BGH-„Luftraum“-Urteil: Klimaschutz und Gemeinwohl vor Eigentum

Eine Berliner Hauseigentümerin darf ihre Wärmedämmung auch über ihre Grundstücksgrenze hinaus verlegen. Die Nachbarin muss das dulden, auch und vor allem des Klimaschutzes wegen.
BGH-„Luftraum“-Urteil: Klimaschutz und Gemeinwohl vor Eigentum
BundesgerichtshofFoto: über dts Nachrichtenagentur
Von 20. August 2022

Es ist eine Grenzüberschreitung, mit der sich der Bundesgerichtshof (kurz BGH) in Karlsruhe (V ZR 23/21) kürzlich abschließend beschäftigte. In dem Urteil ging es um eine Wertung, ob das Eigentumsrecht höher anzusiedeln ist als das Wärmedämmbestreben einer Nachbarin. Der sich in Berlin zutragende Nachbarschaftsstreit wurde nun zugunsten des Klimaschutzes beschieden, einem dem Gericht nach „anerkannten Gemeinwohlbelang“.

Nachbarschaftliche „Luftraumverletzung“

Zwei Nachbarn in Berlin waren bereits vor einigen Jahren in Streit geraten. Die Eigentümerin des einen Hauses wollte ihren seit 1906 nicht mehr sanierten Dachgiebel mit einer Wärmedämmung versehen. Unterhalb des Giebels befindet sich das um 7,5 Meter niedrigere Nachbarhaus. Beide Häuser grenzen direkt aneinander, weswegen die Dämmung gewissermaßen um 16-Zentimeter in den „Luftraum“ der Nachbarin eindringen würde – was sie nicht wollte. Daraufhin zog die sanierungswillige Eigentümerin vor Gericht.

Das Amtsgericht Pankow/Weißensee gab ihr am 24. Januar 2018 recht – und verurteilte die Nachbarin (7 C245/17), die Überbauung ihres Grundstücks durch das Dämmmaterial zu dulden. Die Frau ging in Berufung, die jedoch vom Landgericht Berlin 1 am 28. Januar 2021 (65 S 52/18) zurückgewiesen wurde. Die Revision kam schließlich vor den Bundesgerichtshof – und wurde abgelehnt.

Der zuständige V. Senat des BGH (Grundstücksrecht) fand keine formellen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des vorinstanzlich zur Anwendung gekommenen §16 des Berliner Nachbarschaftsgesetzes (NachbG Bln). Auch wurde die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin in dem Fall nicht infrage gestellt.

In anderen Bundesländern „eher unwahrscheinlich“

Die Epoch Times fragte beim Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke nach, wie das BGH-Urteil auf seine allgemeine Tragweite einzuschätzen sei. Das Urteil treffe den aktuellen Zeitgeist, so der Rechtsanwalt, der auf den vom Gericht angeführten Verfassungsrang des Klimaschutzgebots verwies. „Das Urteil ist rechtlich gesehen folgerichtig“, erklärte Solmecke. Das Interesse des Grundstückseigentümers an der Energieeinsparung durch eine grenzüberschreitende Dämmung sei höher zu gewichten als das entgegenstehende Interesse des Nachbarn an der vollständigen Nutzung seines Grundstücks. Es decke sich mit dem Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden.

Der BGH sei zu seiner Einschätzung gekommen, weil ein Rechtsstreit um die Dämmung diese womöglich für Jahre blockieren würde. Deshalb sei die Vorschrift im Nachbargesetz noch zulässig.

„Dreh- und Angelpunkt des Streits war die Vorschrift des § 16a des Berliner Nachbargesetzes, die regelt, wann grenzüberschreitende Wärmedämmungen zu dulden sind.“ Da in anderen Bundesländern jedoch ein Duldungsanspruch von weiteren Voraussetzungen abhängig sei, sei „eine Übertragung auf andere Bundesländer eher unwahrscheinlich“, so die Einschätzung des Juristen.

BGH: Zweifel ohne Überzeugung

Zurück zum Fall. Zwar äußerte der Bundesgerichtshof „Zweifel an der materiellen Verfassungsmäßigkeit“ des Berliner Gesetzes und der „Vereinbarkeit der Norm mit Art. 14 Abs. 1 GG“ (Eigentum). Allerdings ging der BGH nicht so weit, die Aussetzung des Berliner Gesetzes aufgrund von Verfassungsrechtlichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG in Betracht zu ziehen, da die Voraussetzung dafür sei, dass man „nicht nur zweifelt“, sondern auch „von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist“.

Berlin: Klima über alles

Laut dem BGH gebe es in anderen Bundesländern als Berlin weitere Voraussetzungen für einen Duldungsanspruch, beispielsweise, „dass der Überbau die Benutzung oder beabsichtigte Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt oder dass eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise (etwa durch eine Innendämmung) mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen“ werden kann.

Allerdings habe der Berliner Gesetzgeber bewusst auf solche Regelungen verzichtet, „um die Handhabung der Vorschrift möglichst einfach zu gestalten“ und diese auch nicht durch einen möglichen Streit über weitere Voraussetzungen, „insbesondere über unbestimmte Rechtsbegriffe“, zu belasten.

In der Gesamtschau erscheine es dem Senat durchaus möglich, dass § 16a NachbarG BIn noch als verhältnismäßig anzusehen sei, heißt es weiter. Dem Berliner Gesetzgeber gehe es „nicht allein“ um einen Ausgleich zwischen den Individualinteressen zweier Grundstückseigentümer, „sondern vor allem“ um den Klimaschutz.

Zum Wohle der Gemeinschaft

Denn beim Klimaschutz handle es sich um einen „anerkannten Gemeinwohlbelang“. Dazu verweist das Höchstgericht auf das Grundgesetz. In Art. 20a GG heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Davon abgeleitet sei dem BGH nach das Klimaschutzgebot, dem daher Verfassungsrang zukomme.

Daher werde auch die grenzüberschreitende Dämmung höher gewichtet als das vollständige Nutzungsrecht des Nachbarn für sein Grundstück – „weil es sich mit dem Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden deckt“, meint das Gericht.

Mit Zwang und Geld fürs Klima

Dem Berliner Landesgesetzgeber wird bescheinigt, dass dessen generalisierender Ansatz, den Duldungsanspruch klar und einfach zu regeln, noch zulässig sei, „um auf das Ganze gesehen die Durchführung möglichst vieler und rascher Dämmmaßnahmen zu erreichen“ – auch wenn damit für den jeweiligen Nachbarn „im Einzelfall gewisse – unter Umständen auch erhebliche – Härten verbunden sein mögen“.

Dies könne im Einzelfall so weit gehen, dass der Nachbar die grenzüberschreitende Dämmung so weit dulden müsse, „dass der Platz auf dem Nachbargrundstück nicht mehr ausreicht, um Mülltonnen oder Fahrräder abzustellen oder über einen Weg zwischen den Häusern zur Straße zu bringen“. Die Beeinträchtigung der Benutzung des Grundstücks sei dann durch eine Geldrente zu entschädigen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 58, vom 20. August 2022.



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