Analyse: Rousseff muss packen

Als eine der letzten Handlungen unterzeichnete Rousseff ein Dekret, das den Abschuss verdächtiger Flugzeuge während der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro regelt. Eröffnen wird sie die Spiele nicht mehr.
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Rousseff war zuletzt eine Präsidentin ohne Fortune, mitunter aufbrausend, mit weniger Volksnähe und Charisma als ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva.Foto: Fernando Bizerra Jr./Archiv/dpa
Epoch Times12. Mai 2016
Dilma Rousseff hat ihre Bücher eingepackt, auch die Bilder ihrer Tochter und der zwei Enkel. Sie wusste, es ist erstmal vorbei, als der Senat zu seiner Marathonsitzung zusammentrat. Nach rund 17 Stunden ist klar: Die Mehrheit für ihre Suspendierung steht.

Zwar muss abgewartet werden, bis alle Senatoren ihre 15-minütigen Begründungen abgegeben haben und eine elektronische Abstimmung alles offiziell besiegelt. Aber Rousseff hat den Auszug schon organisiert.

180 Tage sollen nun Vorwürfe gegen sie wie die Beschönigung der Haushaltslage geprüft werden, dann wird die endgültige Amtsenthebung entschieden. Nach mehr als fünf Jahren muss Rousseff erstmal die Macht abgeben, während nur drei Kilometer entfernt im Palácio do Jaburu Widersacher Michel Temer (75) das neue Kabinett, den Neustart für Brasilien plant. Aus São Paulo war seine erst 32-Jährige Frau mit dem Sohn Michel angereist.

Als eine der letzten Handlungen unterzeichnete Rousseff ein Dekret, das den Abschuss verdächtiger Flugzeuge während der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro regelt. Eröffnen wird sie die Spiele nicht mehr. Das darf nun Temer, seine Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) hatte mit der linken Arbeiterpartei nach 13 Jahren Koalition gebrochen – der bisherige Vizepräsident Temer stürzt Rousseff.

Der Mitte-Politiker wird nun im Palácio Planalto einziehen. Soll Rousseff die Rampe zum Auszug runtergehen? Bloß nicht, soll Amtsvorgänger Luiz Inácio Lula da Silva geraten haben. Die Rampe hoch zum von Oscar Niemeyer gebauten Planalto-Palast sind schon Dutzende Staats- und Regierungschefs gegangen, um oben von ihr begrüßt zu werden. Wenn sie nun zum Auszug diese Rampe herunterschreiten würde, könnte es so aussehen wie ein Abschied für immer. Lieber ein Auszug durch einen anderen Ausgang. Denn sie gibt sich noch nicht geschlagen. Vorerst weicht sie nur für 180 Tage. Für ihr endgültiges Aus braucht es im Senat nicht wie jetzt die einfache, sondern dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Wird die verfehlt, kehrt sie zurück.

Die frühere Guerillakämpferin, die während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren den Folterkeller überstand und auch den Krebs besiegt hat, ist eine Kämpferin, die es den „Verrätern“, wie sie sagt, zeigen will. Zusammen mit Lula. Sie wollen noch nicht an das Ende einer Ära glauben, an das linke Projekt der Arbeiterpartei: Mit Hilfe üppiger Sozialprogramme wurden 40 Millionen Brasilianer aus der Armut geholt.

Von 2004 bis 2011 wuchs die Wirtschaft im Schnitt um 4,9 Prozent, auch dank sprudelnder Öleinnahmen und des Agrarsektors. Doch aus dem Boom- ist ein Frustland geworden. Unter Rousseffs Ägide ist die bislang siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt in eine der tiefsten Rezessionen ihrer Geschichte gerutscht. 11 Millionen Menschen sind arbeitslos, die Geschäfte oft leer, der Konsum eingebrochen. Aber noch größer ist fast der Frust über die politische Klasse. Es gab ein bizarres Gezerre um Rousseff, statt die Krise zu bekämpfen.

Immerhin ist es eine ernsthaftere Senatsdebatte als die zirkusreife Abstimmung im Abgeordnetenhaus, als ein Abgeordneter den Abgesang auf Rousseff mit dem Zünden einer Konfettirakete krönte. Es geht um Rousseffs mögliche Verfehlungen wie Tricksereien beim Haushalt – und den wirtschaftlichen Absturz. Ein besonderer Moment ist nach 12 Stunden Sitzung der Auftritt von Fernando Collor de Mello. Heute Senator, wurde er 1992 so wie nun Rousseff als Präsident suspendiert.

Damals ging es um Korruption – am Ende trat er von sich aus zurück. Er verurteilt nun die Regierung als ein Desaster, aber gegen ihn wird auch heute wieder wegen Korruption ermittelt, drei Luxuswagen wurden beschlagnahmt. Gegen 60 Prozent der Senatoren laufen Ermittlungen.

Temer und seine Truppe müssen nun zeigen, ob sie es besser können. Er will viel Staatsbesitz privatisieren lassen. Sein Aushängeschild ist der an den Finanzmärkten viel Vertrauen genießende designierte Wirtschafts- und Finanzminister und frühere Zentralbank-Chef Henrique Meirelles. Doch bei einer Neuwahl käme Temer nur auf 1 bis 2 Prozent.

Er gilt als wendig, aber seine PMDB als nicht minder korrupt. Dass er mit dem bisherigen Senator Blairo Maggio einen weltweit führenden Sojaproduzenten zum neuen Agrarminister machen will, lässt Umweltschützer Böses ahnen – sie fürchten eine Aufhebung des Schutzes für Regenwaldgebiete. „Das Zepter übernehmen die Anhänger einer Wachstumsideologie ohne Augenmaß“, meint Roberto Maldonado vom WWF.

Und was kommt noch an Enthüllungen über ein während Lulas Amtszeit entstandenes Korruptionsnetz rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras? Muss auch Temer Ungemach fürchten? Das Volk lernte zuletzt im Zuge der Aufräumarbeiten der Justiz interessante, bisher auf der Hinterbank agierende Volksvertreter kennen. Nachdem Parlamentschef Eduardo Cunha wegen Behinderung von Korruptionsermittlungen gegen ihn (es geht um fünf Millionen US-Dollar Schmiergeld) vom Obersten Gerichtshof abgesetzt wurde, übernahm den Posten Waldir Maranhão.

Auf seiner Facebook-Seite verkündete er völlig überraschend die Annullierung der Parlamentsabstimmung über die Absetzung Rousseffs, die Voraussetzung für das Senatsvotum war. Nachdem ihn seine Partei rauswerfen wollte, erklärte er die Annullierung der Annullierung.

Er soll als Interimspräsident nun auch abgesetzt werden. Als sein Nachfolger ist ein Abgeordneter im Gespräch, der dadurch aufgefallen ist, dass er eine Lotterie 12 Mal in 14 Tagen gewann und 134 000 Reais (33 600 Euro) einstrich. Nur eines ist derzeit klar: Ruhe und Langeweile wird in Brasiliens Politik so schnell nicht einkehren.

(dpa)

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