Karlsruhe überprüft Hartz-IV-Sanktionen

Wer von Hartz IV lebt, lebt permanent auf Kante. Unkooperatives Verhalten bestrafen die Jobcenter, indem sie den Geldhahn zudrehen. Aber darf das der Staat: Menschen die Existenzgrundlage entziehen?
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Ein Schild weist den Weg zur Agentur für Arbeit.Foto: Jan Woitas/Illustration/dpa
Epoch Times15. Januar 2019

Erst muss er mit 117,30 Euro weniger auskommen, dann mit 234,60 Euro weniger: Das Jobcenter Erfurt kürzt einem Mann 2014 gleich zwei Mal die monatliche Grundsicherung, weil er bei der Arbeitssuche nicht kooperiert, wie er soll.

Nur einer von vielen Tausenden Hartz-IV-Empfängern, die Jahr für Jahr die unschöne Seite des Prinzips „Fördern und Fordern“ zu spüren bekommen – buchstäblich am eigenen Leib. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hinterfragt das System an diesem Dienstag grundsätzlich. (Az. 1 BvL 7/16)

Worum geht es?

Seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) weht für die Bezieher ein rauerer Wind. Jede Arbeit ist zumutbar, heißt seit 2005 der Grundsatz. Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, sich aktiv darum zu bemühen, dass das so bald wie möglich nicht mehr notwendig ist. Diejenigen, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, straft das Zweite Sozialgesetzbuch mit Leistungskürzungen.

Wie sehen diese Hartz-IV-Sanktionen aus?

Betroffene bekommen drei Monate lang weniger Geld. Wie viel gestrichen wird, hängt von der Schwere der Verfehlung ab. Wer ohne triftigen Grund einen Termin beim Jobcenter versäumt, büßt zehn Prozent des sogenannten Regelsatzes von aktuell 424 Euro für alleinlebende Erwachsene ein. Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel – beim zweiten Mal binnen eines Jahres 60 Prozent und beim dritten Mal das komplette Arbeitslosengeld II, samt Heiz- und Wohnkosten. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird besonders hart durchgegriffen. Weitreichende Sanktionen können die Jobcenter mit Gutscheinen für Sachleistungen wie Lebensmittel abmildern. Sind Kinder betroffen, müssen sie das.

Wie viele Menschen trifft das?

Im Moment verhängen die Jobcenter grob gerundet knapp eine Million Sanktionen im Jahr, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Weil gegen dieselbe Person mehrmals Sanktionen verhängt werden können, ist die Zahl der Betroffenen niedriger. Nach den neuesten Zahlen von 2017 waren im Jahresdurchschnitt rund 136 800 Erwerbsfähige mit mindestens einer Sanktion belegt, das entspricht einer Sanktionsquote von 3,1 Prozent. Über den gesamten Jahresverlauf betrachtet wurden etwa 34 000 Beziehern die Leistungen komplett gestrichen.

Warum werden jetzt die Verfassungsrichter aktiv?

Wegen einer Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Dort hat der Mann geklagt, dem in Erfurt 2014 zweimal die Leistungen gekürzt wurden. Erst, weil er eine Stelle als Lagerarbeiter ablehnte und lieber im Verkauf arbeiten wollte. Dann wollte ihn das Jobcenter im Verkauf testen, aber er ließ den Gutschein fürs Probearbeiten verfallen. Die Thüringer Richter halten die Sanktionen für verfassungswidrig. Sie meinen: Wenn Hartz IV das Existenzminimum sichert, gibt es keinen Spielraum für Kürzungen. Der Staat lasse die Betroffenen in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosigkeit abgleiten.

Lässt sich schon etwas zum Ausgang sagen?

Wegen eines Verfassungsgericht-Urteils von 2010 musste die Politik schon einmal bei Hartz IV nachbessern, damals bei den Regelsätzen. Das Grundgesetz sichere „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“, urteilten die Richter. Wie das konkret umgesetzt wird, liegt demnach aber beim Gesetzgeber – Karlsruhe kontrolliert nur, ob Leistungen „evident unzureichend“ sind. Ihre wichtigsten Fragen zu den Sanktionen haben die Richter vorab veröffentlicht. Sie wollen zum Beispiel nachhaken, wie Härten abgefangen werden und ob die Kürzungen überhaupt etwas bringen.

Wie geht es nach der Verhandlung weiter?

Der Erste Senat unter dem neuen Vizegerichtspräsidenten Stephan Harbarth berät im Geheimen. Das Urteil dürfte in einigen Monaten verkündet werden. Gibt es Beanstandungen, müsste das System zumindest in diesen Punkten reformiert werden. So oder so wird in Berlin derzeit heftig über Änderungen diskutiert. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will beispielsweise die scharfen Sanktionen für Unter-25-Jährige und die Kürzungen bei den Wohnkosten abschaffen. (dpa)



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