1990er Jahre in Ostdeutschland: „Bundesregierung wollte Wut auf Treuhand lenken, um selbst verschont zu bleiben“

Knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall sind die innerdeutschen Differenzen immer noch nicht überwunden. Historiker Marcus Böick erklärt, dass dies nicht nur Folge der DDR-Vergangenheit, sondern auch der Verwerfungen im Ostdeutschland der 1990er sei.
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So sahen viele DDR-Fabriken aus, nachdem die Treuhand sie verkauft hatte: Ausgeschlachtet.Foto: iStock
Von 3. November 2019

Eine der ersten gesamtdeutschen Institutionen, die DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung kennenlernten, war auch eine der mächtigsten ihrer Zeit – und eine, die das Leben von Millionen Menschen nachhaltig beeinflusste: die Treuhandanstalt, deren Aufgabe es war, das weitere Schicksal der ehemaligen „Volkseigenen Betriebe“ (VEB) der DDR zu bestimmen.

Die Einrichtung nahm 1990 ihre Arbeit auf, der Großteil ihrer Aufgaben war 1994 beendet, sodass die Gesellschaft umbenannt und zur Wahrnehmung noch verbliebener Agenden ab 1995 in mehrere Nachfolgeeinrichtungen ausgespalten wurde. Bis 1994 war die Anzahl der Beschäftigten in früheren VEBs von 4,1 Millionen auf 1,5 Millionen zurückgegangen, die Treuhand beendete ihre Tätigkeit mit einem Verlustsaldo von 275 Milliarden D-Mark.

Etwa 80 Prozent der Betriebe, die weitergeführt werden sollten, wurden von westdeutschen Investoren aufgekauft, 15 Prozent von ausländischen. Im Regelfall wurde nicht nur ein Großteil der Belegschaft entlassen, sondern auch das gesamte Management ausgetauscht und durch Westdeutsche ersetzt.

Traumatische Erfahrungen für Millionen Ostdeutsche

Für Millionen früherer DDR-Bürger endete diese Ära in Arbeitslosigkeit, Beschäftigungsmaßnahmen, Umschulungen, Frührente oder Sozialhilfe – eine traumatische Erfahrung, die schon bald dafür sorgte, dass die Freude über die Wiedervereinigung einem Gefühl der Entfremdung wich. Die verbreitete Wut in der Bevölkerung sicherte der SED-Nachfolgepartei PDS, später „Die Linke“, das politische Überleben und führte dazu, dass auf Bundesebene unbedeutende Rechtsaußenparteien wie DVU und NPD in Landtage einziehen konnten.

Heute fordern Linkspartei und AfD unisono in ostdeutschen Landtagen Untersuchungsausschüsse, in denen die Frage geklärt werden soll, inwieweit DDR-Bürger durch die Entscheidungen der Treuhand gezielt benachteiligt worden seien.

Im Interview mit dem „Spiegel“ meint der Bochumer Historiker und Forscher zum Thema „Treuhand“, Marcus Böick, die heutigen Entwicklungen in den neuen Bundesländern ließen sich nicht mehr allein mit der DDR-Vergangenheit erklären, sondern in mindestens gleichem Maße mit den Nachwendeerfahrungen, die sich mit der Tätigkeit der Treuhand verbinden.

„Der Treuhand-Kurs hat tiefe Risse und Konfliktlinien produziert“, so Böick, das habe „Mentalitäten geprägt und bei Millionen Betroffenen ein tiefes Bedürfnis, Erklärungen für diese Brüche zu finden. […] Die Arbeiterfiguren mit Helm und Blaumann, das waren eben noch die Helden der sozialistischen Arbeit gewesen – und dann auf einmal waren sie die Problembären des Postsozialismus, Kandidaten für die Frührente oder für Arbeitsbeschaffungsprogramme, bei denen sie ihre alten Werkhallen abreißen sollten.“

„Bundesregierung wollte Wut auf Treuhand lenken, um selbst verschont zu bleiben“

Die Bundesregierung habe der Treuhand bewusst die Funktion eines Blitzableiters gegeben, um zu verhindern, dass sich die Wut der Bürger über wirtschaftliche und soziale Verwerfungen gegen die Politik selbst richte, so Böick.

Dauerhaft habe dies jedoch nicht verhindern können, dass sich Mentalitäten verfestigen, die bis heute innerdeutsche Differenzen aufrechterhielten – und auch dazu beitragen, dass die „Meistererzählung“ scheitere, wonach mit der Wiedervereinigung die Nachkriegszeit geendet und mit dem vereinten Deutschland der Weg zum vereinten Europa begonnen habe.

Eindimensionale Erklärungen werden der Situation nicht gerecht

Dazu gäbe es zwei unterschiedliche Erzählungen zu den Ursachen der Nachwendeerfahrungen. Die etablierte westdeutsche, wonach das SED-Regime mit seinem Unvermögen und seiner verfehlten Wirtschaftspolitik die Misere selbst hervorgerufen habe. Zudem habe die Regierung Hans Modrow falsche Zahlen zur tatsächlichen Produktivität der Betriebe geliefert.

Die andere meint, der schlechte Zustand der DDR-Wirtschaft sei nur ein Vorwand für eine „neoliberale“ und „kolonialistische“ Kahlschlagpolitik gewesen, die auch überlebensfähige Strukturen zerschlagen und Versorgungsposten für Manager geschaffen hätte, die im Westen nicht mehr erwünscht gewesen wären. Dabei sei es auch darum gegangen, der West-Industrie unliebsame Ostkonkurrenz aus dem Weg zu räumen.

Beide Sichtweisen erfassten jedoch nur einen Teil der Wahrheit, so Böick:

Es war nicht nur das eine oder nur das andere. Die Sache bekam dadurch ihre Wucht, dass da eben zwei Dinge dramatisch aufeinander folgen, sich ineinander verschlingen: die erstarrte DDR-Planwirtschaft wird unvermittelt abgelöst durch die Wucht der Privatisierungen. Beides wirkt untrennbar zusammen.“

 



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