Russland und der tiefe Staat: Wollen Kommunisten und Nationalisten Putin unterminieren?

Nicht nur Donald Trump ist in den USA mit Akteuren innerhalb der staatlichen Behörden konfrontiert, die gezielt seine Agenda untergraben. Auch in Russland existieren tiefe Strukturen im Staatsapparat, deren Einfluss infolge der Feindbildpflege in unseren Breiten kaum Beachtung findet.
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Der Kreml in Moskau.Foto: iStock
Von 21. September 2018

Die Debatte um tiefe Strukturen innerhalb staatlicher Bürokratien, die unabhängig vom Wählerwillen eine eigene Agenda verfolgten und bereit seien, diese notfalls auch gegen gewählte Amtsträger durchzusetzen, ist verhältnismäßig jung. 

Sie zu führen ist regelmäßig ein heikles Unterfangen. Das hat mehrere Gründe. Die Hypothesen und Argumente in diesem Bereich gleiten tatsächlich schnell ins Spekulative ab. Insbesondere mit Blick auf westliche Demokratien, die ihrem Selbstverständnis gemäß die Existenz nicht legitimierter Seilschaften im Staatsinneren kategorisch zurückweisen müssen, ist man mit dem Vorwurf des Verschwörungsdenkens schnell bei der Hand.

Allenfalls in labilen oder gefährdeten westlichen Staaten bekannten sich Eliten offen dazu, sich notfalls eine Korrektur unerwünschter Entscheidungen in demokratischen Abstimmungsprozessen vorzubehalten. So etwa in der Türkei, wo das Militär als selbsternannter Wächter der kemalistischen Prinzipien mehrmals mit den Mitteln des Putsches oder einer glaubhaften Androhung eines solchen auf die Willensbildung Einfluss nahm. Zudem unterwarf man eigene Offiziere einer strengen sozialen Kontrolle – beispielsweise mit Blick darauf, ob der Betreffende Alkohol konsumiere oder Gebete verrichte. Den kemalistischen „tiefen Staat“ soll Erdoğan später mithilfe tiefer Strukturen des Gülen-Netzwerks entthront haben – bis dieses ihm selbst gefährlich wurde.

Die restriktive Offenlegung von Akten im Zusammenhang mit der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy und die Enthüllung der Existenz des Stay-Behind-Netzwerkes „Gladio“, das die NATO in der Anfangsphase des Kalten Krieges in Westeuropa unterhalten hatte, beflügelten auch im Westen Fragen und Spekulationen über die Existenz eines „tiefen Staates“. In Deutschland gaben Skandale im Umfeld von Polizei- und Verfassungsschutzbehörden wie im Fall des NSU dazu Anlass. In den USA befinden wir uns mittlerweile inmitten einer „Deep State“-Debatte, seit Donald Trump das Präsidentenamt angetreten hat und Medien ihn tagtäglich angreifen – auch mithilfe von Leaks, die aus dem Staatsapparat selbst kommen.

Tiefe Strukturen würden nicht zum Bild des „Despoten“ passen

Ein Land, das von Debatten wie jenen um tiefe Strukturen im Staatsinneren bislang weitgehend verschont bleibt, ist unterdessen die Russische Föderation. Allenfalls spielt Russland im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in den USA eine Rolle: Für die einen als vermeintliche Schattenmacht, die aktiv daran gearbeitet habe, den Ausgang der Präsidentenwahl zu entscheiden, für die anderen als Sündenbock, der dem „tiefen Staat“ in Washington helfen soll, seine Kampagne zur Unterminierung des gewählten Präsidenten zu legitimieren.

Die Frage, ob es im heutigen Russland selbst tiefe Strukturen gäbe, die ihre eigene Agenda verfolgten und dabei nicht in jedem Fall bereit wären, dem Volkswillen Rechnung zu tragen, wird selten gestellt. Dies dürfte handfeste ideologische Gründe haben. Spätestens seit Anfang der 2010er Jahre haben die führenden politischen Kräfte und vor allem die Leitmedien Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin zum Feindbild erhoben.

Die autoritäre Ordnung in Russland schickte „Pussy Riot“ ins Arbeitslager statt sich deren feministische Religionskritik zu eigen zu machen. Sie unterbindet die Werbung für nicht traditionelles Sexualverhalten gegenüber Jugendlichen, statt „galaktischen Sex“ und Betriebskonzepte für Bordelle in Bildungspläne aufzunehmen. Somit war Russland fortan die verhasste Antithese zur bunten Vielfalt und Toleranz der liberalen westeuropäischen Demokratie. Wenn Europa seine Werte verteidigen will, so der Konsens, muss es dazu auf maximalen Konfrontationskurs gehen.

Aus dieser Perspektive kann eine tiefgreifende, differenzierte Analyse von Akteuren und Entscheidungssträngen in Russlands Staat und Gesellschaft nur stören. Der Narrativ der Russischen Föderation als Diktatur mit Putin als despotischem Alleinherrscher hat zur Konsequenz, davon ausgehen zu müssen, dass Putin selbst höchstpersönlich alles kontrolliere und steuere, was innerhalb des Landes und dort geschehe, wo russische Akteure weltweit auf den Plan treten.

Ob ein Journalist oder Politiker ermordet wird, der sich mit Gangstersyndikaten oder Terroristen angelegt hat, ob ein YouTube-Video zeigt, wie in irgendeiner Plattenbausiedlung ein Homosexueller verprügelt wird – alles wurde scheinbar von Putin persönlich angeordnet und in dessen Auftrag ausgeführt. Ein nationalistischer Ideologe, der seinen Lehrauftrag an einer staatlichen Universität verloren hatte, wird zum „wichtigsten Putin-Berater“. Jeder Wochenendkrieger, der in den Donbass an die Front reist wie einst im Jugoslawienkrieg österreichische Bundesheersoldaten aus den entsprechenden Einwanderercommunitys auf den Balkan, ist angeblich auf direkte Anordnung Putins dort. 

Warum die Russen nicht Nahles und Özdemir wählen

Die Russen als homogene Masse hinter dem allmächtigen Führer – dieses Bild ist zu nützlich, zu wichtig für die eigene große Erzählung, um genauer hinzusehen. Außerdem würde das Putin und die russische Führung unnötig humanisieren, vielleicht sogar Verständnis wecken. Am Ende könnte gar noch der Eindruck entstehen, auch das russische politische System, auch die russische Gesellschaft könnten komplexe Gebilde sein, die durch den Widerstreit konkurrierender Interessen gekennzeichnet wären.

Russland könnte so plötzlich als ein Land erscheinen, das nach 80 Jahren Totalitarismus und zehn Jahren Anarchie einfach vor der Herausforderung steht, mächtige Verbünde aus Kriminellen, politisch-ideologisch gesteuerten Akteuren oder früheren Apparatschiks in die Schranken zu weisen, die sich über die Jahre zusammengefunden hatten. Dabei könnte Russland manchmal erfolgreich agieren und manchmal nicht. Dies wiederum könnte bei dem einen oder anderen den Gedanken reifen lassen, Antworten, wie sie eine Andrea Nahles oder ein Cem Özdemir anzubieten hätten, könnten bei der Lösung der Probleme in Russlands Staat und Gesellschaft zu kurz greifen.

Auf der anderen Seite – auch in vielen deutschsprachigen Alternativmedien – neigt man dazu, Russland und seine politische Führung in gleicher Weise zu idealisieren wie es im westlichen Mainstream zum guten Ton gehört, sie zu dämonisieren. Dort werden dann nicht nur Russland selbst, sondern auch alle seine strategischen oder taktischen Verbündeten zu Lichtgestalten, die das Wesen des „US-Imperialismus“ durchschaut hätten und deshalb ins Visier seiner Ränkespiele gerieten.

Auf diese Weise wird dann plötzlich Baschar al-Assad gleichsam zur Reinkarnation des altrömischen Bonus Paterfamilias. Da werden Milizen aus Kommunisten, Ultranationalisten und Mafiosi im Donbass zu „antifaschistischen Freiheitskämpfern“ – ähnlich wie in der Gegenrichtung „Swoboda“ und „Rechter Sektor“ zu westlichen europäischen Demokraten. Da wird das Mullah-Regime im Iran zur „Anti-Terror-Macht“. Dass tatsächlich russische Militärs den Rebellen im Donbass Waffen zur Verfügung gestellt haben könnten und diese im Wege einer Fehleinschätzung ein Passagierflugzeug abgeschossen haben könnten – für diese Propagandisten undenkbar. Dass tatsächlich Angehörige des russischen Geheimdienstes nach Großbritannien gereist sein könnten, um sich am „Verräter“ Skripal zu rächen – ausgeschlossen.

Latakia-Affäre: Ministerium und Botschaft widersprechen offen Putin

Exakt diese eindimensionalen Betrachtungsweisen werden der Komplexität der realen Situation jedoch nicht gerecht. Dabei bedarf es keiner allzu großen Anstrengung, um zu erkennen, dass gerade Präsident Wladimir Putin alle Hände voll damit zu tun, die machtbewussten unterschiedlichsten Einflussgruppen davon abzuhalten, den Staat an sich zu reißen. Insbesondere aber kann von durchgehend straffen, autoritären Entscheidungsstrukturen von oben nach unten im russischen Staatsapparat keine Rede sein. Vielfach bestehen diese nur innerhalb der konkurrierenden Machtblöcke – aber nicht innerhalb der Institutionen als solcher.

Die jüngsten diplomatischen Verwicklungen rund um den Abschuss eines russischen Aufklärungsflugzeuges vor der syrischen Provinz Latakia zeigen beispielsweise, dass unterschiedliche Einrichtungen des russischen Staates durchaus nicht in jeder Hinsicht mit einer Stimme sprechen – wie man das eigentlich von einer autoritären Ordnung erwarten könnte.

Zu Beginn der Woche hatte Syriens Luftabwehr während eines Angriffs israelischer Kampfjets auf mutmaßliche Hisbollah-Waffenlager ein russisches Flugzeug abgeschossen, das zu der Zeit ebenfalls in der Luft war. Alle 15 Crewmitglieder starben.

Wladimir Putin hatte bereits am Dienstag nach einem Gespräch mit Premier Netanjahu bereits am Dienstag Israel von einer direkten Verantwortlichkeit für den Vorfall freigesprochen und diesen als Konsequenz einer „Kette tragischer Umstände“ bezeichnet. Israel hatte gleichzeitig volle Aufklärung versprochen und die Übermittlung der entsprechenden Dokumente.

Das Verteidigungsministerium, das Außenministerium und die russische Botschaft in Tel Aviv-Jaffa übten demgegenüber scharfe Kritik an Israel und machten in mehr oder minder deutlicher Weise Jerusalem für die Ereignisse verantwortlich. Die Botschaft sprach noch am Donnerstag, also zwei Tage nach Putins Erklärung, von „unverantwortlichen und unfreundlichen Aktionen“ der israelischen Luftwaffe. Das Außenministerium forderte „weitere Untersuchungen und Erklärungen“ zu einem Zeitpunkt, da der israelische Luftwaffengeneralmajor Amikam Norkim bereits nach Moskau unterwegs war, um die Dokumente zu überreichen.

Mit dem KGB gegen die Mafia

Auch ein Blick auf die russischen Staatsmedien im In- und Ausland weisen auf ein Maß an Inhomogenität innerhalb des russischen Staatsapparates hin, das nicht zu gängigen Darstellungen hiesiger Medien passt. Nicht nur, was das Niveau und die Qualität der Berichterstattung anbelangt, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen unterschiedlichen Publikationen. Auch sind zum Teil erheblich voneinander abweichende ideologische Prägungen festzustellen – teilweise sogar innerhalb ein- und derselben Mediengruppe.

Was beispielsweise die gehobene und moderat auftretende Plattform „Russia Beyond The Headlines“ historisch-dokumentarisch als Beispiel für holzschnittartige sowjetische Propaganda aus den Untiefen des Kalten Krieges präsentiert, lässt sich fast 1:1 als aktuelle und gängige Linie in manchen Redaktionen des Auslandssenders RT wiederfinden. Dass deren linksextreme Schlagseite nicht nur den Wahlergebnissen in Russland zuwiderläuft, wo die Kommunisten nur noch knapp über zehn Prozent kommen, sondern auch inhaltlich vielfach der Politik Putins widerspricht, ist keine Verwirrungstaktik des Kremls, sondern Folge der Pflege alter Seilschaften. 

Dass der alternde und von fortschreitender Alkoholsucht gezeichnete Boris Jelzin Ende der 1990er Jahre das darniederliegende Land an Wladimir Putin übergab, hatte mehrere Gründe. Ein wichtiger davon: Putin hatte als langjähriger KGB-Offizier Erfahrung und Kontakte innerhalb des mächtigen Apparates, der am Ende der Sowjetära 480 000 hauptamtliche Mitarbeiter und 12 Spezialeinheiten zählte.

Diese Organisation war nie aufgelöst worden – und die Erfahrungen der 1990er Jahre, als ausscheidende Beamte und Wissenschaftler aus dem Staatsdienst nur allzu gerne bereit waren, ihr Fachwissen ausländischen Akteuren oder Mafiabanden meistbietend zu verkaufen, ließen eine nachträgliche Abwicklung nicht als gefahrlos erscheinen.

Putin holte demgegenüber jene KGB-Akteure, zu denen er aus früheren Zeiten ein Vertrauensverhältnis gepflegt hatte, in die Regierungsetage, in die neuen Geheimdienste und in die Sicherheitsverwaltung. Eine der Hauptaufgaben war dabei, als einziges weiterhin funktionsfähiges Sicherheitsgremium der organisierten Kriminalität den Kampf anzusagen – und die alte KGB-Elite galt als einzige Macht, die in der Lage wäre, dieser Paroli zu bieten. Eine weitere bestand darin, die Oligarchen, die im Verbund mit den Mafiabanden das Land ausplünderten, zu einer konstruktiven Rolle für das Staatswesen zu bewegen.

Darüber hinaus waren auch die Kommunisten und ultranationalistische Kreise, unter anderem im Militär und in Spezialeinheiten des Innenministeriums, flächendeckend gut organisiert und hatten auf diese Weise neuen politischen Kräften etwas voraus. Wer in dem gigantischen Flächenstaat Russland politisch eine Vereinigung auf die Beine stellen will, muss entweder über reichlich Geld oder über eine flächendeckende Organisation verfügen. Putin, der mit der Partei „Einiges Russland“ eine Wahlplattform brauchte, um vor allem den Kommunisten etwas entgegensetzen zu können, musste also versuchen, die stärkste Interessensgruppen so weit wie möglich ins Staatsgefüge einzubinden.

Tiefe Strukturen sollten unter Kontrolle gebracht werden

Auf diese Weise war es aber unausweichlich, dass bestehende tiefe Strukturen, die zuvor außerhalb der staatlichen Einrichtungen agiert hatten – und dies nicht selten mit extralegalen Mitteln -, nun innerhalb der Institutionen präsent waren. Die große Chance für Putin bestand dabei darin, die gut organisierten Einflussgruppen dem Legalitätsprinzip und den Gesetzen zu unterwerfen. Das Risiko bestand stets darin, dass diese als Staat im Staat agieren könnten – notfalls an der Regierung und an Putin vorbei. Erfolge und Misserfolge hielten sich dabei offenbar die Waage.

Igor Yurgens, der frühere Chefberater des russischen Premierministers Dmitri Medwedew, geht deshalb auch davon aus, dass Vorfälle wie die mutmaßliche Vergiftung Sergej Skripals und seiner Tochter tatsächlich nicht von Putin autorisiert wurden. Er geht stattdessen davon aus, dass radikal-kommunistische Seilschaften des „tiefen Staates“ diese in Eigenregie durchgeführt hätten.

Im Gespräch mit dem US-Portal „Politico“ im Frühjahr dieses Jahres schloss Yurgens aus, dass Putin ausgerechnet so kurz vor Wahlen und der Fußball-WM im eigenen Land eine solche Tat gebilligt hätte, die Russland internationaler Empörung und weitreichenden Sanktionen aussetzen würde. Netzwerke von Alt-Bolschewiken und nationalistischen Ethnokommunisten, die beispielsweise Anspruch auf das gesamte Gebiet der Ukraine erheben, würden jede Form der Annäherung an den Westen vehement ablehnen. Um eine solche zu verhindern, würden sie sich notfalls auch Putin widersetzen.

Yurgens erklärte, dieser tiefe Staat bestehe aus früheren Offizieren der Armee und des Geheimdienstes, ehemaligen Diplomaten und Akteuren aus der Bevölkerung und den Institutionen, die eine Wiederherstellung der UdSSR anstreben und eine Neuauflage des Kalten Krieges als wünschenswert erachten. Um ihre Ziele zu erreichen, nähmen diese Kräfte auch eine Eskalation der Spannungen mit dem Westen in Kauf.

 



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