Wahrer unserer gesellschaftlichen DNA: Bibliotheken in Gefahr

Die Vorzeichen der Notwendigkeit einer guten kommunalen Haushaltsführung haben sich geändert. Das bekommen unter anderem auch die Bibliotheken sowie deren Mitarbeiter und die Leser immer mehr zu spüren.
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Bibliotheken sind ein wichtiges Kulturgut jeder Nation. Allerdings sind sie vom Aussterben bedroht.Foto: iStock
Von 30. Oktober 2022

Als Kultur- und Begegnungsstätten müssen sich Bibliotheken in den letzten Jahren an den Leitkriterien eines Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmens orientieren. Der Deutsche Bibliotheksverband mahnt in seinem „Bericht zur Lage der Bibliotheken 2022/23“ demgegenüber, dass trotz wachsender Aufgaben der Spardruck in den Kommunen gerade in diesem Jahr steigt. Dies ergibt sich im Hinblick auf die noch nachwirkenden Corona-Maßnahmen und der Energiekrise durch den Krieg in der Ukraine.

Die kommunalen Verwaltungsinstanzen sehen zwar keinen Rationalisierungsdruck, aber die frei werdende Stelle in der dortigen Bibliothek wird nicht mehr neu besetzt. Das teilt beispielsweise die Pressesprecherin einer Mecklenburger Bibliothek mit. Die Bibliothek werde 20,6 Prozent des Personals nicht mehr wiederbesetzen oder es sei eine Sperre geplant, so der Deutsche Bibliotheksverband in seiner Gesamtauswertung.

Neben der Kürzung des bibliothekarischen Fachpersonals werden die Buchbestände dergestalt rationalisiert, dass überwiegend externe Bibliotheksdienstleister sie nach rein wirtschaftlichen Vorgaben bestücken. Diese stellen eine regalfertige Auswahl an massenkompatiblen Medien zusammen, die sich nach Rentabilität durch Nachfrage richten. Der Leser ist nunmehr auch konsumierender „Kunde“, das Bibliotheksmedium ein möglichst optimal zu normierendes „Produkt“.

Bibliothekare befürchten, dass am Ende der Markt das Leserverhalten bestimme und nicht mehr der Leser und das mit ihm zusammen agierende Personal der jeweiligen Büchereien. Das verfassungsrechtlich verbriefte Grundrecht auf eine von wirtschaftspolitischen Kriterien unabhängige Bildung der Leserschaft (Grundgesetz Artikel 5, Absatz 1) sehen die Mitarbeiter von Bibliotheken, aber auch verschiedene Bürgerinitiativen einstimmig in Gefahr. Laut dem Berliner Arbeitskreis „Kritische Bibliothek“ speise diese sich durch eine „verordnete […] Kosten-Leistungsrechnung“ und den „Privatisierungstendenzen“ beim Bestandsaufbau. Die gleichsame „ISO 9001“-Kategorisierung des Lesens bahne einem wirtschaftlich normierten Denken den Weg, so die Kritiker. Den Bibliotheken und dem Leser sei somit eine eigenverantwortliche und letzthin bedarfsgerechte Medienauswahl abgesprochen.

Auslagerung der Medienbeschaffung

Bibliothekarische Fachkräfte und eigens für die Bücherauswahl zuständige Lektoren dürfen beispielsweise in Berlin künftig nur noch 6.000 von 30.000 Medien selbst bestellen. Der Kernbereich der Zentralen Landesbibliothek hat den Buchhandelskonzern Hugendubel mit der Medienzusammenstellung beauftragt (2018). 20 Prozent des Bibliotheksetats soll in Berlin in die regionalen Buchhandlungen fließen. Das erweise sich für diese, so die Kritiker der Bürgerinitiativen zur Rettung des bibliothekarischen Gemeinguts, wie auch für viele kleine Verlage und für weniger bekannte und gängige Literatur als existenziell prekär.

Die Verlags- und Bücherstadt Berlin stehe wie alle kommunalen Verwaltungen in einer Zerreißprobe zwischen kostenintensiver, aber notwendiger Kulturpflege und schmaler Haushaltskasse. Die Bibliothekare versuchen zwar, mit den gering zur Verfügung stehenden Mitteln den unaufhaltsamen Kürzungen Herr zu werden. Allerdings werden viele kleinere Bibliotheken am Ende doch geschlossen.

Das Fortbestehen der Kurt-Tucholsky-Bibliothek im Berlin/Prenzlauer Berg beispielsweise ermöglichte sich nur durch das Engagement von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Im ersten Blick gewiss lobenswert, aber wiederum auch Zeichen einer zweifelhaften Tendenz, so die Bibliothekare.

Das erste anfänglich nicht bedachte Problem zeigte sich, als Ehrenamtliche plötzlich Zugang zu empfindlichen Daten hatten. Ungeschultes Personal übernahm Aufgaben, die das Berufsbild „Bibliothekar“ in seiner notwendigen Professionalität von einem Tag zum anderen als völlig überflüssig erscheinen ließ. Eine ehemalige Mitarbeiterin empfand es als Eindringen in den fachlich mühevoll aufgebauten Bestand.

Durch die Auslagerung der Medienbeschaffung fügen sich auch hier wie andernorts die jahrelang erarbeiteten Bestände neu. Medien, die sich durch die neu eingeführte Ausleihquote „unter Norm“, also als wirtschaftlich ineffizient erwiesen, werden aussortiert. In dieser Folge zeigt sich, was nicht im Fokus des „Kunden“ steht. So etwa Lyrik, wenig gängige, umfassende Märchen- und Sagenbände, ältere und durchaus kostbare Ausgaben von Literatur vergangener Epochen.

Literatur als Bestandteil der kulturellen DNA

Auch eine damals künstlich erzeugte hohe Ausleihstatistik engagierter Nutzer wie in der Berliner Kurt-Tucholsky-Bibliothek konnte das Verschwinden der im Randbereich der Lesergunst stehenden Bände nicht verhindern. Ebenso befürchten die Leiter der Warener Bibliothek, dass es das Klassiker- oder Märchenregal bald nicht mehr geben könnte. Die Pressestelle der Warener Verwaltung antwortet in einer schriftlichen Stellungnahme demgegenüber: „Diesen Interessenbereich gibt es nach wie vor.“

Die Berliner Kulturverwaltung dementiert in gleicher Weise eine rein marktorientierte Kürzung des bibliothekarischen Bestands, da dieser sowieso immer wieder neu aufgebaut und sortiert werden müsse. Jedoch haben sich die bisherigen Auswahlinstanzen und -kriterien entscheidend geändert. Bibliothekare und engagierte Leser befürchten, dass dem Verschwinden aus den Regalen auch ein Verschwinden aus dem kulturellen Gedächtnis folge.

Bibliotheken sehen auch eine ihrer wesentlichsten Aufgaben als Bildungs- und Begegnungsstätte in der kulturellen Dokumentationspflicht und Traditionspflege. Nach ihrer Auffassung könne ein rein wirtschaftliches Qualitätsmanagement der Literatur als Bestandteil der kulturellen DNA nur unzureichend gerecht werden. Dafür brauchen die Bibliotheken nach Ansicht Volker Hellers, dem Bundesvorsitzenden des Deutschen Bibliotheksverbands, „mehr denn je politische Unterstützung“, aber auch den Rückhalt eines jeden Einzelnen. 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 68, vom 29. Oktober 2022.



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