Ist Berlin doch Weimar? – Die Wahlsysteme unter die Lupe genommen

Verhältniswahlrecht contra relatives Mehrheitswahlrecht – oder umgekehrt. Was ist der prinzipielle Unterschied dieser beiden Wahlsysteme? Gastautor Florian Josef Hoffmann klärt auf.
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Die Qual der Wahl. Die Zersplitterung hat eine neue Stufe erreicht. Ein Nachdenken über eine Wahlrechtsreform ist erforderlich, bevor es zu spät ist.Foto: iStock

Ist Berlin doch Weimar? Hoffentlich nicht! Dennoch ist die Frage berechtigt. Denn, dass unsere politische Nachkriegsstabilität mehr und mehr schwindet, ja verloren gegangen ist, mag angesichts fortwährender Regierungs- und Koalitionskrisen niemand leugnen. Grundsätzliche Überlegungen sind deshalb angezeigt.

Anlehnen möchte ich mich an die Gedanken eines Buches, dem auch der Titel dieses Aufsatzes entliehen ist, der im Original lautet: „Ist Bonn doch Weimar?“, im Jahr 1968 geschrieben vom damaligen Bundesinnenminister Paul Lücke (1914-1976), mit dem Unterti­tel „Der Kampf um das Mehrheitswahlrecht“.

Sein Kampf um das Mehrheitswahlrecht war zugleich ein Kampf gegen das – auch heute noch geltende – Verhältniswahlrecht. Die beiden großen Parteien CDU und SPD waren sich damals, wenige Jahre nach dem Ende der Ära Adenauer, einig, dass das Wahlrecht geändert werden müsse. Die Motivation der Befürworter ergibt sich aus zwei Zitaten aus dem Vorwort des Buches.

Derlei Gedanken wurden von Leuten geäußert, die die NS-Zeit und den Zusammenbruch 1945 noch hautnah erlebt hatten. Das erste Zitat stammt vom damaligen Leiter des Bonner Studios des ZDF, Rudolf Woller, der bekannt:

„Ich bin ein Anhänger der relativen Mehrheitswahlrechts. Nicht weil ich glaubte große Parteien seien besser oder klüger als kleinere. Aber ich habe die Geschichte der Weimarer Republik sehr aufmerksam studiert. Wer erinnert sich denn heute noch daran, dass in jenem Reichstag bis zu 18 Parteien saßen – nach Listen gewählt -, die diese erste deutsche Demokratie einfach zerredeten? Nicht aus bösem Willen – wenigstens die meisten nicht. Aber keine Partei konnte allein regieren. Zufalls Koalitionen mit oft nur sehr kurzsichtigen Programmen lebten manchmal nur Wochen oder Monate. Im Kompromiss über ein Regierungsprogramm einer solchen Mehrparteienregierung fand kaum einer der Wähler dieser Gruppen noch die Politik vertreten, für die er seine Stimme abgegeben hatte. Handlungsunfähige Regierungen mussten tatenlos zusehen, wie der Staat und die Freiheit zwischen den gewalttätigen Nazis und den Kommunisten zerrieben wurde“.

Das Zitat aus dem Jahr 1968 trifft die aktuelle Situation nicht ganz, weil die Väter des Grundgesetzes für die Parteien die 5-Prozentklausel als Hürde für den Zugang zum Parlament eingebaut haben – weil sie genau diesen desaströsen Zustand vor Augen hatten.

Außerdem gibt es heute keine gewalttätigen Nazis mehr, die die Straßen bevölkern, sondern nur eine gewalttätige Linke, die kommunistische Antifa, wie es die Gewaltattacken beim G20-Gipfel in Hamburg und anderswo belegen.

Als zweite Stimme kommt bei Lücke der seinerzeitige NRW-Innenminister Josef Hermann Dufhues (CDU) zu Wort, ebenfalls Verfechter eines mehrheitsbildenden Wahlrechts:

„Die Geschichte der kontinental-europäischen Demokratien sollte uns mahnen: Es ist die Geschichte labiler Parlamente und instabiler Regierungen ohne klare Legitimation zur Führung. Sie steht in einem inneren Zusammenhang zudem auf dem Kontinent überwiegenden geltenden Verhältniswahlrecht. Die europäischen Staaten stehen vor schweren Entscheidungen. Sie werden sich nur behaupten, wenn sie in ihren Parlamenten und Regierungen über klare regierungsfähige Mehrheit verfügen. Dazu gehört nicht nur eine überzeugende Politik, sondern auch ein Wahlrecht das die Bildung solcher Mehrheiten fördert.“

Dufues musste damals noch auf die Instabilität der Nachbarländer hinweisen, heute sind fast fünfzig Jahre vergangen und die absolute Notwendigkeit für eine Änderung des Wahl­rechts deutet sich für uns an, weil die Koalitionsvarianten immer bun­ter werden und das Parteiensystem allmählich alle Farben des Regenbogens aufweist – auch wenn die 5-Prozenthürde das Schlimmste verhindert. Zu den Farben der Ampeln, grün-gelb-rot, haben sich die Flaggenfarben von Ja­maika, Senegal, Kenja, Kongo und andere gesellt.

Verhältniswahlrecht contra relatives Mehrheitswahlrecht – oder umgekehrt. Was ist der prinzipielle Unterschied dieser beiden Wahlsysteme? Der Vergleich mit einem großen Sportverein macht es deutlich.

Ein solcher Sportverein betreibt die unterschiedlichsten Sportarten, Leichtathletik, Boxen, Fußball, Handball, Schwimmen, Radfahren, etc. In der Jahreshauptversammlung soll der Vorstand neu gewählt werden. Laut Wahlordnung sollen die Sportabteilungen nach Anzahl der Mitglieder im Vorstand vertreten sein. Jede Abteilung wählt ihre Kandidaten. Der Vorstand spiegelt die Sportarten im Verhältnis ihrer Mitgliederzahl wider. Danach werden Mehrheiten für Sachentscheidungen gesucht, also Koalitionen gebildet, weil einzelne Abteilungen keine Mehrheit bilden können. Wer dann aus Gründen der Opportunität zum Mitglied der regierenden Koalition wird, gewinnt.

Das ist das Verhältniswahlrecht. Die Zusammensetzung spiegelt das gesamte Meinungsspektrum wider. Am Ende bestimmen z. B. die wenigen Schwimmer über die vielen Fußballer mit – letztlich auch gegen deren Willen -, weil sie den Fußballern zur Macht verhelfen.

Oder übertragen auf unser politisches System: Wäre es im Herbst 2017 auf Bundesebene zur Jamaika-Koalition gekommen, wären die maßgeblichen politischen Impulse von den Grünen und der FDP gekommen, weil sie für die CDU/CSU-Fraktion die Steigbügelhalter zur Macht gewesen wären.

Beim relativen Mehrheitswahlrecht stellen die Abteilungen ebenfalls ihre Kandidaten auf. In den Vorstand werden die gewählt, die in der Vollversammlung im Verhältnis zu den anderen die meisten Stimmen bekommen. Das heißt, die mehrheitlich Gewählten besetzen den Vorstand, was auch bedeutet: Die Mehrheitsmeinung regiert, hinter dem Vorstand steht die Mehrheit des Vereins.

Die Minderheiten werden in der Vollversammlung zur Opposition oder gar nicht gewählt. Die Mehrheit regiert, also auch die größten Sportarten bzw. ihre Repräsentanten. Der Minderheitenschutz ist in der Satzung geregelt und beschränkt sich auf Ausübungsrechte.

Übertragen auf die Politik bedeutet es, dass ganz kleine Mindermeinungen, also Radikale, nicht einmal in der Lage sind Kandidaten durchzubrinegn, während sie beim Verhältniswahlrecht sogar mitentscheiden, sobald sie die 5%-Klausel überwunden haben und mitregieren – natürlich nur wenn sie für die Bildung einer Koalition gebraucht werden.

Genau so hätten beinahe die Grünen im Bund wieder mitregiert, obwohl sie keinerlei Mehrheitsmeinung vertreten, und genau so ist seinerzeit die NPD in den Sächsischen Landtag gekommen.

Letztlich erlaubt nur das relative Mehrheitswahlrecht das Regieren nach dem Willen der Mehrheit und damit mit einem stabilen Hintergrund. Dass das Verhältniswahlrecht als Listenwahlrecht Parteisoldaten bevorzugt und Quereinstiege politisch interessierter Bürger verhindert, während das relative Mehrheitswahlrecht dazu führt, dass die Leute ins Parlament und in die Regierung kommen, die auch tatsächlich vom Wähler, also vom Volk und nicht vorrangig von den Parteien ausgewählt wurden.

Nach 1949 wurde in Deutschland alle vier Jahre, insgesamt neunzehn mal, ein neuer Bundestag gewählt. CDU und SPD waren stets die größten Parteien. Seit den letzten Landtagswahlen und den Erfolgen von Grünen und Blauen ist diese Selbstverständlichkeit per-du.

Die Zersplitterung hat eine neue Stufe erreicht. Ein Nachdenken über eine Wahlrechtsreform ist erforderlich, bevor es zu spät ist.

Und noch zur Praktikabilität der Umsetzung: Die Art des Wahlrechts ist nicht im Grundgesetz verankert, sondern im Wahlgesetz. Es lässt sich also mit einfacher Mehrheit ändern. Da die meisten Abgeordneten mit der nächsten Wahl ihr Bundestagsmandat verlierten, bekäme eine sofortige Umsetzung eines neuen Wahlsystems niemals eine Mehrheit.

Dieser Widerstand könnte behoben werden, indem man den Beginn der Wirksamkeit des neuen Wahlsystems auf die über­nächste Wahl verschiebt, also auf einen Zeitpunkt, an dem die Versorgung der jetzigen Abgeordneten abgesichert wäre. Anders würde es wohl nicht gehen.

 

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