„Jeder kann ein Held sein“ sagt Raul Krauthausen, der Humorvolle

„In erster Linie zählt der Mensch!“ – Ein Gespräch mit Raul Krauthausen über "behindert sein" und "behindert werden", warum wir alle Helden des Alltags sein können und weshalb Filme immer dort enden, wo es eigentlich spannend wird.
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Foto: (c) Andi Weiland | www.andiweiland.de
Von 9. September 2016

Es ist ein warmer Sommertag im August, als ich mich mit Raul Krauthausen zum Interview treffe. Mit meinem Hund Whiskey habe ich es mir im Garten des Kulturzentrums Radialsystem, einem alten Fabrikgebäude in Berlin Friedrichshain, gemütlich gemacht und beobachte, wie Schiffe auf ihrer Rundfahrt über die Havel vorbeischippern.

Was für ein friedliches Bild, denke ich. Was braucht es mehr, um einen Moment wie diesen zu einem unvergesslichen Augenblick werden zu lassen? Auch Whiskey hat es sich zu meinen Füßen bereits bequem gemacht, als Raul in Begleitung seines Mitarbeiters, dem Fotografen Andi Weiland, mit seinem E-Rolli gut gelaunt und voller Energie auf uns zufährt.

Nicht nur Whiskey ist ein wenig unsicher und bellt – auch mir ist ein wenig mulmig, habe ich doch gerade in Raul Krauthausens Buch gelesen, wie schnell seine Glasknochen brechen können. Eine zu feste Berührung kann da schon gefährlich sein. Die deshalb zögerliche Art, mit der ich ihm meine Hand reiche, wirkt auf ihn vermutlich etwas linkisch. Wenig später, als Raul mit seinem E-Rolli an den Tisch herangerollt ist und ich ihm gegenüber Platz nehme, lockert sich die Atmosphäre spürbar auf. Wir lachen und scherzen ein wenig und beginnen unser Interview.

Das Dschungelbuch gehört wohl für viele von uns zu den Lieblingsbüchern unserer Kindheit. Noch gut in Erinnerung ist mir der gemütliche Bär Balu mit seinem wundervollen Song: „Probier’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag und die Sorgen weg.“ Bei einer Schulaufführung des Dschungelbuchs, so erzählst du in deinem Buch, hast du die Rolle des Vorlesers übernommen. Welche Rolle würdest du heute gern einnehmen und warum?

Wahrscheinlich die des Affenkönigs, King Louie. Er ist mir sympathisch, obwohl er nicht unbedingt in Menschenfreund ist, weil er frech und unkonventionell ist.

Und Bär Balu?

Der ist mir zu langweilig, zu gemütlich.

Hast du eine Lieblingsgeschichte, ein Lieblingsbuch und wenn ja, welches ist es und warum?

In meiner Schulzeit  habe ich gern „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger gelesen. In dem Buch geht es um den 17-jährigen Holden Caulfield, der nach einem Schulverweis ür seine schlechten Noten die Schule vorzeitig verlässt. Aus Angst vor seiner hysterischen Mutter und seinem despotischen Vater, traut er sich nicht nach Hause. Er flüchtet und bricht aus einer Welt aus, die ihm schon lange verlogen und falsch schien.

Drei Tage lang irrt er schließlich durch Manhattan und trifft auch hier nur auf eine Fortsetzung des Falschen und Aufgesetzten: Er lernt arrogante Showstars oder Barmusiker in New York City kennen, mürrische Taxifahrer und eine falsche Freundin, Sally. Nur die Kinder, auf die er während seiner kurzen Reise trifft, sind gänzlich unverdorben, authentisch und ehrlich. Für mich war Salingers Roman das richtige Buch zur richtigen Zeit. Es hat mich einfach abgeholt und mitgenommen, weil ich mich darin in vielem wiedergefunden habe.

Inzwischen bin ich ein großer Fan von Kinderbüchern. Neulich hab ich das Buch „Lauf, kleiner Spatz“ von Brigitte Weninger gelesen. Es handelt von einem Spatzen, der nach einem Gewitter nicht mehr fliegen kann, weil er sich den Flügel verletzt hat. Sein Arzt verspricht ihm zwar, dass er künftig keine Schmerzen mehr haben wird, sagt ihm aber auch, dass er nie wieder fliegen kann.

Gemeinsam mit seinem besten Freund, der Maus, lernt der Spatz laufen und erlebt zu Fuß einige Abenteuer. Die Moral von der Geschichte ist, dass es eben nicht immer um Heilung und Erlösung geht, sondern um die Akzeptanz einer neuen Lebenssituation. Sie zeigt, dass man – auch wenn sich das Leben verändert – Freude haben und Abenteuer erleben kann.

Foto: (c) Andi Weiland | www.andiweiland.de

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Gab es Situationen, in denen Menschen spontan zu dir gekommen sind und dich angesprochen haben? An welche Situation erinnerst du dich besonders und warum?

Ja, es gibt immer wieder Situationen, in denen Menschen die Neugier packt und sie dann zu mir kommen und etwas wissen wollen. Was ich so bedauerlich finde, dass es zu 99 Prozent um meine Behinderung geht. Das heißt, sie wollen wissen, zu welchem Arzt ich gehe oder ob ich Sex haben kann – und das sind natürlich Fragen, die ich nicht unbedingt zum Kennenlernen beantworten möchte.

Du hast in deinem Buch geschrieben, dass du aufgehört hast, die Knochenbrüche zu zählen. Es waren wohl um die hundert. Wenn man das liest, hat man Angst, dich zu berühren oder dir die Hand zu geben. Kennst du diese Ängste bei Menschen, die dir begegnen und wie gehst du damit um? Und haben die Menschen gelernt, damit umzugehen?

Die Menschen, die mir begegnen, haben es garantiert nicht gelernt, weil ich sie nicht alle aufklären kann. Natürlich macht es ihnen zuerst einmal Angst. Auch das Wort „Glasknochen“ schürt Ängste, weshalb ich das immer seltener sage. Ich zähle meine Knochenbrüche schon lange nicht mehr, denn wir zählen ja auch nicht, wie oft wir erkältet waren.

Wenn man dein Buch liest, hat man nicht den Eindruck, dass du mit deinem Schicksal haderst, sondern dass du es angenommen hast, gerne lebst und nicht zu viel über die Endlichkeit nachdenkst. Stimmt das?

Ich lebe eher im Hier und Jetzt, als dass ich irgendetwas nachtrauere oder etwas herbeisehne. Ein guter Freund hat einmal gesagt: „Man ist dann jung, wenn man sich von der Zukunft mehr erhofft als von der Vergangenheit.“ Und ich glaube, da ist etwas Wahres dran. Ich fühle mich noch jung.

Im Hier und Jetzt zu leben, ist sehr schwer. Schließlich haben wir alle ständig tausend Dinge im Kopf. Während wir hier sitzen, sind wir mit unseren Gedanken schon wieder im Büro, an unserem Schreibtisch und überlegen, was dort noch alles auf uns wartet. Gelingt es dir immer, ganz im Hier und Jetzt zu sein?

Nein, es gelingt mir nicht immer. Natürlich habe ich mir auch schon darüber Gedanken gemacht, was ich heute Abend essen werde. Aber ich lasse mich nicht stressen, und denke nicht zu weit voraus.

Was motiviert dich, was treibt dich an?

Mich motiviert, wenn ich Menschen in meinem Umfeld habe, mit denen ich Spaß haben kann. Spaß bedeutet dabei aber nicht Spaß als Selbstzweck, sondern dass ich mit Menschen auf der Arbeit oder zu Hause eine schöne Zeit verbringen kann. Wichtig ist für mich Orte zu haben, an denen ich zur Ruhe kommen kann und Menschen um mich habe, die wissen, wer ich bin.

Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht ständig in einem  Interviewmodus befinde und aufpassen muss, was ich sage. Denn ich werde ja immer stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Ich bin froh, dass wir zu Hause keine Kameras oder Mikrophone haben und ich dort der sein kann, der ich wirklich bin.

In einem Assessment-Center, das du mal für einen Studienplatz absolvieren musstest, ging es um eine Maggi-Suppe, die undefinierbar aussah und auch so schmeckte. Wäre es für dich heute denkbar, für ein Produkt zu werben, von dem du nicht überzeugt bist und hast du seither je wieder Maggi-Suppen gegessen?

Maggi-Suppen esse ich schon noch, wenn es sein muss. Ich würde allerdings nie für ein Produkt werben, von dem ich nicht überzeugt bin. Ich habe aber schon für Produkte geworben, die ich selbst gar nicht konsumiere, von denen ich aber sage: Okay, es gibt Situationen, in denen es Sinn macht, sie zu gebrauchen oder zu konsumieren. Ich muss nicht alles selbst nutzen, um es gut zu finden.

Wie schwierig ist es aus deiner Erfahrung, sich als behinderter Mensch im Alltag zurechtzufinden und erfährst du genügend Unterstützung von anderen Menschen, wenn du sie brauchst?

Das ist sehr situativ und von Mal zu Mal verschieden. Ich glaube, es hängt auch davon ab, was ich von meiner Umwelt erwarte. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn ich um Hilfe bitte, wird mir auch geholfen. Wenn ich beispielsweise Busfahren möchte, dann erwarte ich – weil es der Job des Busfahrers ist – dass er mir die Rampe rausklappt. Macht er das nicht, insistiere ich darauf. Manchmal gibt es aber auch Fahrgäste, die mir die Rampe rausklappen. Das finde ich sehr nett, erwarte es aber nicht.

Im täglichen Leben, auf der Straße mache ich durchweg positive Erfahrungen. Ich glaube, es kommt immer auch darauf an, wie ich mich selbst gebe: Bedanke ich mich beispielsweise, wenn mir jemand die Tür aufhält, oder gehe ich davon aus, dass es jemand tut und nehme es als selbstverständlich hin.

Aber dann gibt es auch noch die bürokratische Willkür, die Menschen mit Behinderung systematisch benachteiligt. Es beginnt bei fehlender Barrierefreiheit in Gebäuden, d.h. ich kann nicht überall teilhaben, wo nicht behinderte Menschen teilhaben können. Bürokratische Willkür wird es dann, wenn es beispielsweise keine Verpflichtung für eine McDonald’s-Filiale gibt, rollstuhlgerecht zu sein. Auch Kinos, Theater und privatwirtschaftlich betriebene Gebäude sind dazu nicht verpflichtet.

Und das ist in meinen Augen ein Skandal. Denn es geht hier nicht um einen Good Will, sondern um ein Menschenrecht, nämlich um das auf Zugang. Und solange das in Deutschland nicht gegeben ist, diskriminiert die Gesellschaft Menschen mit Behinderung systematisch.

Einer meiner Gesprächspartner – Sascha, der an Borderline erkrankt und seither arbeitsunfähig ist – hat mir einmal erzählt, dass er sich an schlechten Tagen so mies fühlt, dass er sich fast wünscht, lieber im Rollstuhl zu sitzen und die Welt da draußen zwar mit einigen körperlichen Einschränkungen, aber dennoch mit Freude genießen zu können, statt ständig Gefangener seiner Impulsivität und Aggressivität zu sein und mit seinem Gefühlschaos im Kopf leben zu müssen. Kannst du das nachvollziehen?

Aus seiner Perspektive kann ich das schon nachvollziehen. Ich finde die Trennung zwischen sichtbarer und nicht sichtbarer Behinderung schwierig, weil ich glaube, dass die Frage eine andere ist: In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, dass eine Behinderung als Stigma empfunden wird?

Und warum leidet er eigentlich unter seiner Behinderung? Wahrscheinlich liegt es an den Reaktionen seiner Umwelt. Und wenn die Umwelt nicht gelernt hat, mit so etwas  umzugehen – so wie sie gerade lernt mit Homosexualität oder Migration umzugehen –, kann ich das, was Sascha da beschreibt,  nachvollziehen.

Du hast einmal gesagt: „Ich mag mein Leben und die Formulierung ‚behinderter Mensch‘, weil sie offenlässt, ob ich behindert bin oder behindert werde.“ Wann bist du das letzte Mal von anderen Menschen behindert worden?

Ich werde immer dann behindert, wenn Gesetze mich daran hindern, mein Leben so frei zu entfalten wie ich es gern möchte. Dazu gehört z.B. die fehlende Barrierefreiheit oder dass ich nicht sparen darf, weil ich auf Sozialhilfe angewiesen bin, und dadurch permanent in meinen Entfaltungsmöglichkeiten, in meinen Wünschen und Träumen beschränkt werde.

In deinem Buch schilderst du auch, wie ohnmächtig und wütend du warst, als du nachts in einer Berliner U-Bahn-Station festgesteckt hast, weil der Lift defekt war. Was hat dich in dieser Situation am meisten geärgert: Die BVG-Beamtin, die keine Lust hatte, dir außerhalb ihrer Arbeitszeit behilflich zu sein oder die beiden doch hilflosen Security-Kräfte, die versuchten, dich samt 150 Kilo schwerem E-Rolli die Treppen hochzuwuchten?

Was mich am meisten geärgert hat, ist, dass es für eine Situation wie diese – der Aufzug fällt aus und die letzte Bahn ist weg – kein Verfahren gibt. In Deutschland ist fast alles reglementiert, aber das nicht. Auch die fehlende Bereitschaft der BVG-Mitarbeiterin, sich eine kreative Lösung zu überlegen, hat mich gewurmt. Dienst nach Vorschrift bedeutet eben auch, dass man keine Fehler machen kann, dass man keine Verantwortung übernehmen muss und sich immer hinter Regeln verstecken kann.

Ich glaube, dass es uns allen gut täte, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, unkonventionelle Lösungen zuzulassen und vor allem auch Verantwortung zu übernehmen.

Was stört dich am meisten an deinen Mitmenschen?

Am meisten nervt mich, dass Leute, die mit einem behinderten Menschen zu tun haben, das Gespür zu verlieren scheinen, wann man was fragen darf. Entweder sie trauen sich nicht zu fragen, oder sie fragen zum Einstieg gleich, ob man Sex haben kann. Selten begegnen mir fremde Menschen, die wirklich mal unverkrampft sind.

Ich hab ständig das Gefühl, den Erklärbär geben zu müssen. Und das ist zuweilen auch anstrengend, weil es auch Momente gibt, in denen ich mal schlechte Laune habe und nicht immer der sein möchte, der die Hand reicht und sagt: „Wir schaffen das schon.“ Ich hätte auch gern mal jemanden, der mir die Hand reicht und sagt: „Hey, ich würde dich gern kennenlernen.“

Was könnten wir deiner Meinung nach tun, um zu einem unverkrampfteren Umgang miteinander zurückzufinden?

Wir müssen die Gettos, die wir errichtet haben, wieder einreißen. Leider haben wir es in Deutschland bis zur Perfektion verstanden, Menschen, die anders sind, auszusortieren und sie entweder in Behinderten- oder Altenheime oder in Krankenhäuser wegzusperren.

Es ist eben ein Mythos, dass alte Menschen beispielsweise die Wahl haben sollen, ob sie zu Hause bleiben wollen und können oder in einem Heim leben. In der Theorie mag das zwar stimmen, dass sie eine Wahlfreiheit haben. Aber die funktioniert immer nur dann, wenn man auch über alle Optionen informiert wird.

Wenn aber die ganze Gesellschaft auf einen einredet, dass man im Alter mit einer Krankheit oder einer Behinderung ins Heim soll, weil es eine Bürde für die Familie und die Angehörigen ist, ist ja klar, wie man sich entscheiden soll. Was man dann selbst will, ist dann nicht mehr interessant.

Ich glaube, dass wir wieder anfangen müssen zu schauen, was wirklich für den einzelnen Menschen wichtig ist. Fakt ist doch eines: Je länger man Menschen in Heimen oder in Sondereinrichtungen isoliert, umso schwerer wird der Wechsel zurück in die Mehrheitsgesellschaft.

So entstehen Inseln, und Betroffene haben das Gefühl, dass sie ausgegrenzt und nicht mehr Teil der Gesellschaft sind. Das habe ich auch mit meinem Mann auf der onkologischen Station und in der Strahlenambulanz erlebt.

Ja, und dann gibt es Frühstück morgens um 6 und man geht um 18 Uhr ins Bett, denn es gibt ja sonst nichts mehr. Den ganzen Tag über wartet man dann auf den Arzt, der dann nicht kommt und Termine immer wieder verschoben. Eigentlich wird man die ganze Zeit nur hingehalten und es wird nicht darauf geachtet, wie jemand auch seelisch genesen kann.

In deinem Buch hast du auch von der Begegnung mit Roger Willemsen erzählt, mit dem du die Gala der damaligen „Aktion Sorgenkind“ moderiert hast. Welche Erinnerung hast du an diese Begegnung mit Roger Willemsen und was ist dir ganz besonders von dieser Gala im Gedächtnis geblieben?

Roger Willemsen ist der einzige Mensch, den ich kennengelernt habe, der sich so genau an Menschen erinnern konnte, selbst an die Begegnungen, die schon Jahre zurücklagen. Sein Interesse war echt. Es war weder aufgesetzt, journalistisch noch neugierig, sondern wirklich aufrichtig. Er nahm sich Zeit, solange es dauerte statt so lange, wie er Zeit hatte. Davon können sich viele eine Scheibe abschneiden, inklusive meiner Person. Mir fällt es manchmal sehr schwer, dieses Interesse wirklich zu haben.

Meine Erinnerung an die Gala kann ich eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Ich war viel zu jung und kann mich kaum daran erinnern, weil alles wie ein Rausch an mir vorbeizog. Ich glaube nicht, dass ich gut war und ich denke auch, dass ich gar nicht  wichtig war.

Du hast gesagt, dass es dir manchmal schwerfällt, das Interesse an Menschen wirklich zu haben. Was machst du, wenn du in einer Interviewsituation bist und du deinen Gesprächspartner nicht so spannend findest?

Bei mir kommt dann irgendwann der Punkt, an dem ich denke: Ich muss weg. Oder ich kommuniziere, dass ich nicht mehr so viel Zeit habe.

Du hast ja schon viele Interviews mit interessanten Menschen geführt. Wenn du einen Wunsch frei hättest: Mit wem würdest du gern ein Gespräch führen und warum?

Gerne würde ich mit einem Behindertenrechtsaktivisten sprechen und ihn fragen, was ihn damals bewegt hat und was er sich von unserer Generation heute wünscht. Und natürlich möchte ich auch gern mit den Menschen sprechen, die jetzt im Rampenlicht stehen und ihren Höhepunkt haben, beispielsweise mit Jan Böhmermann.

Ich würde gern wissen wollen, wie er mit dieser Situation zwischen Genie und Wahnsinn umgeht. Ich glaube, dass es ihn doch alles mehr mitgenommen hat, als er anfangs glaubte. Auch was er daraus gelernt hat, würde mich interessieren. Aber das würde ich nur im privaten Gespräch fragen. Denn was er dann öffentlich darüber sagen würde, wäre etwas ganz anderes.

Wer war dein interessantester Gesprächspartner?

Einer meiner interessanteren Gesprächspartner war Samuel Koch.

Warum?

Was mich im Vorfeld genervt hat, war, dass Samuel Koch immer zum Thema „Wetten dass …?“ befragt wurde. Ganz Deutschland hat es gesehen und jeder wusste dann plötzlich, wie es sich anfühlen musste, solch einen schrecklichen Unfall zu haben. Aber es hat ihn noch nie jemand über sein künstlerisches Schaffen befragt.

Er ist ja Schauspieler. Ich habe das Thema „Wetten dass …?“ überhaupt nicht angesprochen. Und es ging mir auch nicht um das Leben davor und das Leben danach. Wir haben über die Schauspielerei gesprochen, darüber, ob es auch Neider gibt, weil er ja der Berühmte ist, im Vergleich zu denen, die gerade erst von der Schauspielschule kommen.

Und ob es die auch unter den Behinderten gibt, weil er, so die Vorwürfe, vieles geschenkt bekommt und die anderen nicht. Ich wollte wissen, ob er sich als Aktivist sieht und sich über die aktuelle politische Lage informiert hat. Unser Gespräch – und das hat er selbst dann später auch gesagt – war für ihn das erste, in dem es mal nicht um „Wetten das …?“ ging.

Leider reduzieren Medien heutzutage behinderte Menschen immer auf ihre Behinderung, statt sich darauf zu fokussieren, wer sie sind, was sie machen und was sie auszeichnet. Und bei Samuel Koch ist es eben die Schauspielerei und nicht die Tatsache, dass er im Rollstuhl sitzt.

Kommen wir mal zu deinem Projekt, den „Sozialhelden“: Deine erste Aktion war eine unkonventionelle Casting-Aktion, mit der du einen Zivi gesucht hast, der dich unterstützen sollte. War das die einzige Aktion dieser Art oder wurde das Casting später fortgesetzt?

Das war die erste Sozialhelden-Aktion. Die Projekte, die wir danach gemacht haben, hatten weniger mit Casting zu tun. Wir wollten versuchen, Dinge einfach mal anders zu betrachten, anders zu beleuchten und in den Mainstream zu bringen. Wir haben das Thema Casting mit dem Thema Zivildienst zusammengebracht und es dadurch zu etwas Einzigartigem gemacht. Wenn man das jetzt noch ein zweites Mal machen würde, wäre es nicht mehr besonders.

Ist mit dem Zivi, der dich damals betreut hat, ein guter Kontakt oder gar eine Freundschaft entstanden?

Ja, obwohl wir uns etwas aus den Augen verloren haben. Aber wir könnten uns jederzeit erreichen, wenn wir das wollten.

Die Sozialhelden wollen Menschen für gesellschaftliche Probleme sensibilisieren und zum Umdenken bewegen. Ich habe auf eurer Homepage gelesen: „Es reicht nicht, bloß eine Idee zu haben, sondern man braucht auch die Kraft und Geduld, sie umzusetzen.“ Wie genau helft ihr bei der Umsetzung?

Ich glaube, dass wir als Team gelernt haben, was wir können und was wir nicht können. Wir helfen uns, Ruhe zu bewahren und überlegen genau, was der nächste Schritt wäre und fragen: „Wie kommen ich da ran?“ Entweder dadurch, dass wir es selbst machen, Gelder sammeln oder Menschen fragen, ob sie uns helfen können.

Wir sind ja jetzt im zwölften Jahr und haben viel gelernt. Jeder von uns ist ein Experte auf seinem Gebiet geworden. Das Besondere an den Sozialhelden ist, dass man uns nicht beauftragen kann. Das heißt, die Ideen kommen aus uns heraus: Wir haben zum Beispiel die „Wheelmap.org“ entwickelt, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte. Natürlich hatten wir auch viel Glück. Und vielleicht hat uns auch die Naivität geholfen, mit der wir an die Sache ran gegangen sind.

Ein anderes Projekt, das wir gemacht haben, heißt „Leidmedien.de“. Damit wollen wir Medien zum Umdenken und zu einer anderen Art der Berichterstattung anregen: Denn Behinderte werden meist als Menschen dargestellt, die es trotz ihrer Behinderung geschafft haben, sich ein normales Leben aufzubauen. Und wir haben als Menschen mit Behinderung gesagt: „Nein, wir machen nicht trotz unserer Behinderung etwas und meistern nicht trotz unserer Behinderung tapfer unser Schicksal, sondern wir machen einfach.“

Und diese Perspektive wollen wir den Medien mit auf ihren Weg geben und ihnen einfach sagen: „In erster Linie zählt der Mensch!“ Das heißt, wir helfen Medien dabei, vorurteilsfrei über Behinderung zu schreiben und zu sprechen.

Dein Verein heißt ja Sozialhelden, würdest du dich selbst in gewisser Weise als Held bezeichnen?

Das ist ein schwieriger Spagat. Wir haben uns damals Sozialhelden genannt, weil wir davon überzeugt sind, dass jeder ein Held sein kann. Inzwischen würde ich so weit gehen, zu sagen: „Ja, jeder kann ein Held sein, denn einen Helden zeichnet aus, dass er keine Ausreden hat.“ Leider haben wir gerade in Deutschland immer viele Ausreden, nur um etwas nicht machen zu müssen.

„Ich kann nicht, weil …“

Genau. Und dieses „Ich kann nicht weil …“ ist etwas sehr Deutsches, etwas sehr Traditionelles. Ich glaube, dass es ganz oft nur eine Frage des Willens ist, etwas zu tun oder es nicht zu tun.

Du schreibst in deinem Buch: „Eine Behinderung zu haben, ist kein Grund jemanden nicht zu lieben …“ und berichtest auch über die Schwierigkeiten, die du hattest, als du mit Yvonne, einer schönen jungen Frau, zusammen warst. Wie schwierig ist es tatsächlich, unter diesen Umständen eine „normale Beziehung“ zu leben?

Solange wir Menschen mit Behinderung, Menschen, die anders sind, Menschen, die krank sind, Menschen, die Krebs haben, systematisch in diesem Land aussortieren und ständig als etwas Besonderes behandeln, wird es auch immer besonders sein. Und dadurch wird es auch immer komisch oder anders sein, mit solch einem Menschen eine Beziehung zu führen.

Wenn aber Menschen mit und ohne Behinderung in die gleichen Kindergärten gehen würden, dann würden sie miteinander aufwachsen und es wäre das Normalste der Welt. Und dann könnten auch solche Beziehungen gelingen.

Ihr habt auch eine Selbsthilfegruppe besucht, in der der Begriff „Co-Behinderung“ geprägt wurde. Wie sehr trifft diese Bezeichnung auf die Menschen zu, die mit dir arbeiten, mit denen du lebst oder mit denen du befreundet bist?

Ich glaube, es geht hier vor allem um Beziehungen, weniger um Freunde oder Kollegen. Vielleicht geht es noch um Familie. Denn wenn jemand in der Familie eine Behinderung hat, bringt es auch für die Familie eine besondere Herausforderung. Man zieht dann eben nicht in den vierten Stock, sondern in eine Erdgeschoss-Wohnung, reist nicht in den Himalaya, sondern dorthin, wo man weiß, dass es rollstuhlgerecht ist. Dadurch schränkt man natürlich auch seine Angehörigen ein. Ich finde es wichtig, dafür eine Bezeichnung zu haben und finde das Wort „Co-Behinderung“ auch in Ordnung.

Foto: (c) Andi Weiland | www.andiweiland.de

Foto: (c) Andi Weiland | www.andiweiland.de

In deinem Buch schreibst du, dass du es interessant findest, dass Filme wie „Ziemlich beste Freunde“ immer dort aufhören, wo es spannend wird. Wo wird es denn nach Ihrer Meinung erst so richtig spannend?

Gerade bei dem Film war es ja so, dass Erotik immer nur angeschnitten wurde. Abgesehen davon, dass der Film sexistisch und rassistisch ist, ist er in erster Linie ein Märchen. Das heißt, die wenigsten Menschen mit Behinderung sind reich und die wenigsten können sich eine Privathilfe im Haushalt leisten. Das ist schon mal alles extrem utopisch. Und dass dann die Thematik der Sexualität am Anfang durch die Prostituierten, die ihn am Ohr massieren, kurz angerissen wird, grenzt schon ans Absurde.

Als der Film dann mit dem Abspann endet, in dem man liest, dass er eine Frau kennengelernt hat, und sie drei Kinder haben, hab ich mich schon gefragt: „Übers Ohr? Wie soll das gelaufen sein?“ Aber genau das wäre doch die Aufklärung, die das Publikum bräuchte, um das Thema behindert sein oder behindert werden aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Auch im aktuellen Kinofilm „Ein ganzes halbes Jahr“ ist es nicht besser: Da sitzt auch ein Mann im Rollstuhl und wünscht sich nichts mehr als zu sterben, obwohl es ihm doch gut geht. Er ist wohlhabend und hat sich verliebt. Es gibt also aus der Sicht eines Menschen mit Behinderung keinen Grund, sich in einer solchen Situation den Tod zu wünschen. Und wenn er es doch tut, dann sollte er psychologische Hilfe bekommen.

Wenn es eine gute Fee gäbe und du Wünsche frei hättest, was würdest du dir wünschen?

Ich glaube, ich würde gesetzlich festschreiben, dass Barrierefreiheit verpflichtend wird und dass wir mehr Mut haben, Dinge pragmatisch anzugehen, anstatt immer alles, was passieren könnte, abzuwägen. Mein Lieblingsbeispiel ist der Berliner Fernsehturm. Er hat einen Aufzug, denn niemand läuft da freiwillig rauf. Aber als Rollstuhlfahrer kann man ihn nicht nutzen, weil es ja brennen könnte und man dann nicht evakuiert werden könnte. Ich glaube, dass wir oft zu früh die falschen Schlüsse ziehen.

Was ist es, das für dich wirklich zählt im Leben?

Echte Begegnungen mit Menschen, nichts Virtuelles und nichts Künstliches.

Glaubst du an Gott und an ein Leben nach dem Tod?

Nein, ich bin nicht gläubig. Ich glaube, wir haben nur dieses eine Leben und wenn wir tot sind, sind wir Humus für die Regenwürmer.

Glaubst du an etwas anderes?

Ich glaube an die Menschheit, ich glaube, dass wir gemeinsam etwas erreichen können, wenn wir die Fehler nicht immer bei den anderen suchen.

Wie möchtest du anderen Menschen in Erinnerung bleiben?

Ich möchte den Menschen als der Humorvolle in Erinnerung bleiben, und nicht als der Behinderte.

Raul, ich danke dir herzlich für dieses Gespräch!

 

 

 

 

 



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