Chaos um Brexit und Neuwahlen: Wird es in Schottland ein zweites Referendum geben?

Während Großbritanniens Premierminister Boris Johnson versucht, nach den Wirren um ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit Neuwahlen zu erreichen, die am 15. Oktober stattfinden sollen, wächst in Schottland der Unmut über die Aussicht auf ausbleibende EU-Fördermittel. Der Ruf nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum wird lauter.
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Es mehren sich die Anzeichen, dass es in Schottland ein neuerliches Referendum über die Unabhängigkeit des Landes geben könnte. Ein Bild aus Glasgow, 31. August 2019.Foto: ANDY BUCHANAN/AFP/Getty Images
Von 5. September 2019

Gegner des Brexits, insbesondere jene in deutschen Medien, haben die jüngste Entscheidung der britischen Abgeordneten über einen Gesetzentwurf, der einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen verhindern soll, als Signal der Hoffnung gedeutet.

Labour sperrt sich nach wie vor gegen Neuwahlen

Am Dienstag (3.9.) stimmten 327 Abgeordnete für den entsprechenden Gesetzentwurf und 299 dagegen. Die entscheidenden Stimmen kamen von 21 Abgeordneten der Konservativen Partei, die sich durch diese gezielte Konfrontation mit Parteichef und Premierminister Boris Johnson den Entzug ihres „Whips“ einhandelten. Sie dürfen nun bei der nächsten Wahl in keinem Stimmkreis mehr für die Torys antreten.

Ob die Abgeordneten mit ihrem Entwurf einen „harten“ Brexit am 31. Oktober noch verhindern können, ist ungewiss. Die Gesetzesvorlage muss erst einmal vor das House of Lords, das Oberhaus, das bis zum Wochenende, an dem die Parlamentspause beginnt, darüber beraten muss. Allerdings nicht nur darüber: Auch die Befürworter des Brexits hatten Gesetzesentwürfe für das Oberhaus vorbereitet, das nun nicht weniger als 102 Vorlagen auf dem Tisch hat, die dieses zweimal debattieren und über die es beschließen muss, bevor sie zurück an das Unterhaus gehen können.

Nun soll nach einem Kompromiss zwischen Johnson und den Gegnern eines harten Brexits die Vorlage bis Freitagabend an das Unterhaus zurückgereicht werden. Gleichzeitig setzt Johnson die oppositionelle Labour-Partei unter Druck, den Weg für Neuwahlen freizumachen. Bislang zieren sich die Sozialisten noch, was auch mit dem Umstand zu tun haben könnte, dass die Konservativen nach der Übernahme des Vorsitzes durch Johnson einen 14-Punkte-Vorsprung in Umfragen aufweisen.

Farage sagt Johnson Unterstützung bei „sauberem Brexit“ zu

Allerdings hieß es vonseiten Labours, man werde Neuwahlen nicht blockieren, wenn sichergestellt sei, dass Großbritannien nicht während des Wahlkampfes per No-Deal-Brexit die EU verlässt. Sollte der nunmehrige No-Deal-Brexitentwurf Gesetz werden, könnte Johnson die Opposition auf diese Aussage festnageln. Die letzte Chance für eine Brexit-Vereinbarung mit Brüssel wäre der EU-Gipfel am 17. Oktober.

Unterdessen hat am Donnerstagmorgen der Vorsitzende der Brexit Party, Nigel Farage, Johnson einen Nichtangriffspakt für den Fall von Neuwahlen angeboten, sollte dieser „einen sauberen Brexit“ durchziehen. Gegenüber BBC erklärte Farage:

Wenn man den Rückhalt für die Konservative Partei und die Brexit Party zusammenlegt, ist es so, dass wir in einer Neuwahl nicht aufgehalten werden könnten.“

Unterdessen mehren sich die Anzeichen, dass es in Schottland ein neuerliches Referendum über die Unabhängigkeit des Landes geben könnte. Im Jahr 2014 war eine entsprechende Vorlage im Plebiszit gescheitert. Der Brexit hat jedoch der schottischen Unabhängigkeitsbewegung neuerlichen Auftrieb verliehen.

Schottland, dessen politische Führung vielfach unzureichenden Einfluss in der Regierung in London beklagt und das zu den Nettoempfängern von EU-Strukturmitteln zählt, hatte 2016 mit deutlicher Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Erst recht sorgt nun die Möglichkeit eines No-Deal-Brexits für Unmut. Schottland hätte daraus eine Vielzahl an Nachteilen zu befürchten.

Schottland könnte infolge des Brexits „2025 oder 2030 unabhängig sein“

Mittlerweile erklärt, wie CBS News berichtet, selbst der 2014 als erbitterter Gegner einer schottischen Unabhängigkeit in Erscheinung getretene Chef des Think-Tanks „Reform Scotland“, Chris Deerin, er sei bezüglich eines neuerlichen Anlaufs zwar „noch nicht an dem Punkt, dass ich mit Ja stimmen würde“. Aber es sei „definitiv nicht undenkbar“. Auch unter einst bekennenden Unabhängigkeitsgegnern in seinem Bekanntenkreis seien mittlerweile viele „für Diskussionen offen“.

Seine Einschätzung:

Sollte Schottland 2025 oder 2030 unabhängig sein, dann wäre das ganz sicher in erster Linie eine Folge des Brexits.“

Die Regierung in London hat eine solche Option mehrfach ausgeschlossen. Nun hat der Fraktionschef der linksnationalistischen „Schottischen Nationalpartei“ (SNP), Ian Blackford, Premierminister Johnson gar als „Diktator“ beschimpf, weil dieser Schottland „gegen dessen Willen“ aus der EU ziehen wolle.

In den sozialen Medien stieß diese Äußerung auf Missbilligung. Eine Vielzahl an Twitter-Nutzern wies darauf hin, dass sowohl der schottische Verbleib in Großbritannien als auch die britische Entscheidung, aus der EU auszutreten, direktdemokratischen Entscheidungen folgte. Der „Express“ zitiert einen Nutzer, der erklärte:

Was ist Ian Blackford nur für ein arroganter Depp. Schottland hat 2014 mit 55,3 zu 44,7 Prozent gegen die Unabhängigkeit gestimmt, bei einer Wahlbeteiligung von 84,6 Prozent. Auch das EU-Referendum hat eine Mehrheit gebracht, in dem Fall für das Verlassen der EU. Welche Form von Demokratie unterstützt dieser Mann?“

EU als Wahrerin nationaler Selbstbestimmung?

Dennoch bestätigen auch Umfragen, dass der Anteil der Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit in diesem Teil des Vereinigten Königreiches seit dem Brexit deutlich zugenommen hat. Deerin begründet dies im „New Statesman“ mit dem Umstand, dass der Austritt aus der EU die Gestaltungsrechte der Schotten innerhalb des UK beeinträchtigen würde:

„Mehr als um Fragen wirtschaftlicher Unterstützung, Währung und Schulden geht es um die Basis der nationalen Identität und des Selbstwertgefühls. Genau deshalb wurde das schottische Parlament auch vor 20 Jahren gegründet – um das demokratische Defizit zu überwinden, das nach den Thatcher-Jahren geherrscht hatte.“

Die EU als Wahrerin der nationalen Souveränität und Mitbestimmung – diese Sichtweise dürfte nicht nur in anderen Ländern des Vereinigten Königreichs, sondern auch in Kontinentaleuropa nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Für diejenigen Schotten, die sich jedoch vor allem von London gegängelt fühlen, was auch auf historische Befindlichkeiten zurückgeht, ist Brüssel hingegen ein wohlwollender Hegemon, der ab und an Hilfsgelder fließen lässt und ansonsten weit entfernt ist.



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