Ungarn – engster Verbündeter der Türkei in Europa? Erdoğan zu Staatsbesuch bei Orban eingetroffen

Am Donnerstag ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Staatsbesuch in Ungarn eingetroffen. Die Regierung Viktor Orban hatte ihm zuletzt gegen Kritik am Vorgehen in Syrien den Rücken freigehalten. Dies liegt nicht nur am Flüchtlingsdeal.
Titelbild
Recep Tayyip Erdogan und Viktor Orbán (Archivbild).Foto: ATTILA KISBENEDEK/AFP/Getty Image
Von 7. November 2019

Anlässlich des vierten Treffens des bilateralen strategischen ungarisch-türkischen Kooperationsrats ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Donnerstag (7.11.) zu einem eintägigen Staatsbesuch in Ungarn eingetroffen. Wie die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet, hat Erdoğan dabei mit Ungarns Premierminister Viktor Orban im Sandor-Palast zu Budapest Gespräche geführt.

Im Zuge des Treffens sollen mehrere Abkommen zur Stärkung der wechselseitigen Kooperation zwischen Budapest und Ankara unterzeichnet worden sein. Am Nachmittag besuchte Erdoğan das Grabmal des Sufi-Poeten Gül Baba, der im 16. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Ungarn gewirkt hatte, und eine Miniaturenausstellung über das Bogenschießen in der Osmanischen Ära.

Ungarn blockiert Schritte der EU gegen Ankara

„Euronews“ zufolge sei es am Rande des Treffens zu Protesten prokurdischer Gruppen gekommen, die an der türkischen Militäroffensive Anstoß nehmen, die sich seit mehreren Wochen gegen Stellungen der kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) richtet. In der EU hatte es mehrfach Versuche gegeben, ob des Vorgehens der türkischen Führung Sanktionen oder zumindest Missbilligungsadressen gegenüber Ankara auszusprechen – was Ungarn teilweise im Alleingang blockiert hatte.

Seit dieser Zeit häufen sich die Spekulationen über die Gründe, warum ausgerechnet Ungarn, dessen restriktive Migrationspolitik und solidarische Position gegenüber Israel den weltanschaulichen Überzeugungen der Regierung Erdoğan diametral entgegenlaufen, auf der anderen Seite gleichsam als verlässlichster Verbündeter Ankaras innerhalb der EU auftritt. Es gibt für die wechselseitige Nähe allerdings eine Mehrzahl an Gründen, die teils historische, teils geostrategische, teils tagespolitische und teils ökonomische Gesichtspunkte berühren. Der Erhalt des Flüchtlingsdeals der EU aus dem Jahr 2016 mit Erdoğan ist nur einer davon.

Im Jahr 2013 hatte Erdoğan zum ersten Mal Budapest besucht. Damals hatten Orban und er sich zum Ziel gesetzt, ein jährliches bilaterales Handelsvolumen von mindestens fünf Milliarden US-Dollar zu erreichen. Bis dato ist dieses Ziel zu drei Fünftel erreicht.

Habsburger und Sowjets – in der Finnougristik vereint

Die Türkei sieht in Ungarn einen lukrativen potenziellen Zielmarkt für Produkte ihrer Rüstungsindustrie, nachdem die Regierung Erdoğan über Jahre hinweg hohe Summen investiert hatte, um das Land in diesem Bereich zur Exportnation zu machen. Orban wiederum ist daran interessiert, in die Planungen zur russisch-türkischen Erdgaspipeline „Turkish Stream“ integriert und in der Trassenführung berücksichtigt zu werden.

Aber auch historische und geostrategische Gesichtspunkte haben zur Folge, dass Ungarn die Türkei nicht als ein Land wie jedes andere betrachtet et vice versa. Zum einen streiten Ethnologen und Geschichtsforscher bis heute, inwieweit zwischen beiden Völkern eine gemeinsame Herkunft oder gar Wurzel vorhanden sei.

Die Geschichtsforschung ist diesbezüglich seit Jahrhunderten entlang ideologischer Linien gespalten: In der Habsburgermonarchie war man bestrebt, die Herkunft der Ungarn infolge der sprachlichen Gemeinsamkeiten mit den Finn-Ugriern zu „nordisieren“. Pantürkische Turanisten behaupten demgegenüber, bei den Ungarn handele es sich um ein entferntes Turkvolk, das erst mit den Hunnenstürmen in Europa Fuß gefasst habe.

Auch zwischen mehrheitlich katholischen und mehrheitlich protestantischen Regionen Ungarns bestehen bezüglich des Identitätsverständnisses Auffassungsunterschiede. Ähnlich wie die Donaumonarchie hatte auch die Sowjetunion als Hegemonialmacht – obwohl ideologisch komplett anders ausgerichtet – die Narrative der Finnougristik gepflegt. Dies vor allem zu dem Zweck, die Beziehungen zur Türkei zu unterbinden, die als „kapitalistisches“ NATO-Mitgliedsland geopolitisch zu den Feinden gehörte.

Neuere Erkenntnisse deuten uigurischen Ursprung der Ungarn an

Tatsächlich deuten Forschungen neueren Datums jedoch darauf hin, dass die Herkunft eines Großteils der autochthonen Bevölkerung des heutigen Ungarns historisch und genetisch auf einen Ursprung im zentralasiatischen Altai-Gebirge hinweist, das heute auf die Staatsgebiete der Russischen Föderation, der Mongolei, der VR China und Kasachstan verteilt ist. Die Ungarn sollen neueren japanischen Forschungen zufolge von den Uiguren abstammen und ähnlich wie die Türken als Reitervolk in Richtung Osteuropa aufgebrochen sein.

Orban weiß um die wechselvolle Geschichte, die Ungarn nicht nur westlichen Herrschern, sondern auch russischen und osmanischen Einflüssen ausgesetzt hatte – nicht immer nur zu dessen Vorteil, wie etwa das historische Teilungstrauma nach der Schlacht von Mohacs 1552 zeigte. Ein antitürkisches Ressentiment hat diese Erfahrung dennoch nicht bewirkt – ebenso wenig wie die blutige Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 durch die Sowjetunion eine grundsätzliche Russophobie hervorgerufen hätte. Dennoch ist man in Ungarn gegenüber fremden Hegemonialansprüchen aus jedweder Richtung wachsam. 

Heute sind neben der EU, Russland und der Türkei auch die USA ein bedeutender Player in Teilen Osteuropas, insbesondere über die Länder der Drei-Meere-Initiative, der auch Ungarn angehört und die mithilfe der Amerikaner versucht, sich gegenüber der Einflussnahme Brüssels wie auch jener Moskaus eigenständig zu halten. Auch deshalb versucht Ungarns Regierung, die Beziehungen zu allen bedeutenden Akteuren in der Region zu pflegen und auszubauen – ohne sich von einer Seite abhängig zu machen.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion