Auschwitz und Flossenbürg: 1,2 Millionen Menschen sollen nicht namenlos bleiben

Die Forscher der Gedenkstätte Auschwitz konnten seit Kriegsende 60 Prozent der dort damals registrierten 400.000 Gefangenen identifizieren. Und das, obwohl die SS-Behörden im Januar 1945 die Vernichtung aller während des Betriebs von Auschwitz erstellten Dokumente befahlen.
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Die Aufzeichnungen des SS-Hygieneinstituts stammen aus der Zeit zwischen April 1943 und dem 12. Januar 1945. Sie wurden am Institut in Oświęcim erstellt, das hygienische und bakteriologische Forschungen und Analysen für SS-, Wehrmachts- und Polizeieinheiten sowie für das Konzentrationslager durchführte. Die Dokumente enthalten die Namen der Personen, von denen Proben analysiert wurden (einschließlich der Angehörigen der SS-Garnison Auschwitz I und der Häftlinge von Auschwitz II-Birkenau und der Außenlager).Foto: Mirosław Maciaszczyk/auschwitz.org
Von 24. Januar 2020

Mehr als 1.200.000 Einträge wurden bei der Nachkriegsdokumentation von der digitalen Abteilung der Gedenkstätte Auschwitz bisher erstellt. Von den 400.000 im deutschen KZ registrierten Häftlingen konnten bisher mehr als 60 Prozent identifiziert werden. Weniger Erfolge gibt es bei den rund 900.000 Juden, die unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. Ihre Identitäten könnten in Zukunft möglicherweise mithilfe von Transportlisten rekonstruiert werden.

„Eines der wichtigsten Ziele des Lagers ist die Sammlung von verstreuten Unterlagen über die Transportlisten nach Auschwitz-Birkenau“, sagt der Direktor des Museums, Dr. Piotr M. A. Cywiński, auf der offiziellen Webseite des Museums.

Unsere Mission ist einfach: so viele Namen wie möglich in unser kollektives Gedächtnis zurückzubringen“, betonte Piotr Cywiński.

Das Problem sei, dass es bei 900.000 Juden gar keine Aufzeichnungen über die Opfer gibt. Nur die Transportlisten können bei der Ermittlung der Namen überhaupt helfen: „Wir dürfen nicht vergessen, dass etwa 900.000 Juden, die in Massentransporten aus dem Deutsch besetzten Europa deportiert wurden – Frauen, Kinder und Männer – unmittelbar nach der Ankunft im Lager ohne Registrierung in den Gaskammern ermordet wurden“, bestätigt der Direktor.

Transportlisten helfen bei der Identifizierung

Die Informationen über die in Auschwitz registrierten Personen wurden mit den Daten aus den Transportlisten zusammengeführt und in eine Datenbank eingepflegt. Laut der Webseite der Gedenkstätte wird die Datenbank ab Mai 2020 mit 420.000 Namen aus den Transportlisten ergänzt. Krzysztof Antończyk, Leiter des digitalen Archivs, betont:

Seit mehr als 20 Jahren führen wir mühsame Digitalisierungsarbeiten durch, die einerseits auf die Erhaltung der Quelldaten-Archive und andererseits auf die Wiederherstellung der Namen der Opfer abzielen.“

Die Arbeit konzentriere sich nicht auf Dokumente, sondern auf Personen, Namen, Nummern, Geburtsdaten und andere oft sehr fragile Spuren der Menschen. Die Identitäten der Inhaftierten und Ermordeten werden in Form von kurzen biografischen Einträgen zusammen mit einer Liste der Archivquellen und deren Beschreibung auf der Website des Museums veröffentlicht. Digitale Reproduktionen von Dokumenten werden in Form von hochauflösenden Scans erstellt.

Bei einem eigenen Test mit dem Nachnamen „Müller“ erwies sich die Datenbank als leicht bedienbar und ergebnisreich. Es wurden 312 Einträge mit relevanten Daten angezeigt, die durch das Projekt ermittelt wurden.

Menschen aus mehreren Dutzend Ländern in den Datenbanken vertreten

In den Datenbanken sind Bürger aus mehreren Dutzend Ländern aufgeführt. Sie enthalten Daten von den ältesten Personen, die 1882 geboren wurden, bis hin zu Kindern, die in den letzten Tagen vor der Befreiung im Lager geboren wurden, sagt Antończyk. Zurzeit arbeitet das Archiv bei diesem Forschungsprojekt mit dem Arolsen-Archiv, den bayerischen Gedenkstätten Flossenbürg und Dachau, Yad Vashem und der Shoah Stiftung zusammen.

„Im Rahmen dieser Zusammenarbeit haben wir insgesamt 410.000 Scans von Dokumenten und mehr als 250.000 Einträge von Deportierten erhalten. Die Rekonstruktion bezieht sich nicht nur auf die Identität einzelner Personen, sondern auch auf ganze Häftlingstransporte“, erklärt das Museum in Auschwitz.

Julius Scharnetzky, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Flossenbürg, sagt Epoch Times: „Das Projekt ist eine wegweisende wissenschaftliche Kooperation über die Landesgrenzen hinaus. Die Kooperation ermöglicht es uns, in den einzelnen Einrichtungen gesammelte Wissen miteinander zu verknüpfen. Dadurch gelingt es, die Geschichte der Lagerkomplexe Auschwitz, Flossenbürg und Dachau tief greifend zu erforschen.“

Eine große Herausforderung dabei sind die vorhandenen Akten. Diese sind von den Tätern angelegt worden. Zwar wurden sämtliche Häftlinge in den Verwaltungen der Konzentrationslager erfasst, jedoch spielte es für die SS nur eine untergeordnete Rolle, die Namen der Häftlinge in der tatsächlichen Schreibweise zu erfassen“, so Scharnetzky.

Die meisten Gefangenen wurden zwischen den Lagern hin- und hergeschickt, was die Identifizierung der Namen noch schwieriger macht. Auch die Herkunft der Namen stellte bei der Erstellung der Datenbank eine Herausforderung dar: „Vor allem Namen, die nicht Deutsch waren, wurden häufig eingedeutscht. Aufgrund der Vielzahl an Dokumenten, die zu einem Gefangenen angelegt wurden, stimmen die angegeben Namen nicht immer überein“.

Die Dokumente sind schwer zugänglich

Die SS-Behörden befahlen im Januar 1945 die Vernichtung aller während des Betriebs von Auschwitz erstellten Dokumente (Link). „Es sollte eine totale Vernichtung der Akten sein – neben der physischen Vernichtung in Gaskammern und Verbrennungsöfen beinhaltete der Plan auch die Auslöschung der Identität und des Gedächtnisses der Opfer“, so weiter auf der Webseite. Schätzungen zufolge wurden über 90 Prozent der Quellen vernichtet.

Auf unsere Frage, ob dies auch in Flossenbürg der Fall war, sagte Julius Scharnetzky:

Auch in Flossenbürg wurde ein Großteil der Akten kurz vor Auflösung des Lagers vernichtet. Aber eben nicht alles. Allerdings geben die erhaltenen Akten nicht nur Auskunft über Flossenbürg, sondern mitunter auch über andere Lager. Das System der Konzentrationslager war ein großer bürokratischer Apparat. Der Sitz der Verwaltung war in Oranienburg. Anweisungen gingen top down [Anm. der Red.: von oben nach unten]. Anweisungen, die mehrere Lager betrafen, hatten demzufolge auch mehrere Empfänger.“

Die Transportlisten dienen bei der Identifizierung oft als einzige Quelle. Diese Listen gibt es sowohl im Abgangslager als auch im Aufnahmelager, so Herr Scharnetzky. „Zwar hat es aufgrund der Aktenbeseitigung zu Kriegsende große Verluste gegeben, aber da viele Dokumente in mehrfacher Ausführung an unterschiedlichen Orten existiert haben, ist die Überlieferungslage doch besser als man meinen möchte.“

Er wies auf das Problem hin, dass diese Dokumente schwer zugänglich sind, weil „die einzelnen Gedenkstätten in der Regel nur Zugriff auf ihren eigenen Bestand und nicht auf den der anderen Gedenkstätten haben. Hinzu kommen noch unterschiedliche Archivrechte, die die Zugänglichkeit und Nutzung nicht immer vereinfachen.“ Daher ist die Kooperation zwischen den einzelnen Gedenkstätten so essenziell.

„Das Projekt mit der KZ-Gedenkstätte Auschwitz ist ein erster Schritt in diese Richtung. Durch die Verknüpfung des Wissens beider Einrichtungen war die Rekonstruktion einer Vielzahl von Namen und Transporten möglich“, so der wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung Flossenbürg.

Die Daten können weltweit abgerufen werden

„Die Mission des Museums in Auschwitz ist so viele Namen wie möglich in unser kollektives Gedächtnis zurückzubringen“, sagt Julius Scharnetzky. Er sieht das zentrale Anliegen jeder Gedenkstätte „in der Erinnerung an die Opfer und in der Rekonstruktion der Namen und Identitäten.“

Er betont die Wichtigkeit der Zusammenarbeit der Gedenkstätten: „Die Memorial Archives bilden eine Forschungsplattform, die die Datenbanken unterschiedlicher Gedenkstätten auf nationaler und internationaler Ebene miteinander verknüpft und somit den Zugang erleichtert.“

Die Memorial Archives werden von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg entwickelt und administriert. „Die Gedenkstätten bleiben dabei ‚Herr‘ ihrer eigenen Daten, gleichzeitig wird der Zugang für Forscher*innen jedoch erleichtert. Der Nutzer kann irgendwo auf der Welt sitzen und bekommt über die Memorial Archives Informationen zu Häftlingen, die sich aus den Datenbanken der unterschiedlichen Gedenkstätten speisen“, sagt Herr Scharnetzky der Epoch Times. Und weiter:

Die Memorial Archives ist für uns eines der zentralen Arbeitstools. In der Datenbank werden die Quellen zum Lagerkomplex Flossenbürg verknüpft und darüber für die Forschung zugänglich gemacht.“

Laut dem Direktor des Museums in Auschwitz sprechen ehemalige Häftlinge oft darüber, dass sie nie daran geglaubt hätten, dass die Wahrheit über die Lager hinausgehen würde, sie haben gedacht, „dass ihre Namen vergessen werden – und doch hat jeder Mensch einen Namen.“



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