Die Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990

Vor 33 Jahren überwanden Bürger aus verschiedenen Teilen Ost-Berlins und der DDR ihre Angst und versammelten sich vor der Stasi-Hauptzentrale in Berlin. Sie wollten, dass sich endlich auch der Stasi-Apparat in Berlin auflöst und die Akten nicht heimlich vernichtet werden.
Titelbild
Ein Foto vom Eingang zum Stasi-Akten-Archiv in der Stasi-Hauptzentrale in Berlin.Foto: John MacDougall/AFP via Getty Images
Von 21. Januar 2023

Heute ist der 15. Januar 2023. Genau auf den Tag vor 33 Jahren wurde die Stasi-Hauptzentrale in Berlin-Lichtenberg von DDR-Bürgern besetzt. Auf dem alten Gelände der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) findet daher eine Veranstaltung statt, an der ich teilnehmen will.

Doch als ich den U-Bahnhof direkt in der Nähe dort verlasse, empfängt mich statt dem tristen grau der DDR-Bauten der Stasi ein Meer aus blutroten Fahnen – Banner mit Gesichtern von Stalin, Mao, Lenin, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dazu sind lautstarke Rufe im Chor zu hören: „Nur der Griff der Massen zum Gewehr schafft den Sozialismus her!“ und „Die Revolution wird die Menschheit befreien.“ Ich fühle mich wie in DDR-Zeiten zurückversetzt.

Auch DDR-, FDJ-, Palästinafahnen und die Flagge der Donezk-Region sind zu sehen. Der rote Tross zieht entlang der Frankfurter Allee zum Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde. Dort findet dann die alljährliche Veranstaltung zum Jahrestag der Erschießung der deutschen Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 in Berlin statt.

Unter den Menschen, die hier mit ihren Fahnen und Bannern, mit ihren propagandistisch anmutenden Texten entlang ziehen, sind auch zahlreiche junge Leute.

Bei der Gedenkveranstaltung mit anwesend sind auch Vertreter aus der Politik wie Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, der Co-Vorsitzende Dietmar Bartsch oder Berlins Kultursenator Klaus Lederer, erfahre ich später. Schon merkwürdig, dass beides am 15. Januar stattfand, die Erschießung 1919 und die Besetzung 1990.

Ein roter Tross zieht zum Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde auf seiner alljährlichen Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Erschießung der deutschen Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin am 15. Januar 1919. Foto: Epoch Times / Erik Rusch

Ein dunkler, grauer, in DDR-Bauweise errichteter Komplex

Die Stasi-Zentrale ist ein dunkler, grauer, in typischer DDR-Bauweise errichteter Komplex mit rund 50 Gebäuden und Tausenden Büros. Hier arbeiteten in DDR-Hochzeiten bis zu 7.000 hauptamtliche Stasimitarbeiter. Sie organisierten von hier aus fast vier Jahrzehnte lang die Überwachung und Verfolgung der DDR-Bevölkerung. Jetzt befindet sich hier ein Museum, der Sitz von Opferverbänden und Aufarbeitungsvereinen. Und es lagern noch Stasi-Akten in einem der Gebäude, die man auf Antrag einsehen kann.

Hier, ein paar hundert Meter von der Kundgebung entfernt auf dem Hof der ehemaligen Stasi-Hauptzentrale, ist der Lärm des Aufzugs verklungen. Der typische graue DDR-Putz und die rein funktionalen Ostbauten wirken gewohnt trist und kalt. Im sechsten Stock des Hauptgebäudes angekommen, finde ich die gesuchte Veranstaltung.

Für viele unerwartet gelangten am 15. Januar 1990 Demonstranten auf das abgeriegelte Gelände. Sie wollten das Vernichten von Stasi-Akten verhindern und die Arbeit der Stasi unterbinden.

„Besetzung der Stasi-Zentrale war eigentlich ein Symbol“

Dr. Christian Booß, Vorsitzender des Aufarbeitungsvereins „Bürgerkomitee 15. Januar“ berichtet dort: „Die Besetzung der Stasi-Zentrale war eigentlich ein Symbol dafür, dass die DDR Bevölkerung die Nase voll hatte von dieser Geheimpolizei.“ ‚Jetzt müsse endgültig Schluss sein‘, so sei die Botschaft der Besetzer gewesen.

„Es war eine Demonstration der Berliner, zusammen mit Leuten aus den ostdeutschen Bezirksstädten.“ Für sie sei klar gewesen, dass der Staat gar nicht mehr die Macht hatte, zu verhindern, dass die Bevölkerung in einen Sperrbezirk eindringt und ihm in die Schubladen guckt.

Denn während in anderen Bezirksstädten die Stasi-Zentralen bereits von Bürgerkomitees übernommen worden sind, lief der Betrieb in der Hauptzentrale der „Republik“ weiter, berichtet er. „Als man dies bemerkte, startete man auch hier eine Besetzung.“

Er macht aber auch klar, dass man damals nicht in die sensiblen Bereiche wie dem Stasi-Archiv und der Abteilung Auslandsaufklärung gelangt ist. „Diese Bereiche wurden weiter gesichert.“

Wenig bekannt dürfte sein, dass nach Aussagen von Booß bereits wenige Stunden vor der Demonstration am 15. Januar durch Vermittlung zwischen Bürgerkomitees und der DDR-Regierung, den Polizisten, die das Gelände bewachten, Bürgerkommitee-Mitglieder an die Seite gestellt wurden. Das heißt, im Grunde genommen war – zumindest das Stasi-Außengelände – schon unter oppositioneller Kontrolle. Nur wussten viele der Demonstranten das damals nicht.

Booß vermutet dahinter den Wunsch der Regierung, den Protest zu kanalisieren, denn natürlich wusste die Stasi von der geplanten Demonstration.

Damals habe die Welt laut Booß gesehen: Die DDR ist zu Ende, der DDR-Geheimdienst ist zu Ende. Und die Bevölkerung habe sich im Zuge der friedlichen Revolution voll durchgesetzt. „Das war ein Bild, das ging um die Welt“, so der Buchautor rückblickend.

„Stasi hat versucht, weiter Akten zu vernichten“

Zum genauen Ablauf des 15. Januar, zu dem, was im Vorfeld geschehen ist, gibt es unterschiedliche Erinnerungen, so manches ist unklar. Was die Besetzung für den Demokratisierungsprozess bedeutet, wird kontrovers gesehen, das wird auf der Veranstaltung durch die Redebeiträge von Zeitzeugen deutlich.

Für Booß hat die Besetzung „eindeutig“ einen positiven Beitrag dabei geleistet, die Vernichtung der Stasi-Akten aufzuhalten. „Die Stasi hat natürlich nach wie vor versucht, mit allen möglichen Tricks Akten zu vernichten – auch nach dem 15. Januar.“ Allein in Berlin waren damals rund 150 Stasi-Gebäude bekannt.

„Die Stasi hat natürlich nach wie vor versucht, mit allen möglichen Tricks Stasi-Akten zu vernichten – auch nach dem 15. Januar“, so Dr. Christian Booß. Foto: Epoch Times / Erik Rusch

Der Hauptkomplex in der Ruschestraße sei schwer zu kontrollieren gewesen, so Booß weiter. „Die Bürger haben Komitees gebildet, aber das war so ein bisschen wie Hase und Igel.“

Klar ist, dass das jetzige Stasi-Archiv das größte offen zugängliche Geheimpolizei-Archiv der Welt und eines kommunistischen Regimes ist. „Das haben wir den Bürgerinitiativen seit Dezember 1989 zu verdanken – da ging es ja los –, aber eben auch den Demonstranten vom 15. Januar.“

„Was sind die Mechanismen, die eine Diktatur am Leben halten?“

Welche Bedeutung hat das Stasi-Archiv und dieser museale Komplex für die heutige Zeit? Booß ist es wichtig, dass auch Bereiche des DDR-Geheimdienstes und der DDR-Geschichte erhellt und lebendig gehalten werden, für die sich „professionelle institutionelle Historiker“ nicht so sehr interessieren.

Allerdings seien Akten in relevanten Bereichen verschwunden, gerade bei der Auslandsspionage. „Die haben es ja mit List und Tücke geschafft, sich selber aufzulösen und dabei einen großen Teil ihrer Akten verschwinden zu lassen.“ Die Stasi habe auch noch 1990 versucht, ihre Spitzel und Informanten verschwinden zu lassen. „Ich denke zum Beispiel an Auftragsmorde oder ähnliche Sachen im Westen.“

Über die Akten wurde herausgefunden, wie der DDR-Geheimdienst funktionierte. „Mit welchen Methoden hat er gearbeitet? Was sind die repressiven Mechanismen, die eine Diktatur am Leben halten?“ Die DDR habe ja immerhin 40 Jahre existiert – „eine lange Zeit für eine Diktatur“, so Booß, „dazu geben die Akten auch heute noch sehr viel Auskunft“.

„Heute ist es sehr wichtig, mit der jüngeren Generation ins Gespräch zu kommen, um zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. Denn dieses Engagement hätte ja damals die friedliche Revolution und letzten Endes den Sturz der Diktatur hervorgebracht“, so der Journalist und Buchautor. Demokratie lebe heute ebenfalls vom Engagement seiner Bürger. „Das ist ein Impetus, den wir auch gerne weitertragen wollen.“

Enttarnte Stasi-Spitzel in der Opposition

DDR-Historiker Dr. Stefan Wolle, ein Teilnehmer der Besetzung am 15. Januar, weist im Gespräch mit Epoch Times auf einen anderen Aspekt hin.

„Was damals viele aus den Bürgerkomitees schockte, waren die enttarnten Stasi-Spitzel [Inoffizielle Mitarbeiter, IM] in der Opposition, also auch in den Bürgerkomitees.“ Es seien eben zum Teil sehr exponierte Personen gewesen, so der Historiker. Die Enttarnung und das Überprüfen dieser Menschen sei damals nicht sein Hauptanliegen gewesen. Aber es habe letztlich kein Weg dran vorbeigeführt. „Unser Kernproblem war ja, die Strukturen zu enthüllen.“

Nachdem ich in den Ausstellungsräumen des Stasi-Archivs war, gehe ich auf den Hof. Ein kühler Wind weht hier. Dort, an großen festinstallierten Bilderwänden mit zeitgeschichtlichen Dokumenten und Fotos treffe ich einen weiteren Teilnehmer der Besetzung der Stasi-Hauptzentrale am 15. Januar 1990.

„Das Ganze war ein bisschen undurchsichtig“

Es ist Dieter Ziebarth (82), ein Pfarrer im Ruhestand. Er war damals Gemeindepfarrer in der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow. Ziebarth ist damals dem Aufruf des „Neuen Forums“ zur Auflösung der Staatssicherheit gefolgt und zur Demonstration gegangen.

„Das Ganze war ein bisschen undurchsichtig für uns. Es gab keine Informationen, die nach draußen drangen.“ Nur ein Flugblatt habe auf die geplante Demonstration hingewiesen, berichtet er. „Wir hatten den Eindruck, es wird hier in der Stasi-Zentrale weitergearbeitet und auch Unterlagen vernichtet, die nach unserer Meinung denjenigen gehören sollten, über die sie geführt worden sind.“

Für ihn war es nur logisch, sich der Demonstration anzuschließen. Denn in den Kirchenräumen hörte er Gedächtnisprotokolle von Bürgern, die durch die Stasi verhaftet oder ihr zugeführt wurden. Auch machte er eigene Erfahrungen mit der Stasi und hatte bereits zuvor Stasi-Opfer kennengelernt und beraten.

„Als ich damals hier ankam, waren etwa 300 bis 500 Menschen außerhalb des Stasi-Geländes auf der anderen Straßenseite versammelt.“ Anfangs habe noch jeder einen Sicherheitsabstand zu dem Stasi-Gelände und den Sicherheitskräften gehalten.

„Eine Mischung aus Angst und Wut“

Er spürte damals eine Mischung aus Angst und Wut. „Viele Leute, die gekommen waren, haben selber negative Erfahrungen mit der Stasi gemacht“, berichtet der pensionierte Pfarrer. Die Stasi habe immer davon gelebt, „dass sie Angst erzeugt“.

„Diese Angst steckte somit schon in jedem von uns drinnen.“ Diese Angst sei dann zunehmend verschwunden und die Wut gewachsen. „Ich denke, dass zehn Jahre zuvor kein Mensch zur Stasi-Zentrale gegangen wäre, um zu demonstrieren. Das hätte keiner gewagt. Also dieser Umschwung von Angst in Wut und von Wut in Mut und damit verbunden ein riesiges Gefühl der Solidarität, das war erstaunlich!“

„Es war eine gute Stimmung, nicht aufgeheizt, nicht aufgeregt“, berichtet Ziebarth. Es sei ein gemeinsamer, entschlossener Wunsch da gewesen: „Wir sind da und wir sind Zeuge. Wir lassen euch nicht mehr aus den Augen, so wie ihr uns die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen habt!“

Später berichtet er mir noch von seinen eigenen Erfahrungen mit der Stasi. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Kälte erfasst nun zunehmend auch meinen Körper. Ich freue mich jetzt, mit den vielen Eindrücken in einer warmen U-Bahn heimwärts fahren zu können und diesen grauen Ort wieder zu verlassen, einem Mahnmal für ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte.



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