Sturm auf türkische Grenze: Schickt Erdoğan bald Millionen Syrer nach Europa?

Über Jahre hinweg hatte die Türkei syrische Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Mittlerweile sind deutlich mehr als drei Millionen im Land, die Bevölkerung klagt über Kriminalität und Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Aus Idlib drängen weitere Flüchtlinge an die Grenze.
Von 12. September 2019

Nach einem weiteren Versuch syrischer Flüchtlinge aus der Provinz Idlib, am heutigen Donnerstag (12.9.) den Grenzübergang Bab al-Hawa zu stürmen, um in die Türkei zu gelangen, befürchtet die in Wien erscheinende „Neue Kronen Zeitung“, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den 2016 geschlossenen Flüchtlingsdeal mit der EU aufkündigen könnte.

Nachdem es bereits seit Ende August mehrfach zu versuchten Grenzstürmen durch Syrer aus der umkämpften Provinz gekommen war, wobei es in einem Fall sogar einen Toten gegeben haben soll, setzten die Sicherheitskräfte auch heute wieder Tränengas und Gummigeschosse ein, um hunderte Schutzsuchende am illegalen Übertritt zu hindern.

Grenze seit 2016 geschlossen

Seit einigen Wochen versucht das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gemeinsam mit den verbündeten Streitkräften der Russischen Föderation, die Provinz Idlib einzunehmen. Diese gilt als einer der letzten verbliebenen Rückzugsorte radikal-islamischer Rebellen, die seit Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 2011 mit Unterstützung der Türkei versucht hatten, Assad zu stürzen.

In der Region leben Schätzungen zufolge etwa drei Millionen Menschen. Seit Beginn der Offensive sollen UN-Angaben zufolge mehr als 570 000 Menschen aus dem Gebiet geflohen sein. Die Türkei hat die Grenze zu Syrien im Jahr 2016 geschlossen. In Abstimmung mit der EU wurden die Grenzanlagen massiv ausgebaut. Gleichzeitig sagte die Türkei den nach den Ereignissen von 2015 völlig überforderten Europäern zu, den Zustrom an Asylsuchenden aus Syrien zu drosseln – gegen die Bezahlung mehrerer Milliarden Euro zum Zwecke der Grenzbefestigung und Betreuung bereits in der Türkei befindlicher Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak.

Die syrischen Rebellen, aber auch viele Geflüchtete fühlen sich von der Türkei nun im Stich gelassen. Zu Beginn des Bürgerkrieges im Jahre 2011 hatte der damals als Premierminister amtierende heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan bereitwillig die Grenzen für Schutzsuchende aus Syrien geöffnet.

Damals schaltete Ankara in der regionalen Außenpolitik vom Prinzip „Keine Probleme mit den Nachbarn“ auf proaktiven Neo-Osmanismus um, mittels dessen Erdoğan – im Verbund mit der Muslimbruderschaft – eine Hegemonie in der arabischen und islamischen Welt anstrebte.

Neo-osmanische Rechnung ging nicht auf

Die türkische Regierung, die unter dem Eindruck des „Arabischen Frühlings“ teils im Zusammenwirken mit arabischen Golfstaaten islamistische Rebellen dazu ermunterte, sich gegen das Assad-Regime zu erheben, rechnete damit, dass Assad binnen weniger Wochen besiegt würde und die Flüchtlinge zurückkehren könnten.

Die Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht. Die Rebellen verloren nicht zuletzt infolge des Auftretens des „Islamischen Staates“ und anderer für grenzenlose Brutalität bekannter Extremistengruppen an Rückhalt. Die syrische Armee und ihre Verbündeten, die es ebenfalls nicht an Rücksichtslosigkeit gegenüber Zivilisten fehlen ließen, konnten immer mehr Gebiete zurückerobern. Die Zahl der Flüchtlinge in der Türkei stieg auf deutlich mehr als drei Millionen an.

Obwohl die türkische Bevölkerung den kulturell nahestehenden syrischen Flüchtlingen zu Beginn mit offenen Armen begegnete, hatten der nicht abreißende Zustrom, die nicht absehbare Rückkehroption und die wirtschaftliche Eintrübung in der Türkei einen Stimmungswandel zur Folge.

Als Erdoğan in Aussicht stellte, den syrischen Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft zu verleihen, stieß er damit auf vehementen Widerstand in oppositionellen und nationalistischen Kreisen. Fälle von Kriminalität und die Tatsache, dass die syrischen Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und für türkische Kleinunternehmer eine zunehmende Konkurrenz darstellten, drohten auch Erdoğan zu schaden, sollte er weiterhin eine zu offene Flüchtlingspolitik gegenüber den Syrern betreiben.

Von offenen Armen über Abschiebepolitik hin zur Weiterleitung nach Europa?

Vor diesem Hintergrund versucht Erdoğan nun innenpolitisch zu punkten, indem er an die Verantwortung der reichen Europäer für die Schutzsuchenden appelliert – und droht, die eigenen Grenzen in Richtung Europa wieder zu öffnen.

Mittlerweile hat Erdoğan bereits mehrfach eine mögliche Aufkündigung des Paktes angedroht, den sein damaliger Premierminister Ahmet Davutoğlu im März 2016 mit Angela Merkel und den anderen Staats- und Regierungschefs der EU ausgehandelt hatte. Sollte die EU ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen und sollte die mit den USA vereinbarte „Schutzzone“ für Flüchtlinge in Nordsyrien nicht umgesetzt werden, „werden wir gezwungen sein, die Türen zu öffnen“, erklärte der türkische Präsident vor einer Woche in Ankara.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas zeigte sich besorgt über die steigende Zahl von Flüchtlingen und Migranten, berichtet die „Krone“ weiter. Er habe deshalb mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu telefoniert, sagte Maas am Donnerstag. Die EU müsse ihre Zusagen aus dem Migrationsabkommen einhalten, das gelte auch für die Türkei, erklärte Maas, und ergänzte: „Ich gehe davon aus, dass sich die Situation Stück für Stück wieder normalisieren wird.“

Wieder deutlich mehr Migranten auf Lesbos und in Nordmazedonien

Dem Deal aus dem Jahr 2016 zufolge können etwa Migranten, die illegal nach Griechenland gelangen, in die Türkei zurückgeschickt werden. Die EU nimmt im Gegenzug für jeden abgeschobenen, illegal eingereisten Syrer einen registrierten syrischen Flüchtling als legal Einreisenden aus der Türkei auf.

Die Vereinbarung hatte nach ihrem Inkrafttreten eine deutliche Entspannung entlang der Balkanroute zur Folge. Zuletzt waren jedoch wieder deutlich mehr Migranten über die türkische Grenze vor allem auf die griechische Insel Lesbos und nach Nordmazedonien gelangt.

Brüssel hatte der Türkei damals auch sechs Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen für die Jahre 2016 bis 2019 zugesagt. Davon seien 2,4 Milliarden Euro ausgezahlt worden und 3,5 Milliarden vertraglich vergeben, teilte die EU-Kommission unlängst laut Nachrichtenagentur dpa mit. Mehr als 80 Projekte seien angelaufen.



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