Habeck will Grüne noch radikaler machen – Kretschmann und Palmer stellen sich quer

Von Spannungen bei den Grünen, die von den meisten Journalisten ignoriert würden, schreibt Publizist Gabor Steingart in einer Kurzanalyse. Die Bundesspitze baue auf einen noch radikaleren Linkskurs, der erfolgreiche Verband in Baden-Württemberg fordere Pragmatismus.
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"Wir Grüne müssen radikaler werden, um realistisch zu sein", erklärt Robert Habeck, Grüne.Foto: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa/dpa
Von 27. August 2020

Publizist Gabor Steingart wirft in seinem jüngsten Beitrag für den „Focus“ deutschen Journalisten vor, in ihrer Bewunderung für die Grünen so kritiklos geworden zu sein, dass sie nicht einmal mehr in der Lage seien, unwillkommene Entwicklungen innerhalb der Partei zu erkennen.

Dabei seien die Grünen innerparteilich längst nicht so geschlossen wie es der Mainstream vermitteln würde – und mit Praktikern wie Winfried Kretschmann und Boris Palmer seien dem Führungsduo aus Robert Habeck und Annalena Baerbock bedeutende Gegenspieler in den eigenen Reihen erwachsen.

Kretschmann könnte zwischen Grün-Schwarz und Ampel wählen

Der langjährige „Handelsblatt“-Chef spricht von einem „Gravitationszentrum eigener Art“, das sich im Süden der Republik gebildet habe:

Die Autorität der Berliner Doppelspitze wird nicht öffentlich bestritten, nur praktisch herausgefordert. Die vorsätzliche Reibung bleibt auch dann eine Tatsache, wenn alle Beteiligten versuchen, ihr das Schroffe der alten Fundi-Realo-Fehde zu nehmen.“

Kretschmann hat im kommenden Jahr seinen Posten als Ministerpräsident der ersten grün-schwarzen Koalition auf überregionaler Ebene zu verteidigen und seine Chancen stehen gut. Seine guten persönlichen Umfragewerte sind mit ausschlaggebend dafür, dass auch seine Partei derzeit INSA zufolge mit etwa 34 Prozent stabile vier Punkte vor dem Koalitionspartner liegt.

Die von Flügelkämpfen erschütterte AfD im Südwesten wäre drittstärkste Kraft – aber nur mit 12 Prozent. Noch magerer die Ergebnisse für SPD (11 Prozent) und FDP (6 Prozent). Die Linke liegt deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde. Kretschmann könnte bei Bedarf also auch mit der „Ampel“ regieren.

Grüne Führung gegen Palmers neuerliche Kandidatur

Palmer will 2022 wieder für den Posten des Oberbürgermeisters kandidieren. Anders als Kretschmann kann er dabei nach derzeitigem Stand nicht auf die Unterstützung der Parteiführung zählen. Ihn aus der Partei zu verdrängen wird jedoch ebenso wenig möglich sein. Allerdings ist – was möglicherweise auch Steingart unterschätzt – Palmer anders als Kretschmann bei den Grünen Vertreter einer Außenseiterposition. Die Hausmacht, die Kretschmann hinter sich weiß, und die Autorität des erfolgreichen Landesvaters hat der Tübinger OB nicht.

Beide Politiker haben erst in jüngster Zeit in Büchern ihre strategischen Vorstellungen erläutert. Kretschmanns „Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen“ und „Wir können nicht allen helfen“ von Palmer lassen deutlich erkennen, dass diese in mehreren Bereichen sehr deutlich von jenen Habecks und Baerbocks abweichen.

Dies beginnt bereits bei der Zielgruppenpolitik: Kretschmann und Palmer, die seit Jahr und Tag darin geübt sind, Mehrheiten zu organisieren, setzen vor allem auf Pragmatismus und Rückhalt im Bürgertum. Baerbock hingegen redet von einem „Führungsanspruch“, obwohl die Grünen bundesweit seit Beginn der Corona-Krise ein Drittel ihres Zuspruchs verloren haben und mit 16 Prozent bereits wieder hinter der SPD liegen.

Habeck will „Radikal:Klima“ keine Flanke öffnen

Auch strategisch will Habeck im Zweifel lieber auf die Revolution von oben setzen und mithilfe der Definitionsmacht der Medien das Overton-Fenster noch weiter nach links verschieben. Sein Bekenntnis lautet:

Wir Grüne müssen radikaler werden, um realistisch zu sein.“

Diese Ansage ist vor allem auf die „Klimaschutz“-Bewegungen von „Fridays for Future“ über „Extinction Rebellion“ bis hin zu „Ende Gelände“ gemünzt, denen die Politik der Grünen nicht weit genug geht. Bereits bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen in Berlin droht Habecks Partei unwillkommene Konkurrenz: Anfang August wurde offiziell mit „Radikal: Klima“ eine neue Formation gegründet, die im Kampf gegen den „Klimanotstand“ den etablierten Ökosozialisten wichtige Stimmen wegnehmen könnte.

Auch in anderen Bereichen zeigen sich enorme Differenzen zwischen ideologischem Dogmatismus für eine selbsternannte Avantgarde und breitenwirksamem Realismus. Kretschmann will eine Politik, die „den Dingen keine vorgefertigten Wahrheiten überstülpt“, sondern „die Wahrheit in den Tatsachen sucht“.

Kretschmann gegen „überspanntes Sprachgehabe“

Migration wird dort nicht einseitig als Innovationsquelle und Triebfeder für Entwicklung gesehen, sondern auch dort, wo etwa, wie Palmer erklärt, „Asylbewerber eine Risikogruppe sind“.

Während Baerbock „unser Schicksal Europa“ vor dem „Rückfall in den Nationalismus“ retten will, freut sich Kretschmann über ein „neues, weltoffenes und tolerantes Nationalgefühl“.

Kretschmann verweigert sich zudem „überspanntem Sprachgehabe“ und will, statt „geschlechtergerecht“ zu formulieren lieber „noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.“

Zudem will Kretschmann, der bislang als einziger Grünen-Politiker eine Regierung unter grüner Führung leitet, nicht wie Baerbock den Eindruck erwecken, als würde dieser Zustand auch auf Bundesebene demnächst zur Normalität werden: „Das sehe ich derzeit nicht. Ich finde, wir sollten auch aufhören, davon zu träumen. Die Zahlen sind einfach nicht da.“



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