„Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“

Langfristig und strategisch denken, das System der Verwaltung grundlegend reformieren. Die deutsche Bürokratie läuft Gefahr, an sich selbst zu ersticken.
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Wird Deutschland noch gut organisiert und verwaltet? Der Normenkontrollrat der Bundesregierung würde die Frage mit „Nein“ beantworten.Foto: iStock
Von 11. Oktober 2021

Die Bürokratie, übersetzt die „Herrschaft der Verwaltung“, ist reich: reich an Vorschriften, Verfügungen, technischen Anleitungen und Dienstanweisungen. Sie sollen dafür sorgen, dass Behörden rechtliche Normen einheitlich anwenden. Und ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie wachsen. Eine „Messie-Bürokratie“, schreibt die Website „Justiz und Recht“.

Die Wirtschaft musste rund 51,39 Milliarden Euro im Jahr 2020 für die Bürokratie ausgeben. Das bezifferte die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage der FDP im September. Ende 2017 wurde von jährlichen Kosten von 52,04 Milliarden Euro gesprochen. Die Bundesregierung freut sich in ihrer Antwort, dass im Corona-Jahr 2020 sogar ein neues Minimum erreicht sei.

In der ONDEA-Datenbank des Statistischen Bundesamtes gibt es 1.636 Gesetze und Verordnungen, die zu Bürokratiekosten für die Wirtschaft führen (Stand 31.12.2020). Seit 2017 kamen 99 Gesetze oder Verordnungen mit bürokratischen Kosten für die Wirtschaft hinzu. 36 wurden außer Kraft gesetzt, so die Bundesregierung.

Mit anderen Worten: Binnen drei Jahren kamen 63 neue Gesetze und Verordnungen hinzu.

Bürokratiebremse „One in, one out“

Das Problem der wuchernden Bürokratie ist schon lange bekannt. Die Bundesregierung hat sich seit dem 1. Januar 2015 eine Bürokratiebremse für die Wirtschaft gegeben, sie heißt „One in, one out“. Jedes Bundesministerium soll im gleichen Maße, in dem es durch neue Regelungen Belastungen für die Wirtschaft aufbaut, an anderer Stelle Belastungen abbauen. Inwieweit das geholfen hat? Die FDP fragte nach.

Ja. Es sei sogar mehr als das gewesen, antwortet die Bundesregierung: „Die seit 2015 von der Bundesregierung beschlossenen und von ‚One in, one out‘ erfassten Vorhaben haben Belastungen (‚in‘) Höhe von 1.454 Millionen Euro verursacht.“ Demgegenüber stünden Entlastungen („out“) in Höhe von 4.600 Millionen Euro.

Unternehmen stöhnen allerdings weiterhin unter viel zu viel Bürokratie. Denn „One in, one out“ hat umfangreiche Ausnahmen. Es gilt nicht für Vorhaben, die EU-Vorgaben, internationale Verträge, die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes sowie des Europäischen Gerichtshofs umsetzen. Es gilt nicht für die Abwehr erheblicher Gefahren. Und es gilt nicht für Vorhaben, die eine zeitlich begrenzte Wirkung (maximal ein Jahr) haben.

Zwischen Januar 2015 und Dezember 2020 beschloss die Bundesregierung 505 Vorhaben, die Bürokratieaufwand für die Wirtschaft bedeuten. Davon unterlagen 335 Vorhaben „One in, one our“. 170 fielen unter die Ausnahmen.

Strukturen, die im Alltag für Probleme sorgen

Im Sommer 2021 gab es Kritik an der deutschen Verwaltung von höchster Stelle. Der Normenkontrollrat, ein unabhängiges Beratergremium der Bundesregierung zum Abbau von Bürokratie, meldete sich zu Wort und fordert schnelle Reformen.

Die letzten Krisen verdeutlichten, was auch in „normalen“ Zeiten immer öfter Sorgen bereite, so die Autoren des Berichts: „Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert.“

Zwar würde Deutschland immer noch um seine Verwaltung und sein politisches System beneidet, das stabilisierend wirke und eher auf vernünftigen Ausgleich ausgerichtet sei. Doch dieses Bild eines gut organisierten und gut regierten Landes hätte sichtbare Risse bekommen.

Die Flüchtlingskrise 2015 und die Corona-Krise 2020 hätten gezeigt, dass Deutschland mit strukturellen, systemischen Herausforderungen zu kämpfen habe, die nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch im Alltag zum Problem würden.

Kundenorientierte Verwaltung?

In der Wirtschaft gilt Kundenorientierung. Ein Unternehmen, das nicht kunden- oder nachfrageorientiert handelt und effizient arbeitet, verliert Kunden und scheidet aus dem Markt aus. Der öffentliche Sektor ist hingegen Monopolist. Die Bürger müssen öffentliche Leistungen so hinnehmen, wie sie sind. Alternativen gibt es in der Regel nicht.

Der Preis für die Kompliziertheit ist hoch, nicht nur finanziell. Durch ineffiziente und ineffektive Strukturen leidet das Vertrauen in den Staat und die Politik. Zum 31. Jahrestag der Deutschen Einheit wird von Hannah Suppa, der Chefredakteurin der „Leipziger Volkszeitung“, sogar von „Staatsresignation“ in Ostdeutschland gesprochen. Das Vertrauen in staatliches Handeln in den nicht mehr neuen Bundesländern ist weg.

Der Vorsitzende des Normenkontrollrats, Johannes Ludewig, kritisiert in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ die Politik auch für Maßnahmen, die nur schwer zu verwirklichen sind: „Wenn die Rentenversicherung für die Grundrente 1.500 Leute einstellen muss, um einer begrenzten Zahl von Leuten einen kleinen Zuschlag zu zahlen, dann läuft etwas gewaltig schief.“ Das Problem sei vor allem, dass die Öffentlichkeit das hinnehme.

„Aber Deutschland denkt und handelt zu kompliziert. Und am Ende sind wir zu langsam“, wiederholt Ludewig. Die Welt werde nicht auf Deutschland warten.

Langfristiges Denken statt detaillierte Arbeitsanleitungen

Wie könnte die Bürokratie und ihre übertriebene Form, der „Bürokratismus“, abgebaut werden? „Bürokratismus“ beginnt, wo Vorschriften über den Menschen stehen und diese als Objekte behandelt werden.

Prof. Dr. Ulrich Karpen schlug 2005 dazu in einem Interview mit der „Welt“ vor: „Wir sollten die Beamten nicht durch ein engmaschiges Netz von Vorschriften zwingen, jeden Verstand fallen zu lassen. Der Gesetzgeber sollte nur die grobe Richtung vorgeben und der Verwaltung vor Ort größeren Ermessensspielraum zubilligen.“ Er warnte: „Ich sehe sogar die Gefahr, daß der Rechtsstaat an der Fülle seiner eigenen Gesetze ersticken könnte.“

Einiges könnten sich Verwaltungen bei der Wirtschaft, im Managementbereich und bei der Organisationsentwicklung abschauen. Der Mannheimer Organisationsforscher Alfred Kieser empfiehlt zum Beispiel, Regeln in Form von Zielen zu formulieren statt als detaillierte Arbeitsanleitungen. Das bewirke, dass Mitarbeiter auf Veränderungen reagieren könnten.

Es müsse eine neue Kultur mit einem hohen Anteil von Selbstreflexion innerhalb der Verwaltung her, fordert der Normenkontrollrat. Er plädiert für systemische und strukturelle Reformen. Keine punktuellen. Sie sollten nicht in der aktuellen Tagespolitik verschwinden.

Man könne nicht nur punktuell dort anpacken, wo der Druck übergroß geworden und die Krise bereits eingetreten ist. Wo die Bereitschaft zu echten struktur- und kulturverändernden Reformen vorhanden war, gab es die nachhaltigsten Reformen.

Der Normenkontrollrat verlangt zum Abbau der Bürokratie von der Bundesregierung strategische Weitsicht und langfristiges Denken, vorausschauendes und faktenbasiertes Regieren sowie den Aufbau einer krisenfesten und digitalen Verwaltung.

Elon Musk: „Es dürfte etwas weniger sein. Das wäre besser.“

Auch Elon Musk machte seine Erfahrungen im deutschen Bürokratie-Dschungel.

Im April 2021 machte er sich mit einem Brandbrief auf die deutsche Bürokratie öffentlich Luft. Musk beschwerte sich, dass die Behörden die Bauabschnitte seiner Fabrik in Brandenburg nur im Schneckentempo genehmigen würden. Für Tesla war der Schritt sehr ungewöhnlich. Im „Amicus Curiae Brief“ warf das Unternehmen den Behörden schleppende Genehmigungsverfahren vor. Auch die Struktur der Verfahren sei aus alter Zeit.

Die Brandenburger Regierung wunderte sich über den Brief. Es gebe doch eine Taskforce in der Staatskanzlei, die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Gigafactory koordiniert. Regierungsvertreter unterstellten Elon Musk, einen Sündenbock zu suchen – für den Fall, dass er seine eigene Deadline nicht einhalten kann.

Seitdem sind Spontanbesuche von Elon Musk in Brandenburg keine Seltenheit mehr. Treffen mit Ministerpräsident Dietmar Woidke und Wirtschaftsminister Jörg Steinbach sollen dabei helfen, die Fabrik bis Ende 2021 zum Laufen zu bringen.

Die umweltrechtliche Genehmigung steht Anfang Oktober noch aus. Doch das Landesamt für Umwelt, an dem es noch hängt, wird vermutlich im November grünes Licht für den Betrieb der Fabrik geben. Die Fabrik ist damit beschlossen, eine halbe Million Teslas könnten irgendwann pro Jahr vom Band laufen.

„Ich finde, es dürfte etwas weniger Bürokratie sein. Das wäre besser“, erklärte Musk gegenüber n-tv. Vorschriften seien unsterblich. Je länger eine Gesellschaft bestehe, desto mehr Vorschriften würden sich ansammeln. „Deshalb sollte es einen aktiven Prozess geben, Vorschriften wieder abzuschaffen, sonst werden es mit der Zeit immer mehr Vorschriften und irgendwann dürfen wir gar nichts mehr.“

Es bleibt ein Aufbau in Rekordzeit: Im November 2019 kündigte Elon Musk an, eine Fabrik in Deutschland zu bauen. Zwei Jahre später rückt die Genehmigung in greifbare Nähe.

Tesla sollte gratuliert werden: Das Unternehmen hat einen Gordischen Knoten der deutschen Bürokratie durchschlagen. 

 



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