Deutsche Einheit – Merkel: Einige Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse

Anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit melden sich Stimmen aus Politik und Wirtschaft zu Wort.
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Angela Merkel.Foto: Maja Hitij/Getty Images
Epoch Times2. Oktober 2020

Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung haben Politiker auf anhaltende Unterschiede zwischen Ost und West hingewiesen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte Verständnis dafür, dass sich einige Menschen in Ostdeutschland als Bürger zweiter Klasse fühlten.

Dafür gebe es Auslöser – „verpasste Lebenschancen zum Beispiel“, sagte sie am Freitag den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Auch in der Bundestagsdebatte zum Anlass des Einheits-Jubiläums verwiesen Redner von Koalitions- und Oppositionsfraktionen auf unerledigte Aufgaben.

Merkel sprach insgesamt von „großen Fortschritten bei der Angleichung des Lebensstandards“ in Ost und West – zugleich sei aber der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland weiter eine große Zukunftsaufgabe: „Wir werden sehr viel Kraft für einen solchen Zusammenhalt aufbringen müssen“, sagte sie den RND-Zeitungen.

Der Bundestag debattierte am Freitagvormittag zwei Stunden lang über die deutsche Einheit. Auch hier nahmen die Redner der Fraktionen die Befindlichkeiten der Ostdeutschen in den Blick und sprachen Fehler und Versäumnisse an – etwa ein mangelndes Verständnis im Westen für die Sorgen im Osten.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) verwies in der Debatte auf Probleme und Rückschläge, mit denen die Menschen im Osten nach der Wende zu kämpfen hatten: „Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass wir das im Westen vielleicht zu lange nicht gesehen haben.“

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Wiedervereinigung als „Erfolgsgeschichte“, in der vieles geglückt sei. Es gebe aber noch viel zu tun, fügte der Bundesfinanzminister mit Blick auf die Unterschiede etwa bei Löhnen und Renten hinzu.

AfD-Chef: „Viele fühlen sich alleine gelassen mit ihren Nöten“

AfD-Chef Tino Chrupalla verwies darauf, dass es heute zwar allen materiell besser gehe, „aber viele fühlen sich alleine gelassen mit ihren Sorgen und Nöten“. Er beklagte, dass die Durchschnittseinkommen im Osten noch immer 20 Prozent geringer seien als im Westen.

Nach Ansicht von Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch wurde in den 30 Jahren seit der Wiedervereinigung zwar viel erreicht, „es wurden aber auch Fehler gemacht“. Die Treuhandanstalt sei der „Kardinalfehler der deutschen Einheit“ gewesen. „Wir sind von gleichwertigen Lebensverhältnissen, die das Grundgesetz vorschreibt, noch weit entfernt.“

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt verwies darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung nicht nur der Osten, sondern auch der Westen verändert habe. Deutschland sei freier und vielfältiger geworden. „Wir sind weit gekommen, dennoch bleiben die Vergleichszahlen hart“, betonte die Grünen-Politikerin mit Blick auf die fortdauernden Unterschiede.

FDP-Chef Christian Lindner würdigte die Vorgänge von 1989 und 1990 als „erste unblutige erfolgreiche Revolution in unserem Land“. Es sei zu wenig über „Erfolgsstorys“ gesprochen worden, kritisierte er – und räumte ein, dass die Erfahrungen aus der Wendezeit für viele traumatisierend gewesen seien.

Auf Versäumnisse bei der Gestaltung der Deutschen Einheit wies auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hin. „Wir haben die Fähigkeiten vieler Menschen unterschätzt, das hat sich sicherlich auf das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen ausgewirkt“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sprach die Enttäuschung vieler Ostdeutscher nach der Vereinigung an. Entstanden sei „eine Frustbewegung, die so tut, als wären die Westdeutschen über uns gekommen“, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Dabei sei es aber der Wille der Ostdeutschen gewesen, der diese schnelle Einigung herbeigeführt habe. Deswegen sei es „völlig verfehlt, von ‚Übernahme‘ zu sprechen“, sagte Gauck.

Die zentralen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit am Samstag finden in Potsdam statt. Daran werden Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnehmen.

Ostdeutsche Mütter gehen nach der Geburt früher wieder arbeiten

In Ostdeutschland aufgewachsene Frauen nehmen nach der Geburt eines Kindes schneller wieder eine Arbeit auf als in Westdeutschland aufgewachsene Mütter. Dieser Unterschied ist lange bekannt.

Eine am Freitag veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt jedoch zudem zu dem Ergebnis, dass sich in diesem Punkt das Verhalten westdeutscher Mütter ändert, wenn sie sich in einem ostdeutsch geprägten Umfeld bewegen.

Die Studienautorinnen Uta Schönberg vom University College London, Barbara Boelmann von der Universität Köln und Anna Raute von der Londoner Queen Mary University analysierten für das IAB das Erwerbsverhalten von Frauen, die auf die jeweils andere Seite der ehemaligen innerdeutschen Grenze gezogen sind.

Demnach passten in Westdeutschland aufgewachsene, aber in Ostdeutschland erwerbstätige Mütter ihr Erwerbsverhalten nach der Geburt eines Kindes weitgehend an das ihrer ostdeutschen Kolleginnen an.

Sogar wenn nur einige ostdeutsche Frauen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung in westdeutschen Betrieben tätig wurden, veranlasste das der Studie zufolge einheimische westdeutsche Kolleginnen, nach der Geburt eines Kindes früher zur Arbeit zurückzukehren. „Migration kann ein Katalysator für den kulturellen Wandel sein“, erklärten dazu Schönberg, Boelmann und Raute.

Umgekehrt gibt es diesen Effekt dagegen offensichtlich nicht. Auch nach langem Kontakt mit den immer noch traditionelleren westdeutschen Erwerbsmustern von Frauen und Männern kehren in Ostdeutschland aufgewachsene Mütter weiterhin früher zur Arbeit zurück und arbeiten länger als ihre westdeutschen Kolleginnen. Letztere lassen sich der Studie zufolge also stärker von einem ostdeutschen Umfeld beeinflussen als andersherum.

Generell sind die Unterschiede im Erwerbsverhalten nach der Geburt von Kindern auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung aber weiterhin stark ausgeprägt. Das ergaben Untersuchungen bei ost- und westdeutschen Müttern auf beiden Seiten der ehemaligen innerdeutschen Grenze innerhalb derselben Pendelregion.

Studie: Einheit hat für die Generationen sehr unterschiedliche Folgen

Das Ende der DDR und die Wiedervereinigung vor 30 Jahren haben für die Menschen im Osten je nach Alter sehr unterschiedliche Folgen mit sich gebracht. Dies geht aus einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hervor, die am Freitag veröffentlicht wurde. Die Generation der vor 1930 Geborenen, die 1990 bereits größtenteils im Ruhestand war, habe von der Deutschen Einheit überwiegend stark profitiert.

„Viele verfügten über lange Erwerbszeiten, die ihnen mit der Übernahme des westdeutschen Rentensystems hohe Rentenzahlungen sicherten“, hieß es in der Studie. Gleichzeitig sei die medizinische Versorgung zügig auf Westniveau gehoben worden, wovon gerade ältere Menschen profitiert hätten.

So habe etwa die verbleibende durchschnittliche Lebenserwartung 65-jähriger Menschen 1990 im Osten fast zwei Jahre unter der im Westen gelegen. „Mittlerweile hat sich der Abstand zum Westen auf weniger als zwei Monate reduziert“, sagte der Forschungsdirektor am BiB, Sebastian Klüsener.

Schäuble: „Haben die Fähigkeiten vieler Ostdeutscher unterschätzt“

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat auf Versäumnisse bei der Gestaltung der deutschen Vereinigung vor 30 Jahren hingewiesen. „Einen der größten Mängel haben wir bei der Anerkennung der beruflichen Qualifikation von Menschen aus der DDR“, sagte der damalige Bundesinnenminister den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Freitag. „Wir haben die Fähigkeiten vieler Menschen unterschätzt, das hat sich sicherlich auf das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen ausgewirkt.“

Das gelte auch für die Übernahme von Mitarbeitern in den Ministerien, fügte Schäuble hinzu. Im Innenministerium seien immerhin Leute übernommen worden, die einigermaßen die Eingangsvoraussetzungen erfüllt hätten. „Nur weil jemand in der SED war, ist er nicht gleich ein schlechterer Mensch.“

Heutige Einheitsdebatte im Bundestag (1. Oktober) :

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Schäuble wünscht sich mehr Interesse an Ostdeutschland

Schäuble rief die Bürger dazu auf, mehr Interesse an den Lebensleistungen der Menschen in Ostdeutschland und an der Geschichte der DDR zu zeigen – „dann wächst im Osten auch das Selbstbewusstsein“.

Die Skepsis vieler Ostdeutscher gegenüber der Politik erklärte Schäuble auch mit Verletzungen aus unterschiedlichen Erfahrungen mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen. „In dieser Stimmung lassen sich auch Ressentiments gegenüber Menschen aus anderen Teilen der Welt leichter mobilisieren, denn Zuwanderung dieser Art war man praktisch gar nicht gewöhnt“, sagte er. Die Frage, ob Rechtsextremismus im Osten eine größere Herausforderung sei als im Westen, verneinte er.

„Ganz ehrlich, die Integration der sogenannten Gastarbeiter haben wir im Westen auch nicht so toll hinbekommen“, sagte Schäuble. „Es gab ja nicht nur die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock, sondern mörderische Anschläge in Solingen und Mölln. Insofern gibt es keinen Grund, sich im Westen in irgendeiner Weise besser oder anständiger zu fühlen.“

Die Zeit der Wende beschrieb Schäuble als dramatisch. „Natürlich hätte es Krieg geben können,– auch am Abend des 9. November, als die Mauer fiel“, sagte er. „Es kursierten Falschmeldungen über Angriffe auf sowjetische Garnisonen in der DDR. Gorbatschow rief Kohl an, der die Gerüchte entkräften konnte. Es stand Spitz auf Knopf.“

Staatlich vorgeschriebene Frauenrolle in der DDR

Auf die Frage, was die DDR in das wiedervereinigte Deutschland eingebracht habe, sagte Schäuble: „Menschen – mit all ihren Facetten.“ Mit Blick auf die Gesellschaft nannte er die veränderte Rolle der Frauen, die in der DDR schon in stärkerem Maße ins Berufsleben integriert gewesen seien. „Es gab dort bessere Möglichkeiten, Familie und Erwerbsarbeit zu verbinden – wenn auch staatlich vorgeschrieben.“

Schäuble rechtfertigte die Entscheidung, die Wiedervereinigung als Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu gestalten. „Wir haben im Westen auf den Willen der übergroßen Mehrheit der DDR-Bevölkerung reagiert“, sagte der CDU-Politiker. Bei den freien Wahlen in der DDR am 18. März hätten die Kräfte gewonnen, die für einen schnellen Beitritt auf der Grundlage von Artikel 23 eingetreten seien. Das treibende Element für die schnelle politische Entwicklung seien die vielen hunderttausend Übersiedler gewesen. „Uns war klar, jetzt müssen wir uns beeilen auch mit der Währungsunion“, sagte Schäuble.

Bundestagspräsident: „DDR-Wirtschaft war einfach nicht wettbewerbsfähig“

„Die D-Mark brachte zwangsläufig das Ende der DDR-Wirtschaft, die einfach nicht wettbewerbsfähig war. Der Westen hat die DDR nicht übernommen oder überrollt, sondern wir haben versucht, so viel wie möglich zu erhalten.“ Nach Schäubles Überzeugung war die DDR ein Unrechtsstaat. „In der DDR war nicht alles Unrecht, aber sie war kein Rechtsstaat“, sagte er.

Im Zweifel sei die staatliche Macht dem Recht übergeordnet gewesen. „Die allgegenwärtige Stasi-Überwachung war allen bewusst. Eltern haben am Esstisch gelogen, damit ihre Kinder sich nicht verplappern in der Schule.“ Dazu müsse man nur einen Blick in das Stasi-Archiv werfen. „Die DDR war insofern ein Unrechtsstaat – nicht nur, aber auch.“

Gauck trauert der „DDR-Notgemeinschaft“ mit seiner Nähe nach

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit Blick auf die Vereinigung vor 30 Jahren, dass er gelegentlich der Notgemeinschaft in der DDR gegen die SED-Regierung nachtrauere. Das Merkwürdige sei, dass „selbst bei Menschen wie mir, der ich der DDR keine Träne nachweine, mitunter ein ganz unpolitisches Gefühl des Abschieds oder einer irgendwie kaum erklärbaren Traurigkeit entsteht“, sagte Gauck.

„In dieser Zeit der Unterdrückung haben Menschen ihre kleinen Gegenwelten zur Unterdrückung gesucht und gebaut, und dann ist vielfach eine Wärme und eine Intensität des Miteinanders entstanden, die die Kälte der Diktatur erträglich machten“, sagte er. „Diese Nähe und Intensität gab es dann später so nicht mehr.“

Gauck: „Frustbewegung, die so tut, als wären die Westdeutschen über uns gekommen“

Auch Gauck sprach in dem Interview die Enttäuschung vieler Ostdeutscher nach der Vereinigung an. Entstanden sei „eine Frustbewegung, die so tut, als wären die Westdeutschen über uns gekommen“. Dabei sei es aber der Wille der Ostdeutschen gewesen, der diese schnelle Einigung herbeigeführt habe. Deswegen sei es „völlig verfehlt, von ‚Übernahme‘ zu sprechen“, sagte Gauck. „Aber zweifellos haben viele durch diese Art des Übergangs auch an Handlungsmacht verloren.“

Thüringens Ministerpräsident Ramelow: Ossis sind oft kleinlauter

Anstatt des 3. Oktober hätte er sich den 9. November als Gedenk- und Feiertag gewünscht. „Es gibt keinen ambivalenteren Tag in der deutschen Geschichte.“ Ramelow wurde als Westdeutscher im Februar 1990 als Gewerkschafter in den Osten geschickt. Für ihn selbst sei das „vor allem eine Chance“ gewesen. „Ich bin ein Übersetzer. Ich habe gelernt, zuzuhören und mich in beiden Welten zu bewegen“, so der Linke-Politiker über seine heutige Rolle. Die Erfahrungen in der Zeit nach der Wende hätten ihn „völlig verändert“. „Viele Menschen haben sich damals trotz großer Widrigkeiten und Knüppeln zwischen den Beinen selbstständig gemacht. Das sind die Heldengeschichten der Wende.“

Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2014 hätten viele genau beobachtet, ob er „in ideologische Muster verfalle“. „Aber meine Lebenszeit ist zu kurz, um mich mit ideologischem Müll rumzuschlagen“, sagte Ramelow, der auch die Zusammenarbeit mit den anderen ostdeutschen Ministerpräsidenten in den vergangenen sechs Jahren lobte. „Das Parteibuch hat keine Rolle gespielt. Es ging immer darum, sich über Probleme zu verständigen, wenn die Länder für die Lösung allein zu klein waren.“ (afp/dts)



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