimmunität, den offiziellen Regierungsweg. Lena Einhorn, Mitverfasserin und Virologin, räumt ein, dass die Fälle von COVID-19 zurückgehen. Sie führt dies jedoch laut „Politico“ auf andere Ursachen und nicht die zunehmende Immunität zurück.

Die schwedische Regierung veröffentlichte in dieser Woche Daten, wonach die Immunität gegen SARS-CoV-2 in Stockholm bereits bis 40 Prozent betragen könnte. Ihr leitender Immunologe, Anders Tegnell, erklärt: „Wir befinden uns eindeutig auf einem sehr hohen Niveau.“ Und weiter:

Der Rückgang, den wir jetzt sehen, spricht stark für eine sehr große Immunität in der Bevölkerung.“

Tegnell und seine Behörde gehen davon aus, dass diejenigen, die sich von dem Virus erholt haben, immun sind und dass die Immunität mindestens sechs Monate anhalte.

Im Gegensatz dazu sagt Lena Einhorn:

Die Gründe dafür sind vielfältig, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Herdenimmunität eine größere Rolle spielt.“

Immunitätsraten auf 10 Prozent und weniger geschätzt

Die Verfasser des Briefes vermuten, dass die Immunitätsraten weit unter den von der Behörde genannten lägen, möglicherweise sogar bei nur 10 Prozent. Virologin Einhorn nennt als Gründe für den Rückgang der Erkrankten bessere Hygiene in den Altenpflegeheimen und die Tatsache, dass viele Schweden in ihren Sommerhäusern sind und sich damit selbst sozial distanzieren.

Die 40-Prozent-Schätzung der Gesundheitsbehörde hat ihrer Ansicht nach Schwächen. So basiere weniger als die Hälfte der Zahl auf positiven Tests auf Antikörper, was als ein klares Zeichen für eine durchgemachte Erkrankung angesehen wird, von der sich die Person erholt hat.

Die andere Hälfte der Schätzung der Behörde beziehe sich auf unbekannte Mechanismen des Immunsystems. Dabei werde angenommen, dass sie dazu führen, dass ein Patient zwar immun ist, aber nicht positiv auf Antikörper gegen das Coronavirus getestet wurde.

Herdenimmunität laut anderen Studien unwahrscheinlich

In Spanien stellten Forscher fest, dass selbst in besonders stark von der Pandemie betroffenen Gebieten nur 5 bis 15 Prozent der Patienten anschließend Antikörper besaßen. Auch in stark betroffenen Gebieten wie Madrid, Cuenca oder Toledo lag die Immunität maximal bei 14,4 Prozent. In vielen Küstengebieten hatten laut einer im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlichten Studie weniger als drei Prozent der Einwohner Antikörper im Blut.

Auch eine Studie chinesischer Forscher zeigte, dass die Antikörper bei vormals Erkrankten rasch weniger wurden.

In der internationalen Forschergemeinschaft werden daher Bedenken laut, dass eine Herdenimmunität bei COVID-19 möglicherweise gar nicht erreicht wird. Epidemiologen sprechen davon, dass zumindest 70 Prozent der Bevölkerung Antikörper haben müssten, um Herdenimmunität zu erreichen.

Und es bleibt die Frage offen, wie lange der Antikörperschutz bestehen bleibt. Diese Frage könnte auch nach der Entwicklung eines Impfstoffes bestehen bleiben. Der Berater des Weißen Hauses, Dr. Anthony Fauci, sagt, wenn sich das Virus wie andere Coronaviren verhält, ist es „wahrscheinlich, dass es keine lange Immunität“ geben wird.

Selbstkontrolle: Auf lange Sicht der einzige Weg

Tegnell plädierte von Anfang an dafür, eine Gesellschaft eher sanft und gezielt zu immunisieren, als sie streng zu isolieren. „Massenhafte Kontaktsperren führten nur dazu, dass der Erreger im Herbst wiederkehren werde“ zitierte „n-tv“ Tegnell.

Der Chef-Epidemiologe Schwedens argumentierte stets, dass sich die Welt erst in der ersten Phase eines langen Kampfes gegen Covid-19 befindet. Deshalb sei Schwedens Strategie, auf die Vernunft und Selbstkontrolle der Menschen zu setzen, auf lange Sicht der einzig realistische Weg, damit umzugehen.

Schwedens Umgang mit dem Virus könnte nachhaltiger sein als die scharfen Maßnahmen in anderen Ländern, ist das Fazit von William Hanage, Epidemiologe an der Harvard’s School of Public Health in Boston.

(Mit Material der Agenturen)



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