Schwache Volksparteien, starke „Populisten“ – Thüringen ist überall

Unter dem Eindruck der Ereignisse von Thüringen lässt der Blick auf andere Länder Europas ähnliche Konstellationen wie im Freistaat erkennen. In mehreren Ländern waren Populisten auch an Regierungen beteiligt – mit unterschiedlichem Erfolg.
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Starker Mann der Populisten: Matteo Salvini, ehemaliger Innenminister von Italien, wird von Anhängern der Lega gefeiert.Foto: Simone Arveda/ANSA/AP/dpa
Von 12. Februar 2020

„Thüringen ist überall“, schreibt ein Team aus vier Redakteuren, das in der „Welt“ die Entwicklungen in mehreren Ländern Europas analysiert hat. Sie sehen die Ereignisse im Freistaat, wo Linkspartei und AfD zusammen die Mehrheit der Abgeordneten stellen, als Ausdruck eines „Muster[s], das sich in vielen anderen europäischen Ländern zeigt – und teils schon zu einem kompletten Zerfall der dortigen Parteienlandschaft geführt hat“.

Der Trend zeige sich seit mindestens einem Jahrzehnt: Das Schrumpfen langjähriger Volksparteien wird vom Aufstieg neuer Bewegungen begleitet, meist populistisch und vom linken oder rechten Rand. Die Folgen: „Lähmende große Koalitionen in der Mitte, verpönte Bündnisse mit den Populisten – und mancherorts die komplette Implosion des Parteiensystems.“

Allein in den vergangenen Monaten habe sich dieser Trend in fünf Ländern gezeigt, die bereits vor dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa der EU angehört hatten.

In Spanien sei aus einem Zwei-Parteien-System nach dem Ende der Ära Franco – das neben Sozialisten und konservativer Volkspartei (PP) lediglich einige kleinere Regionalparteien kannte – eines aus fünf Parteien geworden. Neben den liberalen Ciudadanos konnten sich das linkspopulistische Bündnis „Podemos“ und rechts die nationalkonservative Partei „Vox“ etablieren.

Die ehemaligen Großparteien setzten vieles daran, Koalitionen mit den Rändern zu verhindern – eine Große Koalition wollten sie jedoch auch nicht bilden. Trotzdem rutschten sie auf mittlerweile gemeinsam weniger als 50 Prozent im Parlament ab, während Links- und Rechtspopulisten zusammen schon auf 27 Prozent kommen.

Italien war das erste EU-Land mit Rechten an der Regierung

Auf Gesamtstaatsebene hat sich der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sanchez nun dazu bewegen lassen, Podemos mit in die Regierung aufzunehmen. Dagegen lässt sich in der Region Andalusien eine konservativ-liberale Minderheitsregierung seit Anfang des Vorjahres von Vox tolerieren.

In Schweden haben die rechtsgerichteten Schwedendemokraten (SD) bei den Parlamentswahlen des Jahres 2018 mit fast 18 Prozent ein Ergebnis erzielt, das zur Folge hatte, dass weder eine linke noch eine bürgerliche Mehrheit gebildet werden konnte. Konservativen-Chef Ulf Kristersson wollte den Gordischen Knoten brechen, indem er ein Tolerierungsmodell mit der Rechten anstrebte. Dies scheiterte am Widerstand anderer bürgerlicher Parteien. Mittlerweile gibt es eine Koalition aus Zentrum, Liberale, Grüne und Sozialdemokraten – von deren durch ihre Heterogenität bedingter Ineffizienz die SD weiter profitieren könnten.

Italien war das erste Land in der EU, in dem eine zuvor als „unberührbar“ geltende Rechtspartei an der Regierung beteiligt wurde. Anfang der 1990er Jahre begann in einer Welle von Korruptionsskandalen das etablierte Parteiensystem zusammenzustürzen. Neben den Kommunisten profitierte auch der neofaschistische MSI von dieser Entwicklung, dessen Parteichef Gianfranco Fini bei den Bürgermeisterwahlen in Rom 1993 in die Stichwahl kam.

Da dem „schwarzen“ MSI, der sich immer noch offiziell auf das Erbe der „Republik von Salo“ der Jahre 1943-45 bezog, allein aber keine landesweiten Mehrheitschancen zugebilligt wurden, entschloss sich Medienmogul und Milliardär Silvio Berlusconi, die Bewegung „Forza Italia“ zu gründen, die das Erbe der zerfallenden Christdemokraten antreten sollte. Fini wandelte die Schwarzhemden-Partei MSI derweil in die rechtskonservative „Alleanza Nazionale“ um und zusammen mit der damals noch separatistischen Lega Nord von Umberto Bossi gelang es Berlusconi, über längere Zeit hinweg eine heterogene Mitte-Rechts-Koalition am Ruder zu halten.

Frankreich: Macron schwächer als das Ergebnis von 2017 vermuten lässt

Mittlerweile hat das politische Spektrum in Italien – auch bedingt durch Wahlrechtsreformen, die neue Bündnisstrukturen mit sich brachten – abermals eine völlig veränderte Gestalt angenommen. Die „Forza Italia“ erschien als verbraucht, die Alleanza Nazionale durchlebte mehrere Spaltungen, ehe sich mit den Fratelli d`Italia wieder eine stabile Rechtspartei festigen konnte. Die Euro-Krise und die Flüchtlingsbewegungen ließen die linkspopulistische „Fünf Sterne“-Bewegung aufsteigen und die zuvor schwächelnde Lega konnte mit Matteo Salvini an der Spitze wieder Anschluss an die politische Spitzengruppe finden.

Im Jahr 2018 erzielten beide populistische Lager zusammen eine deutliche absolute Parlamentsmehrheit. Ihr Versuch, gemeinsam einen Modus Vivendi zu finden, scheiterte ein Jahr später. Seither hält sich „Fünf Sterne“ in einer Zweckallianz mit den ihr zuvor verhassten Sozialisten am Leben, während Salvini nichts unversucht lässt, um vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen. Eine Rückkehr der Mitte ist immer noch nicht absehbar.

In Frankreich hat Emmanuel Macron mit seiner Bewegung „En Marche“ die im Niedergang befindlichen Traditionsparteien weitgehend ersetzt und eine neue Mitte aus dem Boden gestampft. Dank des Mehrheitswahlrechts konnte er die Stichwahl um das Präsidentenamt und die Parlamentswahlen 2017 überlegen gewinnen.

Dennoch ist seine Position schwächer als es auf den ersten Blick erscheint. Im ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl hatte er als stärkster Einzelkandidat nur 24 Prozent der Stimmen für sich verbuchen können. Mit 21,3 Prozent lag Marine Le Pen vom damaligen Front National auf Platz 2, weitere fast 20 Prozent erzielte der Linksextreme Jean-Luc Mélenchon, der damit nur knapp hinter dem konservativen Kandidaten Francois Fillon landete.

Niederlande: Bündnisse mit rechten und religiösen Parteien immer wahrscheinlicher

Mittlerweile hat die traditionelle Rechte weiter an Boden verloren und mehrere ihrer Spitzenpolitiker wechselten ins Lager von Le Pen, die den alten Front National in den Rassemblement National (RN) überführte, der als moderater und anschlussfähiger gilt. Macron hingegen hat sich vor allem auf der äußersten Linken Feinde gemacht, weshalb er auch von deren Seite unter Druck geraten könnte.

Die „Welt“ erwähnt in ihrer Analyse auch die Situation in den Niederlanden, wo das extreme Verhältniswahlrecht traditionell kaum Mehrheiten abseits heterogener Mehrparteienbündnisse zulässt. Derzeit sind dort 13 Parteien in der Zweiten Kammer vertreten, stärkste Partei wurde 2017 die rechtsliberale VVD mit gerade einmal 21,3 Prozent.

Bereits 2010 gab es eine kurzlebige Minderheitsregierung aus VVD und Christdemokraten, die von der islamfeindlichen PVV unter Geert Wilders toleriert wurde. Mittlerweile haben die traditionellen Parteien weiter an Boden verloren und neben der Migrationspolitik verursachen auch Premier Mark Ruttes Akzente in Fragen wie EU oder „Klimaschutz“ immer breiteren Unmut.

Neben der PVV gibt es mit dem „Forum für Demokratie“ (FvD) eine weitere erfolgreiche Rechtspartei, zudem bieten sich vermehrt auch die zuvor an Bündnissen nicht interessierten calvinistischen Konfessionsparteien CU und SGP als mögliche Koalitionspartner an. Die VVD versucht derweil, durch eine härtere Gangart in der Migrationspolitik Verluste zu minimieren. In der Provinz Noord-Brabant verhandeln Liberale, Christdemokraten und FvD sogar über eine Koalition.

Österreich: FPÖ ging aus jeder Regierungsbeteiligung geschwächt hervor

Sieht man von Italien ab, das noch nie als Hort dauerhafter politischer Stabilität bekannt war, war Österreich jenes Land, in dem sich bereits in den 1980er Jahren jene Tendenzen abzeichneten, die heute offenbar in ganz Europa zum Tragen kommen.

Nachdem die SPÖ 1983 ihre absolute Mehrheit verloren hatte und die Wahl Jörg Haiders an die Stelle des liberalen FPÖ-Chefs Norbert Steger die Koalition zum Platzen brachte, begann die nun in Richtung Rechtspopulismus drehende Freiheitliche Partei, erst die ÖVP und später auch die Sozialdemokraten in die Defensive zu treiben. Die Großparteien flüchteten sich in eine Große Koalition, welche sie beide schwächer und die FPÖ noch stärker machte – ehe Wolfgang Schüssel sich im Jahr 2000 trotz seines Absturzes bei den Nationalratswahlen 1999 bereit erklärte, eine Koalition mit der Haider-Partei einzugehen.

Für die ÖVP lohnt sich das Wagnis. Das Bündnis arbeitete erfolgreich, jedoch erntete die Volkspartei als Kanzlerpartei die Lorbeeren. Haider wollte der Schwächung der FPÖ entgegenwirken, indem er die Regierung auf dem Wege des „Knittelfeld-Treffens“ 2002 platzen ließ. Bei den dadurch erzwungenen Neuwahlen konnte die ÖVP fast 14 Prozent zulegen, während die FPÖ stark geschwächt daraus hervorging. Die Neuauflage von Schwarz-Blau endete gar mit der Spaltung der rechtspopulistischen Partei – allerdings fand sich die ÖVP erneut in der Rolle des Juniorpartners in einer Großen Koalition wieder. 

Untergang der Demokratie lässt weiter auf sich warten

Nun ging das Spiel von vorne los – allerdings begann nach der Übernahme der ÖVP durch den prononciert konservativ auftretenden Sebastian Kurz die Neuauflage des Bündnisses mit der FPÖ 2017 als Liebesheirat. Der Rückhalt für die Koalition in der Bevölkerung war von Beginn an höher und die Zusammenarbeit gestaltete sich reibungsloser als noch 2000 bis 2006. Auch die FPÖ konnte unter der Führung von Heinz-Christian Strache, der selbst als Vizekanzler in die Regierung ging, ihre Position in der Wählergunst halten. Erst die „Ibiza“-Affäre beendete die Koalition vorzeitig.

Klammert man Fälle wie Ungarn und Polen aus, wo Parteien, die nach hiesiger Lesart als „radikal“ oder „rechtspopulistisch“ gelten, sogar über eigene Parlamentsmehrheiten verfügen, gibt es auch aus weiteren europäischen Ländern – von Norwegen über Dänemark bis hin zu Tschechien, Rumänien, der Slowakei oder Griechenland – Beispiele für politische Bündnisse mit links- oder rechtspopulistischen Bestrebungen oder sogar von beiden zusammen. In der Schweiz ist die SVP sogar kraft der dort geltenden „Zauberformel“ automatisch mit in der Regierung. Diese erwiesen sich mal als dauerhafter, mal als weniger dauerhaft, mal als erfolgreicher oder weniger erfolgreich, in einigen Fällen stabilisierten sie die Populisten, in der Mehrzahl davon schadeten sie ihnen jedoch.

Ein Untergang der Demokratie war bislang noch in keinem der Länder, in denen es zu Kooperationen mit den entsprechenden Parteien gekommen war, festzustellen.



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