INTERMISSION – auf der Suche nach Zeit-Freiheit

Von 16. Juni 2013

Die Etymosophie-Kolumne von Roland R. Ropers erscheint wöchentlich exklusiv in der EPOCH TIMES Deutschland.

In der englischen Sprache benutzte man lange Zeit das Wort „intermission“ für Pause, speziell in Musik- und Theaterveranstaltungen. In diesem Wort wird deutlich, das zwischen allen Aktivitäten, die oftmals sehr geräuschintensiv sein können, ein Innehalten und Stillwerden nötig ist, wo uns möglicherweise sehr Wesentliches vermittelt wird. Das lat. Wort „intermissio“ wird gewöhnlich mit Unterbrechung übersetzt, aber genau genommen geht es um die Zwischenbotschaft.

Mit Zeit (lat. tempus – steht auch für Wetter) füllen wir die Leere, vor der uns graut. Die Zeit lässt sich nicht auf etwas anderes zurückführen, es gibt nichts hinter oder vor ihr, es gibt nur etwas dazwischen. Dieses das Dazwischen-Sein, die Zwischen-Zeit (engl.: mean-time, frz.: entre-temps) ist ein interessantes Phänomen, mit dem wir oft zu tun haben: was soll ich in der Zwischen-Zeit machen? Das englische Wort mean kann hier doppeldeutig aufgefasst werden: das englische Adjektiv mean steht für mittelwertig, während das Verb to mean heißt: von Bedeutung sein.

Die Zwischen-Zeit, die geschenkte Zeit ist Leere und daher von so großer Bedeutung.

Wir konstruieren Gewissheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die Zeit, die wir messen, sondern wir messen Veränderungen, Prozesse. Die Uhr (im Französischen: le montre, sie zeigt etwas; im Englischen: watch, sie wacht über etwas) misst demnach nicht die Zeit, vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als Zeit bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren (Stunde, Minute, Sekunde). Daher fragt der Franzose nie nach der Uhr-Zeit, sondern nach der Stunde: Quelle heure est-il? Unser Zeit-Bewusstsein entwickelt sich in enger Verbindung mit Entwicklungsprozessen in der Umwelt. Dort, wo sich nichts verändert, herrscht Zeit-Losigkeit. Wir leben heute in immer größerer Zeit-Not anstatt im Zeit-Wohlstand. Wir meinen Zeit besitzen zu können und unterliegen dabei der größten Illusion.

Aber trotz vermeintlicher Zeit-Nöte wird uns einmal im Jahr ein Zeit-Geschenk gemacht. Leider erleben es nur zu wenige bewusst genug. Jedes Jahr der gleiche Trick: im Frühjahr nimmt man uns eine Stunde und im Herbst erhalten wir sie wieder zurück. Im Englischen nennt man dies: daylight saving, das Retten von Tageslicht. Dass wir Zeit geraubt bekommen, das kennen wir nur allzu gut, das passiert uns täglich, nicht nur bei der jährlich wiederkehrenden Einführung der Sommerzeit. Dass wir aber mit einer Stunde beschenkt werden, das ist in unserer High-Tech-Zivilisation eher selten.

Haben wir nicht zeitlebens (engl.: all one`s life, lat.: per omnem vitam) die göttliche Aufgabe und Herausforderung unsere Zeitlichkeit (engl: temporality) zu transzendieren, um Zeit-Ewigkeit zu erfahren?

Wir sprechen im Alltag oft davon, dass die Zeit stehen geblieben ist. Zeit ist kein Objekt, kein Gegenstand, sie ist ein Orientierungsmittel, um Sicherheit in der sich wandelnden Welt zu gewinnen und zu schaffen. Es gibt viele Zeiten, denn alles will seine Zeit haben.

Zeit-Genossen und Zeit-Genossinnen sind Menschen, die die Zeit genießen und nicht darüber lamentieren, ob sie keine Zeit haben oder finden, unter Zeit-Druck sind oder ob sie Zeit zu viel haben.

Im Zustand der Zeit-Losigkeit, der Zeit-Freiheit, des Nicht-Verhaftet-Seins an Raum und Zeit, kommt unser wahres Wesen zum Vorschein. Es scheint von innen nach außen; das ist das Phänomen der Aus-Strahlung.

Ein Meister kennt keine Zeit-Not. Er lebt zeitfrei und zeitlos, präsent – von Vergangenheit und Zukunft unberührt.

Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, nach dem ewigen Leben im Hier und Jetzt ist groß. Kein Geldvermögen vermag diese Gier zu befriedigen. Ein spiritueller Meister befriedigt weder Sucht noch Gier mit werbeträchtigen Heilsversprechen; Heilsverkünder, die mit dem Lockruf einer paradiesischen Zukunft ihr Geld verdienen, sind falsche Propheten. Der authentische, weise Meister zeigt den Pfad zum ewigen Leben in der Gegenwart auf; den wagemutigen Schritt in die Leere muss jeder Schüler selbst machen. Dieser Schritt ist kein survival training, kein Feuerlaufen, oder waghalsiges Sporterlebnis, sondern der Beginn der Weg-Richtung: von der Peripherie zurück ins Zentrum, vom Außer-sich-Sein zum Bei-sich-Sein, von der Entwurzelung zur Verwurzelung (engl.: back to the roots, returning to our original source), von Vergangenheit und Zukunft zurück in die Gegenwart, die Präsenz.

Das Zeit-Management ist eine Illusions-Veranstaltung mit dem Ziel, die Zeit zur Ware, zum Marketingartikel zu machen. Je mehr Zeit wir planen, umso geringer wird unser Gestaltungsrahmen. Denn über Zeit zu reden (und diese zu kalkulieren) braucht man Zeit. Wir erhöhen unsere Zeitnot, indem wir uns mit unserer Zeitnot beschäftigen. Das Management der Zeit gleicht dem Kampf mit der Hydra, jenem Ungeheuer, dem für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen. Dieses Bild lässt sich auf viele derzeitige Probleme in unserer Gesellschaft anwenden.

Die Sucht nach dem Zeit-Reichtum macht uns immer ärmer an Zeit. Nicht die große Freiheit erwartet uns nach erfolgreichem Zeit-Management, sondern die Diktatur des Terminkalenders. Ein leerer Platz im Terminkalender führt zu Schuldbewusstsein. Der horror vacui, der Schrecken vor der Leere muss mit allen Mitteln gemieden werden. So wird der nach Gottes Ebenbild geschaffene Mensch zunehmend zu einer Mülltonne, voll gestopft mit Terminen, ungesunden Lebensmitteln, Meinungen, Phantasien, Süchten, Bildern, Ängsten und Sorgen. Wo soll das nur hinführen?

Im 35. Kapitel des „Tao Te King“ von Lao Tse lesen wir:

„Alle Menschen werden zu dem kommen,
der sich an das Eine hält,
denn dort liegen Ruhe und Glück und Frieden begründet.
Vorüberziehende mögen für Musik und ein gutes Essen haltmachen.
Einer Beschreibung des TAO scheint es jedoch an Gehalt oder Geschmack zu fehlen.
Man kann es nicht hören, kann es nicht sehen.
Und doch lässt es sich nicht ausschöpfen.“

 

{R:2}Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag

Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers

Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers

Roland Ropers erreichen Sie mit: [email protected]

 

 



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion