Türkei: Strafgesetz soll Partner minderjähriger Mütter künftig schonen – wenn sie diese heiraten 

Eine Chance für junge Familien – oder ein Freibrief für Vergewaltigung und Kindesmissbrauch? Eine aktuell diskutierter Gesetzesentwurf in der Türkei erregt die Gemüter. Es geht um die Väter von Kindern, deren Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung noch minderjährig war.
Titelbild
Junge muslimische Mutter mit ihren Kindern. Vor allem in ländlichen Gebieten der Ost- und Südosttürkei sind Schwangerschaften Minderjähriger noch häufig.Foto: AAREF WATAD/AFP via Getty Images
Von 3. Februar 2020

Einrichtungen der UNO, mehrere Nichtregierungsorganisationen und die links-kurdische „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) schlagen Alarm: Ein Gesetzesentwurf, der Ende Januar in die Große Nationalversammlung der Türkei in Ankara eingebracht worden ist, soll „ein Hinterland für die Straflosigkeit von Kindesmissbrauch“ schaffen und Vergewaltigungsopfer weiterer Drangsalierung vonseiten ihrer Peiniger aussetzen.

Die britische Zeitung „Independent“ schreibt unter Berufung auf Frauenrechtsgruppen von einem „Heirate deinen Vergewaltiger“-Gesetz, wie es solche auch in mehreren Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens, aber auch Pakistans und Afghanistans gäbe. Dieses würde Kinderehen legitimieren, Vergewaltigungen straflos machen und dem Kindesmissbrauch und der sexuellen Ausbeutung Tür und Tor öffnen. Bereits 2016 habe es einen ähnlichen Vorstoß gegeben, der es allerdings am Ende nicht zum Gesetz geschafft habe.

Fall „Marco W.“ zeigte: Türkei hat scharfe Gesetze gegen Kindesmissbrauch

Die seither auch in mehreren deutschsprachigen Publikationen kolportierte Nachricht, wonach die Türkei den Missbrauch von Kindern gleichsam zum Kavaliersdelikt erklären wolle, markiert eine auffällige Wende gegenüber dem Tenor der Berichterstattung über das türkische Sexualstrafrecht, wie diese noch im Jahr 2007 zu beobachten war.

Damals wurde der türkischen Justiz vorgeworfen, auf drakonische Weise sexuelle Kontakte unter Jugendlichen zu kriminalisieren. Hintergrund war, dass im April 2007 der 17-jährige deutsche Schüler Marco W. aus Uelzen von der türkischen Polizei verhaftet wurde, nachdem die Mutter einer 13-jährigen britischen Urlaubsbekanntschaft ihn wegen sexueller Kontakte zu ihrer Tochter angezeigt hatte. Erst nach knapp acht Monaten Untersuchungshaft und mehreren Interventionen von Politikern und Diplomaten wurde der 17-Jährige entlassen und konnte nach Deutschland zurückkehren.

Tatsächlich gehört das Sexualstrafrecht in der Türkei zu den strengsten in ganz Europa. Der einschlägige Artikel 103 des Strafgesetzbuches sieht für den sexuellen Missbrauch von Kindern eine Mindeststrafe von acht Jahren und eine Höchststrafe von 15 Jahren vor. Bereits der eindringlich geäußerte Wunsch danach kann mit drei bis acht Jahren Haft bestraft werden.

Was normiert der Artikel 104?

Dabei geht es in der Urform der Tathandlung um sexuell übergriffige Handlungen unterhalb der Schwelle eines vollendeten Geschlechtsverkehrs gegen eine Person bis zum vollendeten 15. Lebensjahr oder einer solchen, die dieses zwar überschritten hat, aber die Konsequenzen ihres Handelns nicht einsehen kann. Zudem fallen „sexuelle Verhaltensweisen“ gegen Kinder darunter, die mit Gewalt, Drohung, List oder anderen die Willensfreiheit einschränkenden Umständen verübt wurden.

Kommt es zum Geschlechtsverkehr mit dem Kind oder einer sonstigen Form der Penetration, beträgt die Mindeststrafe 16 Jahre. Unter Konstellationen wie einem Angriff als Teil einer Gruppe, Blutsverwandtschaft, Pflegschaft oder Betreuung wird selbst diese Mindeststrafandrohung noch einmal um die Hälfte erhöht.

Im Artikel 104 wird der sexuelle Missbrauch an Personen zwischen 15 und dem frühestmöglichen gesetzlichen Heiratsalter von 18 Jahren unter Strafe gestellt. Hier beträgt die Strafdrohung bei einvernehmlichen Akten immer noch zwei bis fünf Jahre – wobei es sich dabei um ein Antragsdelikt handelt. Im Fall eines Heiratsverbots etwa wegen Inzests handelt es sich um ein Offizialdelikt und die Strafdrohung liegt bei zehn bis 15 Jahren.

Verfassungsgerichtshof hob mehrere Gesetzesbestimmungen auf

Im Jahr 2016 hatte der Verfassungsgerichtshof beanstandet, dass es bezüglich dieser Bestimmungen über den Missbrauch von Kindern keine Differenzierung dahingehend gibt, ob der Tatverdächtige selbst noch ein Kind ist. In der Türkei gibt es kein eigenes Jugendstrafrecht und die Strafmündigkeit tritt mit vollendetem 12. Lebensjahr ein. Es gibt für Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr oder mit geistiger Behinderung lediglich in Artikel 31 bestimmte Einschränkungen bezüglich der Anwendung verschärfter Strafdrohungen oder der gesetzlichen Höchststrafe. Diese wurden 2005, dem Jahr des Beginns der Beitrittsverhandlungen zur EU, ins Strafgesetzbuch eingeführt, zuvor galt für alle Personen ab 12 Jahren in der Türkei im Wesentlichen Erwachsenenstrafrecht.

Um den Fall des Artikels 104 geht es nun im aktuellen Gesetzesentwurf, der von Abgeordneten der Regierungsparteien AKP und MHP, aber auch Teilen der systemischen Opposition aus Republikanischer Volkspartei (CHP) und „Gute Partei“ (IYI) mitgetragen wird. Personen, die den Geschlechtsverkehr mit einer Person zwischen 15 und 18 Jahren ohne Anwendung von Gewalt, Drohung oder List ausgeübt haben, sollen dann straffrei bleiben, wenn in weiterer Folge eine einvernehmliche Eheschließung erfolgt.

Das türkische Zivilgesetzbuch sieht die Möglichkeit einer Eheschließung erst mit vollendetem 18. Lebensjahr vor. In Ausnahmefällen können auch 17-Jährige getraut werden, wenn deren Erziehungsberechtigte zustimmen. Andererseits können beispielsweise Eltern, die mit der Beziehung ihrer Tochter nicht einverstanden sind, deren Partner nach derzeitiger Gesetzeslage durch eine Anzeige für mindestens zwei Jahre ins Gefängnis schicken, sollte dieser eine Vaterschaft zu einem Kind anerkennen, das vor Erreichen des 18. Lebensjahres der Partnerin gezeugt worden sein muss.

Ländliche Regionen im Südosten am stärksten betroffen

Vor allem in ländlichen Gebieten der Ost- und Südosttürkei sind Schwangerschaften Minderjähriger noch häufig. Wie der CHP-Abgeordnete Tekin Bingöl 2018 gegenüber der Zeitung „Hürriyet“ unter Berufung auf einen von ihm in Auftrag gegebenen Bericht erklärte, sollen in den Jahren seit 2008 insgesamt 482 908 Mädchen im Alter von 17 Jahren mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten geheiratet haben. Zehn Prozent der türkischen Frauen hätten vor Vollendung des 18. Lebensjahres Kinder geboren – insgesamt seien es seit 2002 etwa 440 000 Geburten von Minderjährigen gewesen.

Sexuelle Gewalt habe in 15 937 Fällen eine Rolle gespielt, in denen Mädchen unter 15 Jahren ein Kind geboren hätten, erklärte Bingöl. Die NGOs, die gegen den jetzigen Entwurf Sturm laufen, bei dem es sich erst um einen Vorentwurf handelt, der parlamentarischer Überarbeitung bedarf, verweisen darauf, dass UN-Berichten zufolge 38 Prozent der türkischen Frauen in ihrem Leben mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner erlitten hätten.

Zudem sei die Zahl der sogenannten Femizide, der Ermordungen von Frauen durch Partner oder Familie, im Zeitraum zwischen 2013 bis 2017 von 237 auf 409 gestiegen. Diese Umstände würden, so heißt es aus den Reihen der Gegner des Entwurfes, die Annahme nahelegen, dass auch in den meisten Fällen der Heirat von Müttern, die im Alter von unter 18 Jahren schwanger geworden seien, Gewalt im Spiel sein müsse – auch wenn im Entwurf solche Fälle explizit ausgeschlossen wären.

Auf der anderen Seite steht die Auffassung der „Genç Evlilik Mağdurları Platformu“, die der konservativen kurdischen Partei „Hüda-Par“ nahesteht und sich vehement für die angedachte Gesetzesänderung einsetzt. In dieser Vereinigung haben sich vor allem junge Mütter zusammengefunden. Die meisten von ihnen sind alleinerziehend – weil die Väter ihrer Kinder aufgrund des Artikels 104 Absatz 1 im Gefängnis sitzen und damit als Ernährer der Familie ausfallen.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion