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Historischer Tag im Bundestag

Merz kommt mit einem blauen Auge davon: Demütigung vor Kanzlerwahl

Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz geht angeschlagen ins Amt: Erst im zweiten Wahldurchgang setzte er sich durch. Ein bislang einmaliger Vorfall in der Geschichte der Bundesrepublik. Welche 18 Abgeordneten der Regierungsfraktionen dem CDU-Chef ihre Stimmen zunächst verweigert hatten, bleibt ebenso im Vagen wie deren Beweggründe.

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Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zeigt in Gegenwart von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Ernennungsurkunde zum Kanzler vor.

Foto: John MacDougall/AFP via Getty Images

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Lesedauer: 8 Min.

Am Ende hat es doch noch gereicht: Der CDU-Parteichef Friedrich Merz ist am Nachmittag des 6. Mai 2025 nach einer stundenlangen Hängepartie erst im zweiten Wahlgang zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Mit 325 Stimmen pro Merz lag das Abstimmungsergebnis neun Stimmen über dem erforderlichen Mindestmaß.
Dennoch bedeutet der Erfolg im zweiten Anlauf zugleich eine schwere Schlappe für Merz und die gesamte schwarz-rote Regierungskoalition. Denn nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik war es vorgekommen, dass einem designierten Bundeskanzler im ersten Wahlgang zu viele Fraktionsmitglieder aus den Reihen der eigenen Regierungskoalition ihre Stimme verweigert hatten. Genau das war am Vormittag passiert.

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Debakel im ersten Wahlgang

Bei 630 Bundestagsabgeordneten wären nach Artikel 63 des Grundgesetzes mindestens 316 Ja-Voten („Kanzlermehrheit“) nötig gewesen. Normalerweise kein Problem, da Union (208 Sitze) und SPD (120 Sitze) zusammen genügend Vertreter im Plenum besitzen.
Doch nach dem ersten Wahlgang stellte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) nur 310 von insgesamt 621 abgegebenen Stimmen für Merz fest. Trotz dreier Nein-Stimmen weniger war die Kanzlermehrheit somit um sechs Stimmen verfehlt worden.
Von den im Vorfeld als sicher geglaubten 328 Mitgliedern der beiden Regierungsfraktionen hatten somit mindestens 18 den Kandidaten Friedrich Merz nicht unterstützt. Manchen Abgeordneten und Besuchern im Plenum stand der Schock über den historisch einmaligen Vorfall ins Gesicht geschrieben (Kurzvideo auf X).

Abweichler unbekannt, Beweggründe unklar

Ob die Merz-Gegner aus den Reihen von CDU/CSU oder von der SPD (120 Sitze) kamen, bleibt bis auf Weiteres unklar, denn bei der Kanzlerwahl muss geheim abgestimmt werden. Spitzenvertreter beider Koalitionspartner wie der designierte Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) oder CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schlossen es aus, dass die Abweichler aus ihren Reihen stammen könnten. Nach der Blamage habe es „frenetische Unterstützung, ja Standing Ovation“ für Friedrich Merz im Fraktionssaal der Union gegeben, betonte Linnemann. „Es war sehr, sehr ehrlich“, so sein Eindruck.
Über die Motive der Nein-Sager aus den Reihen von Union und SPD kann ebenfalls nur spekuliert werden. Hatten sie vielleicht noch eine private Rechnung mit Merz offen und wollten ihm einen Denkzettel verpassen? Ging ihnen der gemeinsam beschlossene Koalitionsvertrag vielleicht zu weit – oder nicht weit genug? Und falls ja: nicht weit genug nach rechts oder nach links? Handelte es sich um eine Racheaktion für die 180-Grad-Wende von Merz nach der Bundestagswahl? Oder galt die Abtrünnigkeit womöglich gar nicht Merz, sondern SPD-Cochef Klingbeil? Und wie könnte sich das Debakel auf die künftige gemeinsame Regierungsarbeit auswirken?

Middelberg vermutet Unkenntnis des Wahlprocederes als Ursache

Der CDU-Haushaltspolitiker Mathias Middelberg bemühte sich im Interview mit dem Nachrichtensender „Phoenix“, die Wogen zu glätten. „Mein Eindruck ist, dass vielen nicht so ganz klar war, was sie auslösen mit einer Stimme der Enttäuschung oder des Denkzettels“, so Middelberg.
Womöglich hätten die Abweichler irrtümlich damit gerechnet, dass der zweite Wahlgang gleich im Anschluss kommen würde. „Viele haben sich danach gewundert, dass sie damit ein Wahlprocedere auslösen, das sich über mehrere Tage hinstrecken kann“ (Video auf YouTube).
CSU-Parteichef Markus Söder sprach von einem „Schaden für unser Land und für die Demokratie“ und warnte mutmaßliche Abweichler davor, auch im zweiten Durchgang noch alte Rechnungen begleichen zu wollen, zumal es „ums Ganze“ gehe, nämlich „eine stabile Regierung auf den Weg zu bringen“.

AfD-Chefin Weidel forderte Neuwahlen

Während sich die zumeist sichtlich geschockten Angehörigen der Koalitionsfraktionen zu Sonderberatungen und fraktionsübergreifenden Gesprächen hinter die Kulissen zurückzogen, vermochten die Spitzen der Oppositionsfraktionen ihre Schadenfreude vor den Kameras kaum zu zügeln.
AfD-Cofraktionschef Tino Chrupalla sprach von einem „guten Tag für Deutschland“. Seine Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel forderte Merz‘ Rückzug und die schnelle Einleitung von Neuwahlen (Kurzvideo auf X).
Unterdessen mussten Union und SPD eine Entscheidung fällen: Wie sollte es nun weitergehen? Möglichst sofort eine neue Abstimmung wagen? Oder lieber erst ein paar Tage Wunden lecken und die eigenen Abgeordneten zur Einigkeit ermahnen?
Oder Friedrich Merz zum Rücktritt bewegen? Nach zwei Stunden voller Spekulationen kristallisierte sich am frühen Nachmittag heraus, dass tatsächlich noch am selben Tag ein neuerer Anlauf zur Kanzlerwahl genommen werden sollte.

Linke um Zustimmung gebeten: Dobrindts Gang nach Canossa

Damit es also ganz schnell zu einem zweiten Wahlgang kommen durfte, musste kraft Geschäftsordnung des Bundestags nun eine Zweidrittelmehrheit zur Änderung der Tagesordnung her. Die SPD wollte es laut „Bild“ allerdings partout nicht riskieren, dass Stimmen der AfD den Ausschlag geben könnten. Also waren die Koalitionäre sowohl auf die Stimmen der Grünen als auch der Linken angewiesen.
Da Merz sich nach Angaben der „Bild“ weigerte, den Unvereinbarkeitsbeschluss zur Linken aus dem Jahr 2018 (PDF) für seine Kanzlerwahl zu brechen, oblag es dem designierten Innenminister Alexander Dobrindt (CSU), eine gesichtswahrende Lösung zu finden.
Um nicht gegen den eigenen Parteitagsbeschluss zu verstoßen, einigten sich Dobrindt und die Fraktionsführung der Linken schließlich darauf, zu verkünden, dass die Unvereinbarkeit sich nicht auf Fragen zur Bundestagsgeschäftsordnung erstrecke.
„In diesem Fall ist Stabilität wichtiger als das Störgefühl, von den Linken beim Verfahren unterstützt zu werden“, kommentierte der am Vortag zum neuen Unionsfraktionsvorsitzenden gewählte Jens Spahn (CDU).
Parallel dazu hatte Klingbeil im SPD-Auftrag die Zustimmung der Grünen zum Geschäftsordnungsantrag eingeholt. Kurz nach 15:30 Uhr war der Weg für den Kanzlerwahlversuch Nummer zwei frei. Nach dem erfolgreichen Abschluss ließ sich Merz von Klöckner vereidigen.

Grüne, Linke und AfD kündigen weiter Widerstand an

Sowohl die Grünen in Gestalt von Irene Mihalic als auch Christian Görke für die Linken hatten in der vorangegangenen Kurzdebatte angekündigt, abgesehen von der Zustimmung zum zweiten Wahlgang keine Zugeständnisse mehr an die Regierung Merz machen und den CDU-Chef auch nicht zum Kanzler wählen zu wollen.
„Diese Regierung beginnt in äußerster Instabilität und sie wird instabil bleiben. Das ist das Gegenteil von dem, was Deutschland braucht“, meinte Bernd Baumann, der erste parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Bundestag. Auch in seiner Fraktion gingen allerdings anschließend die Hände für den zweiten Wahlgang hoch.
In der ersten Version des Textes war im Vorspann von sechs Abweichlern die Rede. Von den 328 Mitgliedern der beiden Regierungsfraktionen hatten im ersten Wahlgang aber mindestens 18 Personen Friedrich Merz ihre Stimme verweigert. Im zweiten Wahlgang fehlten noch drei Stimmen. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Patrick Reitler, geboren in den späten Sechzigerjahren am Rande der Republik. Studium der Komparatistik, Informationswissenschaft und Sozialpsychologie. Seit der Jahrtausendwende als Journalist hauptsächlich in Online-Redaktionen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und als Fußballkommentator unterwegs. Seit Ende 2022 freier Autor. Bei Epoch Times vorwiegend für deutsche Politik zuständig.

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