„Kein Herankommen“: Bielefelds Jobcenter-Chef spricht über Probleme mit jesidischen Flüchtlingen

Im Irak versuchte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die Volksgruppe der Jesiden auszulöschen. Viele von ihnen haben in Deutschland Zuflucht gefunden. Ihr Leben in einer Parallelgesellschaft erweist sich als Integrationsbremse.
Titelbild
Nadia Murad ist Friedensnobelpreisträgerin aus dem Irak.Foto: Heiko Junge/NTB scanpix/AP/dpa
Von 21. Januar 2019

Im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters Bielefeld gibt es nach Angaben der Behörde derzeit 35 912 Empfänger von Leistungen nach dem SGB II, besser bekannt als „Hartz IV“. Im Gespräch mit der „Neuen Westfälischen“ spricht Behördenleiter Rainer Radloff über den Arbeitsmarkt und die Situation der Bezieher der Grundsicherungsleistungen nach den entsprechenden Tatbeständen.

Der Bund bezahlte dem Blatt zufolge 2017 rund 95 Millionen Euro für sogenannte Leistungen zum Lebensunterhalt, dazu kamen weitere 93 Millionen für Unterkunft und Heizung. Lediglich 8547 Bezieher von Grundsicherungsleistungen, so betont der Behördenleiter, seien tatsächlich arbeitslos. Die Mehrheit der Bezieher befinde sich in Bildungsmaßnahmen, Sprachkursen oder sei längst erwerbstätig. Allerdings seien die Erlöse beispielsweise von derzeit 400 Selbstständigen, die Kioske oder Imbissstuben betrieben, so gering, dass Aufstockungsleistungen erforderlich seien.

Die Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger weise einen Migrationshintergrund auf, schildert Radloff. Aus den nichteuropäischen Asylländern stammen 4809 Menschen und damit 19 Prozent der Leistungsbezieher. Die Besonderheit an der Situation in Bielefeld – und in Oldenburg, Celle und Pforzheim ist die Situation ähnlich – ist der hohe Anteil aus dem Irak geflohener Jesiden an den nichteuropäischen Leistungsberechtigten.

„Wir schaffen das“ sei Arbeit der Jobcenter

Insgesamt 2760 Angehörige der ethnisch-religiösen Minderheit oder 56,5 Prozent der Leistungsbezieher aus Drittstaaten in der Stadt erhalten Geld zum Lebensunterhalt und zum Wohnen vom Jobcenter. Rechne man den Nachwuchs in der kinderreichen Gruppe dazu, wachse die Zahl der Berechtigten auf etwa 5000 an.

Die Jesiden seien, so erklärt Radloff gegenüber der NW, „unsere schwierigste Klientel“. Die Integration bereite erhebliche Probleme, auch wenn Bielefeld nur in den seltensten Fällen Sanktionen ergreife. Nur in 1,3 Prozent aller Fälle greife man zum schärfsten Schwert, das Jobcentern zur Verfügung stehe, während es im Bundesdurchschnitt 3,2 Prozent wären und in Bayern noch deutlich höher.

Das hänge mit dem Umstand zusammen, dass das Jobcenter mit seinen 500 Mitarbeitern in der westfälischen Stadt mit den oft traumatisierten Zuzüglern aus teils archaischen Kulturkreisen de facto Sozialarbeit leisten müsse statt bloßer Jobberatung.

„Einen Großteil von dem, was Frau Merkel mit dem Satz ,Wir schaffen das!‘ gesagt hat, müssen wir im Jobcenter leisten“, lautet die Bilanz des Behördenchefs.

Das Jesidentum ist eine Religion, die vor allem innerhalb der kurdischen Volksstämme verbreitet ist und deren Vorkommen seit dem 12. Jahrhundert dokumentiert ist. Die jesidische Religion ist zwar monotheistisch, stellt aber eine synkretistische Glaubenslehre dar, die unterschiedliche Einflüsse in sich vereint. So sollen der Zoroastrismus und der Mithraskult zu den Ursprüngen des Jesidentums gehören, aber auch der Islam, insbesondere in seiner sufistischen Erscheinungsform, habe Ethnologen zufolge die Vorstellungen der Jesiden geprägt.

Durch das Schicksal Nadia Murads bekannt geworden

Die religiöse Überlieferung fand über die Jahrhunderte hinweg mündlich statt sowie in Hymnen und Bräuchen. Einen niedergeschriebenen Glaubenskanon gibt es nicht. Das Jesidentum ist auch keine missionarische Religion. Ein Übertritt in die Gemeinschaft ist nicht vorgesehen – im Gegenzug gilt ein striktes Gebot der Endogamie. Eine Heirat ist demnach nur innerhalb der eigenen Gruppe vorgesehen, wobei man auch ein Kastensystem und Verwandtenehen kennt. Dazu kommt auch eines der Isogamie. Die Eheschließungen sollen demnach innerhalb der drei Kasten stattfinden, die es in der jesidischen Gemeinschaft gibt: die Scheichs, die Weisen und die Laien. Weltweit soll es Schätzungen zufolge zwischen 200 000 und 800 000 Jesiden geben, die meisten im Irak. In Deutschland leben mehr als 100 000 Angehörige der Gruppe.

Der versuchte Völkermord des IS an den Jesiden, der international unter anderem durch das Schicksal der letztjährigen Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad Beachtung fand, die von den radikal-islamischen Terroristen als Sex-Sklavin verschleppt worden war, hat die Gruppe noch enger zusammenrücken lassen – auch in Deutschland.

Wie Nadia Murad sei es vielen Familienmitgliedern nach Deutschland geflüchteter Jesiden ergangen. „Diese Menschen befinden sich in einer Situation, die es kaum ermöglicht, an sie heranzukommen“, erklärt Radloff.

Die Situation erschweren würde auch, dass das Innenministerium, das beispielsweise dafür zuständig wäre, unabhängig von der Berufssituation Sprachkurse für die Geflüchteten zu organisieren, keinen Kontakt mehr zu diesen habe. Geld für Maßnahmen dieser Art sei vorhanden, selbst veranlassen könne das Jobcenter entsprechende Schritte aber nicht.



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