In Kürze:
- Das Hamburger Start-up 1KOMMA5° wehrt sich bei der EU-Kommission gegen die Gaskraftwerkspläne von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche.
- 1KOMMA5° hält Subventionen für wettbewerbsverzerrende Kostentreiber.
- Ursprünglich anvisierte Gaskraftwerkskapazität von 20 Gigawatt Medienberichten zufolge bei der EU-Kommission kaum durchsetzbar
Werden die Gaskraftwerksbaupläne von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) am Widerstand der EU-Kommission oder sogar am Gegenwind eines privaten deutschen Unternehmens scheitern?
Der Hamburger Energielösungsanbieter 1KOMMA5° hat am 21. Oktober 2025 bekannt gegeben, eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht zu haben. Seiner Ansicht nach dürfe die Kommission im obligatorischen Vorab-Beihilfeverfahren keine Genehmigung für die Subventionen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWE) erteilen, die für die Kraftwerkspläne Reiches nötig wären.
Die Ministerin hatte seit ihrem Amtsantritt immer wieder betont, bis 2030 eine zusätzliche, grundlastfähige Gaskraftwerkskapazität von 20 Gigawatt (GW) aufbauen zu wollen, um Deutschland auch bei Dunkelflauten sicher mit Strom versorgen zu können. Das Vorhaben ist Teil des Koalitionsvertrags. (Seite 33,
PDF) Dazu braucht die Bundesregierung die Genehmigung aus Brüssel.
Nach Einschätzung der
Bundesnetzagentur ist Eile geboten. Wenn Deutschland alle seine energiewirtschaftlichen und -politischen Ziele bis 2035 erreichen wolle, seien 75 zusätzliche Reservekraftwerke mit bis zu 22,4 GW elektrischer Leistung nötig. Bei einer „verzögerten Energiewende“ brauche man sogar 35,5 GW und 118 Kraftwerke.
Start-up: Pläne „wettbewerbsverzerrend“ und zu teuer
„Die Pläne zum Ausbau fossiler Gaskraftwerke in Höhe von mindestens 20 GW bis 2030 sind wettbewerbsverzerrend und treiben die Kosten für die Energiewende unnötig in die Höhe“, argumentiert nun 1KOMMA5° in seiner
Pressemitteilung. Die EU-Richtlinien ließen Subventionen aber nur dann zu, wenn sowohl keine Wettbewerbsverzerrungen entstünden als auch die dazugehörigen Pläne „technologieoffen, notwendig und angemessen“ seien. Diese Bedingungen seien bei Reiches Vorhaben nicht gegeben.
Auf Grundlage der gleichen Überzeugungen hatten sich die Energiespezialisten unter anderem von Lichtblick, Thermondo, Bosch und die Immobilienfirma Vonovia zusammen mit 1KOMMA5° in der Initiative
„New Energy Alliance“ zusammengeschlossen, wie das Wirtschaftsblatt
„Capital“ berichtet. Sie beriefen sich alle auf eine bei Roland Berger in Auftrag gegebene Studie (
PDF), nach der deutschlandweit bis 2045 Einsparungen von 185 bis 255 Milliarden Euro durch „dezentrale Lösungen“ realisiert werden könnten.
Bedarf über „virtuelle Kraftwerke“ in Privathand zu bedienen?
Philipp Schröder, vormals
Deutschlandboss von Tesla, heute CEO und Mitbegründer von 1KOMMA5°, empfahl als Alternative zur Gaskraftwerkstrategie Reiches „gebündelte dezentrale Systeme in Form virtueller Kraftwerke“.
Diese sehe er in Form von etwa „privaten Batterien und E-Autos“. Ähnlich wie grundlastfähige Kraftwerke könnten auch diese Stromspeicher Leistung genau dann bereitstellen, „wenn Sonne und Wind nicht ausreichen“. Nötig sei dafür lediglich „das gezielte und koordinierte Verschieben von Verbrauch“ mithilfe entsprechend programmierbarer Smart Meter.
Die Summe der privat installierten Batteriekapazität in Deutschland liege schon heute bei 20 Gigawatt, hatte Schröder bereits im September in einem Interview mit
„n-tv“ zu bedenken gegeben. „Die Heimspeicher sind bezahlt“, so Schröder damals, „sie dürfen allerdings nicht am Energiemarkt teilnehmen, wie es notwendig wäre.“
Wettbewerb statt Subventionen
Schröder erhofft sich mit seiner Beschwerde bei der EU offenbar höhere Absatzchancen für seine eigenen Energiemanagementangebote, die primär auf der intelligenten Vernetzung und Vermarktung von Photovoltaikanlagen, Stromspeichern, Wärmepumpen oder Wallboxen für E-Fahrzeuge beruhen.
Sein Credo: „Es muss einen technologisch offenen Wettbewerb zwischen zentralen und dezentralen Kraftwerken geben, bei denen Erzeuger und Flexibilität grundsätzlich gleichbehandelt beziehungsweise gefördert werden. Das Ziel muss sein, durch mehr Wettbewerb die besten Lösungen für den günstigsten Strom und das sicherste Stromsystem zu gewährleisten.“
Das Modell Reiches sehe dagegen öffentliche Hilfsgelder nicht nur für den Bau, sondern auch für den kostendeckenden Betrieb von Reservegaskraftwerken vor. Wenn deren Einnahmen mangels akuten Strombedarfs ausfielen, wolle Reiche einen finanziellen Ausgleich über einen „zentralen Kapazitätsmarkt“ gewähren – allein für das Vorhalten des Angebots. Diese Art Doppelsubvention würde „kostengünstigere Alternativen systematisch benachteiligen und unverhältnismäßig diskriminieren“ sowie die Strompreise steigen lassen, heißt es in der 1KOMMA5°-Pressemitteilung.
Einen weiteren Lösungsansatz zur Versorgungssicherheit, der laut 1KOMMA5° keinerlei beihilferechtliche Genehmigung durch die EU erfordern würde, sieht Schröders Start-up in der Einführung einer „Absicherungspflicht“. Die „Akteure am Energiemarkt“ müssten dazu einfach „eine bestimmte Verfügbarkeit“ für ihre Leistung garantieren.
1KOMMA5° wies darauf hin, dass es selbst bis zum Jahr 2030 „insgesamt 20 GW an Leistung steuern“ wolle, um „damit eine Leistung in Höhe der neu geplanten Gaskraftwerke bündeln“ zu können. Schon jetzt aggregiere man „mehr als 600 Megawatt an Flexibilitätskapazitäten“.
Nach Informationen von „Capital“ hat die Beschwerde des Hamburger Unternehmens keine direkte Wirkung auf das EU-Beihilfeverfahren. Sie gewähre den Kritikern aber Einblick in die dazugehörigen EU-Unterlagen, was ein potenzielles Klageverfahren erleichtern würde.
„Spiegel“: Ursprungsmarke von 20 GW anscheinend aufgegeben
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) scheint selbst unabhängig von der 1KOMMA5°-Beschwerde nicht gewillt, Reiches Genehmigungswünschen für Gaskraftwerke vollumfänglich zu entsprechen. Das lässt sich jedenfalls aus Informationen des „Spiegel“ (
Bezahlschranke) schließen. Demnach soll der zuständige BMWE-Abteilungsleiter Christian Schmidt schon Anfang Oktober gegenüber Energieunternehmensvertretern vertraulich eingeräumt haben, dass sein Ministerium mit der EU-Kommission nur noch über Kapazitäten in Höhe von 12 bis 12,5 Gigawatt verhandele. Bliebe es dabei, hätte Reiches Ressort wohl kein Gigawatt mehr herausgeschlagen als der vormalige Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Laut „Spiegel“ wird es Reiche auch nicht gelingen, die ersten Gaskraftwerksausschreibungen wie geplant noch 2025 auf den Weg zu bringen. Damit sei ehestens im Frühling 2026 zu rechnen, vermutet das Nachrichtenmagazin unter Berufung auf einen „Brancheninsider“.
Denkbar sei nach dessen Einschätzung allerdings, dass die EU-Kommission davon abrücken werde, vor Abschluss des Genehmigungsverfahrens eine exakte Jahresangabe zu verlangen, zu der die Umstellung neu zu errichtender Erdgaskraftwerke auf Wasserstoff erfolgt sein wird.
Russisches Gas weiter tabu – demnächst auch auf EU-Ebene
Wirtschaftsministerin Reiche hatte erst vor wenigen Tagen
beschlossen, die im Herbst 2022 teilweise zerstörte Gaspipeline Nord Stream 2 keinesfalls in Betrieb zu nehmen, auch wenn sie die Wiederaufnahme des ruhenden Zertifizierungsverfahrens nicht ausschließen wollte. Im Gegenteil wolle die Bundesregierung das „derzeit bis Ende 2027 vorgesehene Ausstiegsdatum auf europäischer Ebene für russisches Pipeline- und Flüssigerdgas“ noch weiter beschleunigen.
Am 20. Oktober stimmten die
EU-Energieminister tatsächlich für ein Gesetz, das einen schrittweisen Ausstieg sämtlicher russischer Gaslieferungen an EU-Staaten bis zum Ende des Jahres 2027 beabsichtigt. Nun muss noch das EU-Parlament zustimmen.
Trotz der hohen Energiepreise, der schwierigen Versorgungslage und drohender Abhängigkeiten von anderen Lieferanten will das BMWE auch unter CDU-Führung an der „Energiewende“ und der Transformation Deutschlands zum reinen „Erneuerbare Energien“-Land festhalten. Das Ziel lautet: „Klimaneutral werden – wettbewerbsfähig bleiben“, wie es nach wie vor auf der
Website des Ministeriums heißt.