Brexit: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende – Kein Vertrag, Neuwahlen oder zweites Referendum?

Das britische Unterhaus stimmt heute über einen EU-Austritt ohne einen Vertrag ab. Die Opposition forderte erneut ein zweites Referendum. Partei-Chef Jeremy Corbyn stellte zudem in den Raum, ob es jetzt nicht Zeit für Neuwahlen sei.
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Das britische Unterhaus lehnte erneut Mays Brexit-Vereinbarung mit Brüssel ab.Foto: Monika Skolimowska/dpa
Epoch Times13. März 2019

Nach dem Scheitern des nachgebesserten Brexit-Deals von Premierministerin Theresa May im Parlament in London sollen die Abgeordneten heute (von 20 Uhr MEZ an) über einen EU-Austritt ohne Vertrag abstimmen.

Sollte der No-Deal-Brexit wie erwartet abgelehnt werden, entscheiden die Parlamentarier am Donnerstag, ob London eine Verschiebung des Brexits beantragen soll.

Nach Ansicht von Bundesaußenminister Heiko Maas wird nach dem Nein des Unterhauses ein ungeregelter Brexit wahrscheinlicher. „Mit dieser Entscheidung rücken wir einem No-Deal-Szenario immer näher“, erklärte er.

Fraktionszwang aufgehoben

May hob für die Abstimmung am Mittwoch den Fraktionszwang im Regierungslager auf. Sie selbst glaube, der beste Weg aus der EU auszutreten, sei auf geordnete Weise, sagte die Regierungschefin.

Die Beschlussvorlage der Regierung sieht jedoch vor, dass ein No-Deal-Brexit in jedem Fall auf dem Tisch bleibt, sollte kein Abkommen bis zum Austrittsdatum am 29. März zustande kommen. Ein Votum dagegen wäre dann nicht mehr als eine Absichtserklärung.

Ein Ja zu einem „No Deal“ will May dagegen als Handlungsanleitung interpretieren. „Wenn das Unterhaus dafür stimmt, ohne ein Abkommen am 29. März auszutreten, wird es die Linie der Regierung sein, diese Entscheidung umzusetzen“, sagte May. Parlamentarier verschiedener Lager kündigten an, die Beschlussvorlage verändern zu wollen.

Bereits am Morgen will die Regierung Notfallpläne für einen Brexit ohne Abkommen veröffentlichen. Aus den Dokumenten soll May zufolge hervorgehen, wie London mit den Konsequenzen umgehen will, beispielsweise mit Zöllen und der Frage nach Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland.

Das britische Unterhaus hatte zum zweiten Mal das Brexit-Abkommen mit einer Mehrheit von 391 zu 242 Stimmen abgelehnt.

Wäre eine Verschiebung möglich?

Angesichts eines drohenden Chaos-Brexit bot die EU London umgehend an, einen „begründeten Antrag“ auf Verschiebung des Austrittsdatums am 29. März zu prüfen. Doch was würde das bringen? Wäre fast drei Jahre nach dem Brexit-Referendum ein Ende mit Schrecken nicht besser als ein Schrecken ohne Ende?

Nach Artikel 50 des EU-Vertrages müsste Großbritannien einen Antrag auf Verlängerung stellen. Die EU-Staats- und Regierungschefs der anderen 27 EU-Staaten müssten dann „einstimmig“ entscheiden, die Frist für den Brexit zu verlängern.

Die britische Premierministerin Theresa May hat bisher von einem möglichen Aufschub um bis zu drei Monate gesprochen. Eine Höchstdauer gibt es nach Artikel 50 nicht, auch eine mehrfache Verlängerung wäre möglich.

Verlängerung löst nicht die Probleme

Der EU-Vertrag nennt keine Bedingungen. „Wenn Großbritannien mehr Zeit braucht, dann werden wir uns dem natürlich nicht verweigern“, sagte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende Februar. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schränkte aber ein, er wolle einen Aufschub nur prüfen, wenn dieser „gerechtfertigt“ sei. Eine Verlängerung an sich löse „nicht die Probleme, denen wir uns gegenüber stehen“, sagte auch May am Dienstagabend.

Nach dem erneuten Scheitern des Brexit-Abkommens im britischen Parlament sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Handlungsspielraum schwinden. „Es bleibt natürlich unser Ziel, dass es einen geordneten Austritt Großbritanniens gibt, aber durch den gestrigen Tag sind die Optionen natürlich geringer geworden“, sagte Merkel am Mittwoch in Berlin. „Jetzt ist es an der britischen Seite erst einmal festzulegen, ob man überhaupt ein Abkommen möchte oder ohne Abkommen austreten möchte.“

Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger rechnet damit, dass Großbritannien den Austritt aus der EU verschieben will. „Dann werden wir sehen, welche Gründe dafür angegeben werden, und die werden wir wohlwollend prüfen“, sagte Oettinger dpa.

Oettinger zeigte sich optimistisch, dass es mit Hilfe einer Fristverlängerung noch zu einem Abkommen zwischen London und Brüssel kommt. „Es gibt in jedem Parlament Bewegung, auch im britischen Unterhaus.“ Er habe zudem den Eindruck, dass immer mehr Briten bewusst werde, welchen „grandiosen Schaden“ der EU-Austritt in Großbritannien verursachen könne. „Das könnte noch für Überraschungen sorgen im britischen Parlament.“

Weniger wohlwollend klang die Reaktion auf die Ablehnung des Brexit-Abkommens aus Paris. „Frankreich bedauert die heutige Abstimmung“, hieß es in einer Mitteilung des Präsidentenpalasts am Dienstagabend. Man könne nun aber „unter keinen Umständen“ eine Verlängerung des Verhandlungszeitraums ohne eine alternative, glaubwürdige Strategie Großbritanniens akzeptieren.

Welche Gründe für einen Aufschub wären möglich?

May könnte auf eine dritte Abstimmung über den Austrittsvertrag setzen und dafür um mehr Zeit bitten. Angesichts von bereits zwei fehlgeschlagenen Versuchen scheint das aber wenig überzeugend.

Die oppositionelle Labour-Partei forderte am Dienstagabend erneut ein zweites Referendum. Partei-Chef Jeremy Corbyn stellte zudem in den Raum, ob es jetzt nicht Zeit für Neuwahlen sei.

Drei Monate würden nicht reichen

Experten schätzen den nötigen Vorlauf für eine erneute Volksbefragung zum Brexit auf fünf bis sechs Monate. Neuwahlen könnten wohl schneller stattfinden. Aber auch hier ist fraglich, ob sich unter einer neuen Regierung das Brexit-Problem tatsächlich so schnell lösen lässt.

Wegen der Europawahlen, die vom 23. bis zum 26. Mai stattfinden wäre eine längere Verschiebung kritisch. Großbritannien wäre dann verpflichtet, seinerseits Wahlen zum EU-Parlament abzuhalten. Damit fiele dessen geplante Verkleinerung von 751 auf 705 Sitze vorerst aus.

Für viele EU-Vertreter ist es problematisch, dass Abgeordnete eines Landes, das eigentlich austreten will, dann den neuen Präsidenten der EU-Kommission mitwählen. Als maximal mögliche Verlängerung ohne EU-Wahl in Großbritannien gilt die Zeit bis Ende Juni, weil Anfang Juli das neue Europaparlament erstmals tagt.

Mancher in Brüssel glaubt, dass die Briten eine längere „Denkpause“ brauchen, um herauszufinden, was sie eigentlich wollen. Ein „logisches“ Enddatum der britischen Mitgliedschaft wäre dann der 31. Dezember 2020, sagt ein EU-Diplomat. Denn dann endet der mehrjährige EU-Finanzrahmen, den London noch mitbeschlossen hatte. Die britische Politik hätte dann nochmals 21 Monate, die umstrittenen Austrittsfragen zu klären.

Was würde ein No-Deal-Brexit bedeuten?

Zum 29. März würden Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft schlagartig gekappt, was weitreichende Folgen für Wirtschaft und Bürger hätte. Auch zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland wären wieder Grenzkontrollen nötig, um deren Verhinderung sich der Brexit-Streit in den vergangenen Monaten vor allem drehte.

Beide Seiten könnten die schlimmsten Folgen eines No-Deal-Szenarios lediglich über Notvereinbarungen abfedern. Die EU-Kommission hat dazu 14 Bereiche identifiziert, darunter Zoll- und Handelsbestimmungen sowie den Luftverkehr. Britischen Bürgern sicherte Brüssel zudem zu, dass sie ihr Aufenthaltsrecht auf dem Kontinent behalten würden – vorausgesetzt dies gilt auch für EU-Bürger in Großbritannien.

In der Wirtschaft wächst die Sorge. „Alleine die anhaltende Unsicherheit ist verheerend für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen“, betonte der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Holger Bingmann.

Knapp drei Wochen vor dem möglichen EU-Austritt seien grundlegende Fragen zu Zolldokumenten oder Produktregistrierungen offen. Immer mehr Unternehmen schlössen daher keine langfristigen Lieferverträge mehr ab. Importeure suchten längst nach alternativen Bezugsquellen, um den möglichen Ausfall britischer Lieferanten kompensieren zu können. „Diese Hängepartie kennt keine Sieger“, betonte Bingmann.

Lambsdorff: Brexit-Aufschub nur bei zweitem Referendum

FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff hält eine Aufschub beim Brexit für die Briten nur bei einem zweiten Referendum für möglich. „Jetzt müssen die Briten entscheiden No Deal oder doch Deal. Das ist ja die Abstimmung heute. Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, dass sie sagen, wir wollen keinen No Deal“, sagte der FDP-Politiker am Mittwoch dem Fernsehsender „Welt“.

Das sei deswegen komisch, weil die Abgeordneten im britischen Unterhaus den Deal gerade erst abgelehnt hätten. „Und morgen werden sie dann sagen, dass sie eine Verlängerung wollen“, so Lambsdorff. Aus europäischer Sicht sage er aber ganz klar: „Das geht nur, wenn sie auch gleichzeitig sagen, es gibt ein zweites Referendum.“ (afp/dts/cs)



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