Wohlstandswachstum ist begrenzt
Rente, Pflege, Gesundheit – bald 50 Prozent Abgaben?
Krankenkasse, Pflege, Rente: Künftig brauchen mehr Menschen Leistungen – doch weniger erwirtschaften das Wachstum. Die Sozialbeiträge steigen in bisher ungekannte Höhen. Wie Union und SPD reagieren und was Ökonomen dazu sagen.

Den Älteren in Deutschland soll das Geld nicht ausgehen - doch wer zahlt dafür?
Foto: Marijan Murat/dpa/dpa-tmn
Um mehrere hundert Euro stiegen für viele Menschen in Deutschland zum Jahreswechsel die Beiträge zur Krankenversicherung. Die Beitragsspirale wird die Belastungen für Krankenkasse, Rente und Pflege weiter erhöhen.
Was treibt diese Entwicklung an? Wie bewerten Ökonomen die Reaktionen der schwarz-roten Koalition?
Wie entwickeln sich die Krankenkassenbeiträge?
Die Krankenkassenbeiträge stiegen bereits zum Jahreswechsel. Zum allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent kamen Zusatzbeiträge von durchschnittlich 2,9 Prozent hinzu. Die Regierung setzte den Orientierungswert auf 2,5 Prozent fest – 0,8 Prozentpunkte mehr als 2024.
Für die kommenden zwei Jahre erwartet der Essener Ökonom Jürgen Wasem einen Anstieg um jeweils rund 0,2 Beitragssatzpunkte.
Wie sieht es in anderen Versicherungszweigen aus?
Der Pflegebeitrag stieg um 0,2 Punkte auf 3,6 Prozent für Versicherte mit einem Kind und wird laut Wasems weiter steigen. Gründe sind die Demografie und auch Lohnsteigerungen bei den Pflegekräften. Die Arbeitslosenversicherung bleibt bei 2,6 Prozent stabil, trotz des Kostendrucks.
Der Rentenbeitragssatz steht zur Debatte: Wie lange bleibt er bei 18,6 Prozent des Bruttogehalts? Die Ampelkoalition plante eine Rentenreform und schätzte den Beitrag für 2035 auf 22,3 Prozent.
Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent vor, was Milliarden kostet.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), warnt: „Wenn der Beitragssatz wegen eines stabilen Rentenniveaus deutlich ansteigt, dann nimmt die Wirtschaft in Deutschland Schaden.“
Was passiert ohne Reformen?
„In den nächsten 10 Jahren schlägt der demografische Wandel voll auf die Sozialversicherungsausgaben durch“, sagt der Mannheimer Ökonom Nicolas Ziebarth. Die Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt.
Die Politik ignorierte lange die demografischen Effekte in der Krankenversicherung, sagt Wasem. „Ältere Menschen benötigen im Schnitt drei bis vier Mal so viele Leistungen wie jüngere.“
Das privatwirtschaftliche Forschungsinstitut IGES hat errechnet, welcher Anteil vom Einkommen künftig für die Sozialsysteme fällig wird.
„Wenn man grundlegende Trends (…) fortschreibt, ergibt sich in zehn Jahren eine Gesamtbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von knapp 49 Prozent“, sagt IGES-Geschäftsführer Martin Albrecht, „mit einem Spektrum zwischen knapp 46 bei günstiger und 53 Prozent bei ungünstiger Entwicklung.“ Heute sind es rund 42 Prozent.
Warum wiegen hohe Sozialkosten heute besonders schwer?
Sie lassen sich weniger durch Wirtschaftswachstum ausgleichen. Fratzscher erwartet, dass Deutschland auch wegen des Zollkonflikts mit den USA das dritte Jahr in Folge eine Rezession erlebt.
Selbst bei optimalen Bedingungen sieht Fratzscher nur ein Wachstum von 0,3 Prozent. „Ein größeres Wachstumspotenzial hat die deutsche Wirtschaft derzeit nicht mehr.“
Wasem erklärt: „Das Stück, das für die Kranken- und Pflegeversicherung aus dem Wohlstandskuchen herausgeschnitten wird, wird also immer größer – nur der Kuchen wächst nicht mehr.“
Das begrenzte Wohlstandswachstum liegt auch am demografischen Wandel. Weniger Jüngere bedeuten einen „starken Rückgang der Beschäftigung in Deutschland“, so Fratzscher.
Künftig benötigen mehr Menschen Leistungen – doch weniger erwirtschaften Wachstum.
Wie reagiert die Koalition?
Aus Sicht der Ökonomen enttäuschend. Bei Pflege und Gesundheit sollen erst einmal Kommissionen eingesetzt werden.
Von diesen erwarte er nicht viel, sagt Ziebarth vom Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). „Die ideologischen Unterschiede (…) sind zu groß.“ Die Union will mehr Eigenbeteiligung, die SPD höhere Beiträge von Wohlhabenden.
Fratzscher sagt: „Unser Sozialstaat wird derzeit von Jahr zu Jahr ein Stück weniger generationengerecht.“ Die Umverteilung von Jung zu Alt nimmt zu.
„Der Koalitionsvertrag verschärft das Problem: Anstelle von Vorschlägen zu einer Begrenzung des künftigen Beitragsanstiegs gibt es hier teure Versprechungen wie beispielsweise ein stabiles Rentenniveau und eine ausgeweitete Mütterrente“, sagt Fratzscher. „Offensichtlich wollen weder Union noch SPD ihre Wählerinnen und Wählern mit irgendwelchen Zumutungen belästigen.“
Was sind die Folgen hoher Beiträge?
„Hohe Sozialabgaben hemmen den privaten Konsum, der mehr als die Hälfte zur Wirtschaftsleistung beiträgt“, sagt Fratzscher. „Wenn die Menschen in Deutschland nicht wieder mehr ausgeben, wird nachhaltige konjunkturelle Erholung kaum gelingen.“
Ziebarth meint: „Die steigenden Sozialbeiträge sind heute eine der drängendsten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft.“
Wie stark belasten hohe Beiträge die Unternehmen? Ziebarth sagt: „Studien legen nahe, dass pro Sozialbeitragssatzpunkt mit 50.000 bis 100.000 Arbeitsplätzen weniger pro Jahr zu rechnen ist.“ Das sei aber nur ein Annäherungswert.
Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, warnt dass immer höhere Sozialabgaben im Handwerk deutlicher zu Buche schlagen werde als in anderen Bereichen. „Dadurch werden lohnintensive Leistungen immer teurer oder sogar unbezahlbar“, erklärte Dittrich. „Bei den Sozialabgaben droht ein Kosten-Tsunami.“
Ein Prozent mehr etwa bei den Krankenkassenbeiträgen klinge erst einmal nach wenig. „Doch das bedeutet 19 Milliarden Euro Belastung: an Mehrkosten für die Betriebe und an Kaufkraftentzug für Beschäftigte.“ Er appellierte, die Kosten für die Sozialsysteme nicht allein der jüngeren Generation aufzubürden.
(dpa/dts/red)
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