Türkeiforscher vom King’s College: „Antisemitismus spielt zentrale Rolle in Erdoğans Strategie“

Die Türkei war einst das erste mehrheitlich muslimische Land, das Israel anerkannt hatte. Ankara und Jerusalem pflegten konstruktive Beziehungen, bis Erdoğan 2009 in Davos eine 180-Grad-Wende einleitete. Simon Waldman vom King’s College London erklärt die Erwägungen hinter der Konfrontationspolitik.
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IstanbulFoto: über dts Nachrichtenagentur
Epoch Times29. September 2018

Anlässlich des Besuchs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Berlin hat die „Jüdische Allgemeine“ mit Simon Waldman gesprochen, dem Leiter der Turkish Studies Research Group am King’s College London. Obwohl es in der Türkei selbst nur noch eine sehr kleine jüdische Gemeinde gibt, verfolgen auch Juden in Europa die Entwicklungen seit der Regierungsübernahme der AKP mit wachem Interesse.

Ursprünglich war das Verhältnis zwischen Israel und der Türkei sehr entspannt. Die Türkei war das erste mehrheitlich muslimische Land, das den jüdischen Staat anerkannt hatte – sogar schon, bevor das Land in die UNO aufgenommen wurde. Ankara und Jerusalem bauten in weiterer Folge auch ihre Wirtschaftsbeziehungen aus, arbeiteten im Bereich der Infrastruktur zusammen und hatten sogar ein geheimes Militärabkommen, um Terrorgruppen mit Rückendeckung aus Syrien in Schach zu halten.

Die berüchtigte „One Minute“-Rede Erdoğans auf dem Weltwirtschaftsforum 2009 in Davos, in der er Israel scharf für dessen militärisches Vorgehen gegen die terroristische Hamas im Gazastreifen zum Jahreswechsel 2008/09 angriff, markierte eine Wende in der türkischen Israel-Politik. Gleichzeitig war der Konfrontationskurs gegenüber Israel der Beginn der Abkehr von der Sonnenscheinpolitik der AKP unter dem Motto „Keine Probleme mit den Nachbarn“ und die Wende hin zu einer Außenpolitik, die im Wesentlichen der Doktrin der Muslimbruderschaft folgt.

Erdoğan erhebt Führungsanspruch in der sunnitischen Welt

Wie auch in anderen Einwanderercommunitys in Europa ist seit dieser Zeit auch in den türkischen Gemeinden ein Aufflammen des Antisemitismus zu verzeichnen. Im Jahr 2014 wurden auf Demonstrationen, die von der staatlichen türkischen Ditib organisiert worden waren, Rufe wie „Juden ins Gas“ laut.

Dass die Regierung in Ankara Entwicklungen wie diese offenbar billigend in Kauf nimmt, sei die Konsequenz der außenpolitischen Ambitionen Erdoğans, in der sunnitischen Welt die Führungsrolle einzunehmen, meint Waldman:

„Zum einen definiert sich die Türkei unter Erdogan nicht mehr länger als ein Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft. Zum anderen betrachtet sie sich aber auch nicht als Teil einer irgendwie russisch oder iranisch dominierten Achse.“

Der imperiale Anspruch des „Neo-Osmanismus“ vollziehe sich vor allem in einer wirtschaftlichen und kulturellen Durchdringung. Sehr gut lasse sich das am Beispiel der kurdischen Regionen im Nordirak beobachten, wo „angefangen von der Supermarktkette bis hin zu der Ausrüstung der Sicherheitskräfte“ fast alles türkischer Provenienz sei. Auch strebe Erdoğan eine Revision der Grenzziehung aus dem Vertrag von Lausanne 1923 an.

Vollständiger Abbruch der Beziehungen unwahrscheinlich

Die Verschlechterung der Beziehungen zu Israel liege daran, dass Erdoğan es sich nicht leisten könne, ein enger Verbündeter Jerusalems zu sein und gleichzeitig seine Ansprüche auf eine Führungsrolle in der sunnitischen Welt anzumelden. Die türkisch-israelischen Beziehungen dürften damit „nie wieder so eng“ werden wie früher. Insbesondere sei Israel nun gewarnt und werde nicht wie vor 2009 umfangreiche Rüstungsgüter und militärisches Know-how in die Türkei liefern.

Mit einem vollständigen Abbruch der bilateralen Beziehungen sei jedoch nicht zu rechnen, aus einem auch für die Türkei nachvollziehbaren Grund:

„Israel ist inmitten eines äußerst volatilen Umfelds eine große Konstante sowie eine Insel der Stabilität in der Region. Erst recht nach den Umbrüchen des sogenannten Arabischen Frühlings. Das wissen auch die Verantwortlichen in Ankara, weshalb man die Tür zu Jerusalem nie ganz geschlossen hat.

Für die jüdische Community in der Türkei seien die Zukunftsaussichten aber trüb. Sie sei im Laufe der vorangegangenen Jahrzehnte auf weniger als ein Fünftel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft, von Überalterung und Abwanderung geprägt und unterhalte nur in wenigen Städten Gemeinden.

„Aber für die Juden kam noch eine andere, sehr viel bitterere Erkenntnis hinzu: Es hat sich nun endgültig als Illusion erwiesen, dass man Jude und Türke zugleich sein kann. Zu Zeiten des Staatsgründers Atatürk mag das noch irgendwie funktioniert haben. Spätestens als Erdogan seine Macht ausbaute, war damit Schluss. Ähnliche Erfahrungen durften bereits die Armenier und Kurden machen.“

Antisemitische Verschwörungstheorien – auch staatlich finanziert

Dass auch nennenswerte jüdische Präsenz in der Türkei der Antisemitismus eine prägende Rolle spielt, hänge auch mit der verbreiteten Neigung zu Verschwörungstheorien zusammen, die vor allem das islamistische AKP-Umfeld und die nationalistischen „Idealisten“ kultivieren. Demnach sei bereits Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk – wenn er nicht gerade der Freimaurerei zugeordnet wird – Teil einer Verschwörung sogenannter Krypto-Juden gewesen, die sich zum Ziel gesetzt hätten, das osmanische Kalifat zu beseitigen. Jüdische Verschwörungen werden auch gerne hinter Ereignissen und Phänomenen wie den Gezi-Unruhen, der Gülen-Bewegung, dem Putschversuch von 2016 und der aktuellen Wirtschaftskrise vermutet.

In der populären TV-Produktion „Üst Akil“ („Der Drahtzieher“) werde gezeigt, dass „hinter der Opposition gegen Erdogan sowie dem Terror in der Türkei eine Verschwörergruppe steht, die nicht nur zufälligerweise eine große Ähnlichkeit mit den Weisen von Zion hat“.

Die antisemitischen Vorkommnisse im Umfeld von Ditib-Veranstaltungen vollziehen sich nach Einschätzung Waldmans nicht im luftleeren Raum. Zwar gäbe es noch keine konkreten Untersuchungen, aber vor dem Hintergrund der Aufgabe des Verbandes, zugunsten Erdoğans zu mobilisieren, liege es nahe, an eine Systematik dahinter zu glauben:

„Weil aber immer wieder Einzelfälle publik werden und Ditib am finanziellen Tropf der staatlichen Religionsbehörde Diyanet hängt, kann man sehr wohl davon ausgehen, dass bestimmte Inhalte weiterverbreitet werden.“



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