Ungerechte Rechnerei? – Verfassungsrichter verkünden Zensus-Urteil

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts entscheidet heute über die Einwohnerzahlen der Städte und Gemeinden - und daran hängt viel Geld.
Titelbild
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe.Foto: Uli Deck/dpa
Epoch Times19. September 2018

Eine Stadt, die schrumpft, büßt Bedeutung ein – und Finanzkraft. Berlin und Hamburg passierte das quasi über Nacht: Seit der jüngsten Volkszählung müssen sie mit deutlich weniger Geld auskommen. Lässt sich daran in Karlsruhe rütteln? Heute verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil. (Az. 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15)

Worum geht es?

2011 findet die erste EU-weite Volkszählung statt. In Deutschland hat es nach der Wiedervereinigung keinen Zensus gegeben, die Daten werden seit mehr als zwei Jahrzehnten fortgeschrieben. Bei der letzten Volkszählung in der Bundesrepublik 1987 schwärmten an die 600 000 Interviewer aus, um jeden Bürger persönlich zu befragen. Nun soll es einfacher gehen: Die Statistiker arbeiten „registergestützt“, nutzen also Daten, die es schon gibt, zum Beispiel bei den Meldeämtern oder der Bundesagentur für Arbeit. Neu befragt wird nur jeder Zehnte – um Lücken zu schließen und Unstimmigkeiten auf den Grund zu gehen.

Weshalb stößt das auf Widerstand?

Den Aufschrei gibt es erst, als 2013 die Ergebnisse vorliegen. Denn zum Stichtag, dem 9. Mai 2011, leben in Deutschland deutlich weniger Menschen als angenommen, rund 80,2 statt knapp 81,8 Millionen. Von einem Tag auf den anderen schrumpfen viele Städte und Gemeinden – mit schmerzlichen Konsequenzen, denn die Einwohnerzahl ist eine zentrale Größe im Finanzausgleich. Berlin verliert rund 180 000 Einwohner und damit 470 bis 490 Millionen Euro jährlich. Hamburg wird um knapp 83 000 Menschen kleiner und büßt im Jahr über 100 Millionen Euro ein.

Warum soll das Verfassungsgericht einschreiten?

Die Millionenstädte sehen sich als Opfer der neuen Methode. Tatsächlich haben die Statistiker die Daten der Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern mit anderen Verfahren bereinigt. Liegt es daran, dass vor allem größere Städte Einwohner eingebüßt haben? Oder gab es dort nur besonders viele Karteileichen in den Melderegistern? Als Stadtstaaten, die ihre Verluste nicht in der Fläche kompensieren können, fühlen sich Berlin und Hamburg doppelt hart getroffen. Ihre Kritik am Zensus fällt harsch aus: nicht ausreichend vorbereitet, zu wenig erprobt, die Ergebnisse für die Betroffenen kaum nachprüfbar.

Was passiert, wenn Karlsruhe den Zensus beanstandet?

Das ist die große Frage. „Die Bundesregierung bereitet sich auf alle denkbaren Szenarien vor“, heißt es aus dem zuständigen Innenministerium. Dass sämtliche Finanzflüsse der vergangenen Jahre rückabgewickelt werden, ist schwer vorstellbar – nicht nur, weil das Geld längst ausgegeben sein dürfte. Das Problem wäre auch: Auf welcher Grundlage? Wie viele Einwohner Deutschland zum 9. Mai 2011 tatsächlich hatte, lässt sich nachträglich nicht herausfinden. Und die alten, ganz offensichtlich nicht mehr verlässlichen Zahlen aus Vor-Zensus-Zeiten fortzuschreiben, wäre bestenfalls eine Notlösung.

Welche Anpassungen wären realistisch?

Die Kläger waren von Anfang an mit Maximalforderungen zurückhaltend. Sein erster Wunsch seien sorgfältigere Regelungen für die Zukunft, sagte etwa der damalige Hamburger Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) in der Karlsruher Verhandlung im Oktober 2017. An zweiter Stelle gehe es darum, den Schaden nicht noch größer werden zu lassen, an dritter Stelle stehe die Bereinigung der Vergangenheit. Ein Zensus findet nun alle zehn Jahre statt, die Vorbereitungen für 2021 sind in vollem Gange. Hier könnte Karlsruhe Verbesserungen einfordern. Laut Ministerium hat die Bundesregierung „Vorkehrungen getroffen, um etwaigen Vorgaben … vollständig Rechnung tragen zu können“.

Wie geht es nach dem Urteil weiter?

Ursprünglich hatten mehr als 1000 Städte und Gemeinden gegen ihre neue Einwohnerzahl Widerspruch eingelegt. Anders als die Stadtstaaten, die über ihre Landesregierungen das Zensus-Gesetz direkt in Karlsruhe zur Prüfung vorlegen konnten, müssen sie sich durch die Instanzen klagen. Laut Statistischem Bundesamt ruhen bei den Verwaltungsgerichten rund 340 Klagen. Je nachdem, wie Karlsruhe urteilt, wird jede Kommune entscheiden müssen, ob sie weiterkämpft. (dpa)



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