Aikido und Konflikte

Titelbild
(Warriors for Peace – Pilipinas; Pax Christi Institute)
Von 27. Juni 2008

Februar 2008. Ein Dorf in den Bergen im Süden von Negros Island. Der Blick gleitet über spärlich bewaldete Täler und Anhöhen bis zum Panay Gulf, doch es findet sich kein vernünftiger Grund, ihm nachzufolgen: Der Weg bis zum Meer, ein guter Tagesmarsch, würde den Wanderer durch eine einsame Gegend, in der er kaum auf saubere Quellen und allenfalls auf Rebellen der New People’s Army (NPA) stieße, führen. Beides ist ein Problem in den ländlichen und Bergregionen. Trinkwassermangel stellt nur eine der gravierenden Folgen infrastruktureller Unterentwicklung dar. Und ein Zusammentreffen mit der NPA, dem bewaffneten Arm der Communist Party of the Philippines, ist zumal dann nicht ratsam, wenn man wie die Menschen des Dorfes von einem Territorium stammt, das sich der Revolutionary Proletarian Army – Alex Boncayao Brigade (RPA-ABB) zugehörig fühlt beziehungsweise unter deren Kontrolle steht. RPA-ABB und NPA hatten sich Anfang der 1990er Jahre in einem blutigen Abspaltungsprozess voneinander losgesagt. Als erstere dann 2000 ein Friedensabkommen mit der Regierung traf, setzte die zahlenmäßig weitaus stärkere und landesweit operierende NPA den Kampf für einen Systemwechsel fort. Negros ist Konfliktgebiet.

Das Dorf mit seinen etwa zwanzig Hütten und hundert Einwohnern, um die es hier geht, gehört zu den direkten Opfern des jahrzehntelangen Bürger- und Guerillakriegs. Das Besondere an ihm ist, dass es seit etwa zwei Jahren an einem Projekt in der Konfliktarbeit beziehungsweise des Zivilen Friedensdienstes teilnimmt, das von der philippinischen Nichtregierungsorganisation (NGO) „Warriors for Peace“, in Kooperation mit der philippinischen und der deutschen Sektion von Pax Christi International, betrieben wird. Ungewöhnlich ist auch die Methode, derer sich Warriors for Peace bedient. Ihr Programm ist das erste und bisher einzige auf den Philippinen, das die Kampfkunst Aikido in der Konfliktarbeit mit Kombattanten und Communities anwendet. Weltweit dürfte es nicht viele Friedensprojekte geben, die dies mit einem vergleichbar umfassenden Ansatz tun.

Aikido wurde als Kampfkunst seit den 1920er Jahren in Japan entwickelt und wird heute auf allen Kontinenten praktiziert. Es lehrt, Angriff und Aggression in einer Weise zu handhaben, in der niemand Schaden nimmt. Mit Blick auf Kampftechniken bedeutet das Griff-, Hebel- und Wurf-Techniken anstelle von Schlag- oder Tritt-Techniken. Der Aikidoka trainiert nicht den Angriff; allein zu Trainingszwecken bestehen entsprechende Techniken. Anstatt eine Konfrontation mit zusätzlicher Gewalt aufzuladen, sucht er die Energien des Opponenten aufzunehmen und zu nutzen, um diesen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die runden, fließenden Bewegungen, in denen Kräfte leichter zu kontrollieren sind und die Akteure miteinander zu verschmelzen scheinen, lassen sich durchaus sinnbildlich deuten: Durch die Harmonisierung unterschiedlicher Positionen werden Aggressionen auf ungefährlichere Bahnen gelenkt und schließlich neutralisiert.

Im Konfliktgebiet in den Bergen von Süd-Negros. (Peace Agents Foundation)
Im Konfliktgebiet in den Bergen von Süd-Negros. (Peace Agents Foundation)

In der Konfliktarbeit, wie sie etwa durch Projekte des Zivilen Friedensdienstes umgesetzt wird, geht es um die Entwicklung und Anwendung gewaltfreier Methoden zur nachhaltigen Lösung gewaltvoller Konflikte. An letzteren besteht in Negros, wie in den Philippinen insgesamt, kein Mangel. Soziale und militärische Gewalt ist besonders auf dem Land allgegenwärtig und hat viele Gesichter: Rebellen; Armee und Polizei; paramilitärische Volunteer-Einheiten; Landlords, politische Strongmen, Clan-Chefs und ihre Privatarmeen. Die Konfliktursachen sind strukturell angelegt, nicht nur, aber ganz wesentlich in extremen sozioökonomischen Ungleichgewichten zwischen Bevölkerungsschichten und Regionen; und sie spalten die philippinische Gesellschaft über die militärische Auseinandersetzung hinaus.

„Cash crops“ führen zu Landlosigkeit und Armut

Ein zentraler Konfliktinhalt auch in Negros ist das Land, genauer gesagt: „Land, um das Zuckerrohr anzubauen“, das Mitte des 19. Jahrhunderts von einem britischen Geschäftsmann „eingeführt“ worden war und den Kolonialmächten Antwort auf die Frage gegeben hatte, wie sich die Ressourcen an Natur und Menschen am produktivsten ausbeuten ließen. Vor allem in der westlichen Provinz Negros Occidental ist das Zuckerrohr zur Monokultur geworden: Hier werden „Cash crops“ angebaut, nicht für den Lebensunterhalt, sondern den Export. Landbesitz macht den Wohlstand einiger, Landlosigkeit die Armut vieler aus. Einige hunderttausend Zuckerrohrarbeiter und ihre Familien wissen kaum von der Hand in den Mund zu leben. Die vor 20 Jahren gestartete Landreform läßt nach wie vor viele Erwartungen der armen ländlichen Bevölkerung unerfüllt.

Wenn die Mitarbeiter von Warriors for Peace aus Bacolod City, der Provinzhauptstadt im Norden, zu dem Dorf aufbrechen, dann wissen sie, daß ihre Bemühungen nur ein Schritt auf dem Weg zu einer Transformation des Konfliktes sein können, daß diese aber eine entscheidende Etappe auf dem noch längeren Weg zur Beseitigung der Konfliktursachen bildet. Zu fragen ist, wie an die Stelle der Kultur der Gewalt eine Kultur der aktiven und gewaltfreien Konfliktbewältigung treten kann, um neue Perspektiven zu eröffnen, und was diese Perspektiven ausmacht, letztlich: was den Frieden ausmacht.

Ein Dorf im Konfliktgebiet (Peace Agents Foundation)
Ein Dorf im Konfliktgebiet (Peace Agents Foundation)

Frieden – das bedeutete für die Dorfbewohner zunächst einmal, daß der Kampf gegen die Regierungskräfte eingestellt wurde. Frieden, das wurde rasch klar, bedeutet zudem, zu warten. Erst vor kurzem gingen die Behörden dazu über, in Raten die im Friedensabkommen zugesicherten Gelder freizugeben, sodass in naher Zukunft wohl tatsächlich Häuser aus Stein gebaut, Brunnen und Wasserleitungen angelegt, Straßen gepflastert werden. Auf der anderen Seite, auch das lag nahe, haben die Kämpfer der RPA-ABB nach 2000 nicht sämtliche Waffen abgegeben, um sich auf die Vertragstreue von Armee und Regierung und deren Schutz vor der NPA zu verlassen. Friedensarbeit – das bedeutet Arbeit in und mit Konflikten. Sie beginnt damit, die Bedrohungen, unter denen die Menschen leben und die von ihnen ausgehen mögen, als Ausdruck ihrer Geschichte von Gewalt und Gegengewalt, als Teil der Realität zu akzeptieren; einer Realität, die es zu verändern gilt. Das Trainingsprogramm in Aikido setzt an diesem Punkt an: Als Kampfkunst verkörpert es eine realistische Dimension in der Lebenswelt von Menschen, die sich mit passiven wie aktiven Gewalterfahrungen auseinanderzusetzen haben.

Hierin liegt ein Risiko. Es liefe dem Sinn des Programms zuwider – und zeitigte außerdem fatale Außenwirkungen – wenn die Unterweisungen in Aikido als Nahkampfausbildung für Kombattanten wahrgenommen würde. Als Kampf-Kunst läuft Aikido Gefahr, mißbraucht oder auf den „Kampf“ im Sinne eines gewalttätigen Ausleseverfahrens reduziert zu werden.

Verantwortung für den anderen übernehmen

In der Tat dauert es allenfalls zwei oder drei Trainings, bis Teilnehmer die Erfahrung machen, dass es sich hier um eine etwas andere Kampfkunst handelt. Viel hängt davon ab, wie Aikido unterrichtet, seine Techniken demonstriert und eingeübt, davon, daß zugrundeliegende ethische Prinzipien und ihre Praxisrelevanz vermittelt werden.

In Konflikten geht es nicht zuletzt um soziale Beziehungen. Aikido lehrt, (mit-) verantwortlich zu sein für das, was „dem Anderen“ widerfährt. Es ist aktiv, aber nicht aggressiv. Und es wirft Fragen auf. Nach dem Warum: Was sind die Ursachen des Konflikts? Nach dem Wohin: Was folgt nach dem unmittelbaren Konflikt? Vergeltung? Ein Leben in sicherer Distanz voneinander? Oder wenigstens eine Form friedlicher Koexistenz mit Entwicklungspotential? Und nach dem Wie: Welche Optionen neben der Antwort mit Gewalt besitzen wir?

Die Umsetzung der „Aikido-Methode“ verlangt regelmäßiges Training unter der Leitung erfahrener Aikidolehrer, die von Fachleuten in der Konfliktarbeit begleitet und beraten werden. Das Training in dem Dorf findet, wie im Aikido üblich, auf großen Matten statt. Je nach Wetterlage werden sie auf dem Dorfplatz oder zu seiner Seite in der Trainingsstätte ausgelegt, dem „Dojo“, das in diesem Fall aus einer schlichten Dachkonstruktion aus Bambus, Bananenblättern und Plastikplanen besteht.

Haben die Teilnehmer sich auf den Matten versammelt, dann erfahren sie Prinzipien eines konstruktiven Umgangs mit Konflikten unmittelbar. Diese physische Erfahrbarkeit macht einen großen Vorteil des Aikido aus. Potentiell steht sie jedem offen, unabhängig von Geschlecht, Generation, Bildungsniveau, Weltanschauung, religiös-ethnischer Herkunft: in einem Community- und Kombattantentraining in den negrensischen Bergen oder – weitere Programmpunkte von Warriors for Peace – in einer Kaserne der Armee oder Polizei oder in der Kids Summer Class während der Sommerferien in Bacolod City. Die notwendigen Transformationsleistungen sind in größerem Maße von sozialen und kulturellen Faktoren abhängig. Schwieriger als die Erfahrung selbst zu machen, ist es, sie aus dem Dojo in den Alltag zu übertragen, also aus dem Erfahrenen und Gelernten Handlungsstrategien zu erschließen. Es wäre naiv – und langfristig kontraproduktiv – in kurzer Zeit neue Bewußtseinslagen oder feststehende Verhaltensmuster produzieren zu wollen. Aikido in der Konfliktarbeit, jedenfalls in nachhaltig gewaltversehrten Gesellschaften, benötigt Projekte mit einem angemessenen Zeitrahmen. Es geht um Jahre, wenigstens.

Wer von Anfängern geworfen wird, muß das Fallen beherrschen (Warriors for Peace – Pilipinas)
Wer von Anfängern geworfen wird, muß das Fallen beherrschen (Warriors for Peace – Pilipinas)

Die Eröffnung von alternativen Denkweisen und Optionen zur Gewalt reicht über den Konflikt hinaus, denn kein Konflikt, ob mit oder ohne Gewalt ausgetragen, steht isoliert für sich. Neue Handlungsoptionen, wollen sie erprobt werden, haben sich innerhalb politischer, sozioökonomischer und kultureller Rahmenbedingungen zu behaupten. Frieden, das gehört inzwischen zum Wissensfundus der (meisten) Konfliktarbeiter, ist mehr als die Abwesenheit von direkter Gewalt. Entwicklungsarbeit und Konfliktarbeit sind in aller Regel nicht voneinander zu trennen – auch wenn sie zumal aus der Sicht westlicher Geberstaaten häufig eigenständig als Entwicklungszusammenarbeit (Development Cooperation ) und Ziviler Friedensdienst (Civil Peace Service) firmieren.

Aikido ist ein kreativer Weg im Umgang mit Konflikten. Und es bereitet Wege. Wenn die Menschen „auf der Matte“ zusammenkommen, um ein gewaltfreies Miteinander zu erfahren, ist schon etwas gewonnen. Dies ist ein erster Schritt. In den nächsten Jahren wird sich erweisen, ob und wie sich Aikido in der Konfliktarbeit bewährt und weiterentwickeln und mit anderen Strategien der Konflikt- und Entwicklungsarbeit vernetzen läßt.

Über den Autor:

Dr. Alexander Otto arbeitet gegenwärtig als Berater und Volunteer im Zivilen Friedensdienst für das Pax Christi Institute in Bacolod City. Er ist außerdem Director of Operations der Peace Agents Foundation, Frankfurt am Main.
www.WarriorsforPeace.com
www.PaxChristiInstitute.org
www.PeaceAgentsFoundation.org

Text erschienen in Epoch Times Deutschland Nr. 26/08

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