In Kürze
- Männer schweigen oft aus Scham, Überforderung oder gesellschaftlichem Druck.
- Selektiver Mutismus kann Schweigen bei Erwachsenen verursachen.
- Dauerhaftes Schweigen in der Beziehung sollte therapeutisch begleitet werden.
Wenn Männer sich emotional zurückziehen und nicht mehr sprechen, fühlen sie sich meist ihrer Partnerin oder ihrem Gegenüber unterlegen. So lautet eine Erfahrung des Paartherapeuten Professor
Dr. Philipp Riehm aus Hamburg.
Dasa Szekely führt das Schweigen von Männern unter anderem darauf zurück, dass sie ihre Probleme verdrängen. Zudem könnten Männer generell eher nicht gut über Gefühle und Probleme reden. Szekely coacht Paare und veröffentlichte 2016 ein
richtungsweisendes Buch zum Thema.
Schweigen kann aber auch bewusst fies als Mittel eingesetzt werden, meint Szekely. Dann müsse sich der Mann zu einem Problem nicht positionieren; er sitze Dinge aus und schiebe sie damit auf andere. Das nennt man in der Psychologie passive Aggressivität. Für die Coachin ist das ein Zeichen für „Unreife“. Sie beklagt: „Heerscharen solcher Scheinerwachsener sitzen nach wie vor in Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft und bestimmen über unser aller Leben.“
Scham: „Ich kann dann nichts mehr sagen“
Nicht so rigoros geht Professor Riehm mit Männern um. Vielmehr stecken seiner Erfahrung nach „oft tiefere psychologische Mechanismen dahinter – Männer fühlen sich ihren Partnerinnen kommunikativ unterlegen, sie schämen sich, weil sie über bestimmte Themen nicht sprechen können“, erklärt Riehm in einem Gespräch mit Epoch Times.
Zur Scham, die bei Männern zum Schweigen führt, verweist er auf eine im April 2023 veröffentlichte
umfangreiche Studie des belgischen Paartherapeuten Lieven Mogerode und der Klinischen Psychologin an der Universität Leuven, Gianina Frediani.
Beide weisen unter Einbeziehung weiterer Untersuchungen nach, „dass Scham schwerwiegende negative Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen haben kann.“ So habe sich herausgestellt, „dass das Schamgefühl mit vermehrten Konflikten verbunden“ sei. Betroffen davon seien zum Beispiel auch intime Beziehungen zwischen Paaren. Dies könne so weit führen, dass eine regelrechte Angst vor Intimität entstehen könne.
Die Studie führt zahlreiche Beispiele an, etwa Folgendes aus einer Therapiesitzung: Ein Patient berichtet seinem Therapeuten, dass es sich für ihn bedrohlich anfühle, über seine Gefühle zu sprechen: „In diesem Moment möchte ich einfach nur verschwinden. Aber wenn ich aus der Sitzung weglaufen würde, würde das bestätigen, dass ich instabil bin, dass ich beschädigt bin. Also zwinge ich mich, zu bleiben, doch das Bleiben verstärkt meine Angst, dass Sie immer mehr von mir erfahren werden.“
Therapeut: „Sie fühlen sich also sehr bedroht und gefangen und dann schalten Sie ab, um nicht zu gehen, aber auch, weil Sie nicht bleiben können?“ Patient: „Ja, ich glaube schon. Es passiert einfach. Ich kann dann nichts mehr sagen. Alles, was ich sagen würde, würde es nur noch schlimmer machen.“
So wie in diesem Therapiegespräch fühlt sich auch die Beziehung unter zahlreichen Paaren an. Sie spricht endlos auf ihn ein, kritisiert, macht Vorwürfe über sein Verhalten, seine Kleidung oder über seine Nachlässigkeiten. Er kommt erst mal nicht zu Wort. Fordert Sie dann von ihm: „Na, sag doch auch mal was!“, bekommt Er kein Wort mehr heraus, steht auf und geht.
Paartherapeut Professor Riehm zu Epoch Times: „Aus meinen Gesprächen mit Männern weiß ich, dass sie in vielen Fällen nicht schweigen, weil sie nichts zu sagen haben, sondern weil sie sich überfordert fühlen. Sie wissen nicht, wie sie ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken sollen, und ziehen sich daher lieber zurück.“
Zur Entstehung dieses Phänomens trage auch die Gesellschaft bei, in der ein Mann heranwächst. So gebe es oft ein Umfeld, in dem erwartet werde, dass Männer „stark und souverän sein“ müssten. Schwäche oder Unsicherheit zu zeigen, passe nicht zu dem geforderten Männerbild.
Stress und Unterlegenheit
Viele Paartherapeuten sind sich einig, dass beruflicher Druck, finanzielle Sorgen oder familiäre Verpflichtungen Männer emotional überfordern können. Und noch ein anderer Aspekt kommt hinzu.
Professor Riehm: „Männer haben häufig das Gefühl, dass sie mit ihrer Partnerin nicht auf Augenhöhe über bestimmte Themen sprechen können. […] Ein Mann sagte mir einmal: ‚Meine Frau spricht oft über Dinge, bei denen ich mich einfach nicht auskenne. Sie hat eine starke Meinung und ich habe Angst, dass ich falsch klinge oder dumm dastehe.‘“
Diese Unsicherheit führe dann dazu, dass Männer lieber schweigen, anstatt ihre Meinung zu äußern. „Sie empfinden das Schweigen als einen Weg, die Harmonie in der Beziehung zu bewahren“, glaubt der Paartherapeut. Allerdings führe diese Strategie zum Gegenteil.
Mutismus: Angststörung
Doch nicht alle Schweigemänner lassen sich auf die bisher genannten Gründe zurückführen. Bereits 1877 verwendete der deutsche Arzt Adolf Kussmaul den Begriff „aphasia voluntaria“, was so viel bedeutet wie
„freiwilliger Sprachverlust“. Damals bezog sich Kussmaul überwiegend auf das Schweigen von Kindern, denen Widerspenstigkeit, Sturheit oder Unhöflichkeit nachgesagt wurde, wenn sie nicht sprachen.
1934 prägte der Schweizer Kinderpsychiater Moritz Tamer für das Schweigen von Kindern den Begriff „Mutismus“. Ab den 1960er-Jahren begannen Kliniker und Wissenschaftler mit der systematischen Erforschung des Phänomens und weiteten es auf Erwachsene aus. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine Angststörung handelt, die teils nur in bestimmten Situationen auftritt – „selektiver Mutismus“ oder dauerhaft – „totaler Mutismus“.
Die häufigste Form dieser angstbedingten Sprachstörung ist der „selektive Mutismus“. Das heißt: Einer Person verschlägt es die Sprache nur in bestimmten Situationen. Ansonsten spricht sie ganz normal. Beispiel: Ein Mann spricht wie ein Wasserfall, wenn er mit seinen Kumpels zusammen ist oder auf der Arbeit. Er verfällt jedoch in auffallendes Schweigen, wenn er seine Eltern besucht oder mit seiner Frau zusammen ist.
„Der selektive Mutismus beginnt in der Regel sehr früh – im Alter von zwei bis fünf Jahren – und gilt deshalb als Störung des Kindes- und Jugendalters“, klärt Sabine Laerum, zertifizierte Mutismustherapeutin des „Selbsthilfevereins für
Mutismus Deutschland“, auf. Etwa 1 Prozent der Vor- und Grundschulkinder seien davon betroffen. Selbst wenn sich der kindliche Mutismus später auflöse, bleibe die Angststörung bestehen und setze sich damit im Erwachsenenalter fort. „Die Betroffenen kommunizieren weiterhin nicht frei und bleiben unter ihren Möglichkeiten“, erklärt Laerum.
Älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen werde dann von ihrem Umfeld vorgeworfen, „sie schwiegen absichtlich und wollten ihr Umfeld manipulieren und könnten sprechen, wenn sie sich nur mehr anstrengen würden“. Das treffe aber nicht zu. Für „selektiven Mutismus“ gibt es Therapien, die zum Beispiel über den Selbsthilfeverein unter der E-Mail-Adresse
[email protected] erfragt werden können.
Totaler Mutismus
Vor allem ein unbehandelter oder falsch behandelter selektiver Mutismus kann in einen totalen Mutismus kippen, warnt der Selbsthilfeverein. Ein Mensch, der an „totalem Mutismus“ leide, könne mit niemandem und in keiner Situation sprechen, obwohl keine organischen Störungen vorlägen. „Eine Ursache für dieses tiefgreifende und umfassende Schweigen ist nicht bekannt“, berichtet Laerum weiter.
Eine Hypothese dafür sei jedoch, „dass eine sehr starke Überforderungssituation oder eine Reihe von lang anhaltenden Überforderungssituationen einen Menschen mit selektivem Mutismus in den totalen Mutismus hineingeraten lassen könnten“.
Wann professionelle Hilfe ratsam ist
Noch einmal zurück zu den schweigenden Männern. Wenn das Schweigen eines Mannes über einen längeren Zeitraum anhält und ein Paar dafür keine Lösung findet, ist es laut des Paartherapeuten Riehm sinnvoll, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen: „Das Phänomen ist inzwischen so weit erforscht, dass ein erfahrener Therapeut oder eine Therapeutin helfen kann, die meist in der Kindheit zugrunde liegenden Ursachen für das Schweigen zu identifizieren und neue Wege der Kommunikation zu finden“, ist Riehm überzeugt.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.