Wohin treibt uns die Angst vor dem Sterben oder die Egomanie im Leben?

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Das aktuelle Buch „selbst bestimmt sterben“ von Professor Dr. Gian Domenico Borasio will dazu beitragen, dass in unserer „modernen“ Gesellschaft intensiver über die Tragweite eines selbst zu verantwortenden Lebens nachgedacht wird. Es ist keine Anleitung zum Suizid!Foto: Ausschnitt Cover C.H. Beck Verlag
Von 13. Oktober 2014

Eigentlich geht es mehr um das Leben, als um den Tod. Mehr um die Selbstverantwortung im Leben als um die Herrschaft über das Sterben.

Das aktuelle Buch „selbst bestimmt sterben“ von Professor Dr. Gian Domenico Borasio will dazu beitragen, dass in unserer „modernen“ Gesellschaft intensiver über die Tragweite eines selbst zu verantwortenden Lebens nachgedacht wird. Ausgerechnet in der Woche, als Udo Reiter, der ehemalige MDR Intendant, sich das Leben nahm, erschien im C.H. Beck Verlag das Buch von Borasio mit dem etwas unglücklichen Titel „selbst bestimmt sterben“. Es ist keine Anleitung oder Aufforderung zum Suizid!

Professor Dr. Gian Domenico Borasio, 1962 in Novara/Italien geboren, gehört zu den bedeutendsten Palliativmedizinern in Europa. Sein früheres Buch „Über das Sterben“ wurde von der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ als „Wissensbuch des Jahres 2012“ in der Kategorie „Zündstoff“ ausgezeichnet.

Borasio schreibt:

„Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die Medizin durch die Einführung immer neuer technischer und pharmakologischer Möglichkeiten eine enorme Steigerung ihrer therapeutischen Optionen. Davon profitieren wir alle, denn unsere Lebenserwartung hat sich durch diese Entwicklung ebenso gesteigert wie die Wahrscheinlichkeit, nach einem Autounfall durch den koordinierten Einsatz von Rettungsdiensten, Unfallchirurgen und Intensivmedizinern gerettet zu werden. Leider hat die Euphorie über die neuen medizinischen Errungenschaften bei den Ärzten so etwas wie ein Allmachtsgefühl entstehen lassen…“

Die längere irdische Verweildauer des Menschen hat zu katastrophalen Auswirkungen geführt. Die oftmals entstehende Leidensendphase verursacht Kosten in einer ungeahnten Größenordnung. Der konsumnarkotisierte Bürger der Industriegesellschaft hat für seinen Lebenserhalt die Natur versklavt. Tiere (Geflügel, Rinder, Schweine u.a.) werden in Rekordzeit gemästet mit Hilfe von nicht gerade unschädlichen Pharmaka, Gemüse wird in fabrikartigen Anlagen höchst effizient produziert – ein natürliches Wachstum gibt es kaum noch.

Und der vermeintliche Fortschritt der Medizin ist das „Konsum-Angebot“ von derzeit über 15.000 möglichen Diagnosen – vor 120 Jahren waren es noch weniger als 50.

Der von Professor Borasio beschriebene Fortschritt ist zugleich eine kulturelle Dekadenz. Alles ist heute verfügbar in einem Supermarkt mit 150.000 Lebensmitteln (in der Regel „fast-food-Artikel“ für die Fütterung im high-speed-Modus), dazu kommen in den Apotheken über 50.000 pharmazeutische Produkte für und gegen alles, was der Mensch zu brauchen scheint.

Sehr richtig stellt der Palliativmediziner, der viele Jahre an der Universitätsklinik in München Großhadern gewirkt hat und jetzt an der Universitätsklinik von Lausanne tätig ist, die Frage: „Ist wirklich alles sinnvoll, nur weil es machbar ist?“

Professor Borasio bemängelt die Voraussetzungen für eine vernünftige Diskussion:  

Selbstbestimmung geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die wir uns erst einmal in ihrer Bedeutung bewusst machen sollten.

Wünschenswert erscheinen insbesondere eine Klarstellung der verwendeten Fachbegriffe Sterbehilfe, Behandlungsabbruch, Suizidhilfe; eine Trennung von emotionalen bzw. ideologiebehafteten und sachlichen Argumenten; eine Erweiterung des Begriffs der Selbstbestimmung über die bisherigen Grenzen der Sterbehilfe-Debatte hinaus und hin zu den Wünschen und Prioritäten der betroffenen Menschen; eine Einbeziehung der psychosozialen, kulturellen und spirituellen Aspekte der Selbstbestimmung in die Diskussion; eine nüchterne Betrachtung der Rolle der ökonomischen Kräfte, die das Gesundheitswesen maßgeblich beeinflussen; die Bereitschaft, die unglaubliche Breite an Einstellungen, Ansichten, Wünschen und Wertvorstellungen der Menschen zu akzeptieren und zur Grundlage für eine vernünftige Regelung zu machen.“

[–Die Rolle der Gesundheitsindustrie–]

Das Kapitel 11 des Buches „Die Rolle der Gesundheitsindustrie – cui bono?“ zeigt deutlich das Versagen unserer Politiker auf. Der Gesundheitsmarkt ist einer der größten Wirtschaftsfaktoren in Europa und in den USA.

Borasio schreibt:

„Unzweifelhaft lässt sich mit dem zu Ende gehenden Leben viel Geld verdienen. Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten im Leben eines Menschen fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Allein in Deutschland geht es um dreistellige Milliardenbeträge.

In den letzten Jahren hat die Pharmaindustrie eine ganze Reihe teurer Krebsmedikamente mit zum Teil nur geringer Wirkung auf den Markt gebracht. Ein 32-jähriger Patient war an einer seltenen, aggressiven Krebsart erkrankt. Die Krankheit war weit fortgeschritten, die Lebenserwartung sehr gering. Da wurde ihm die Behandlung mit einem gerade neu zugelassenen Medikament, einem sogenannten monoklonalen Antikörper, angeboten. Der Patient willigte ein.

Als das Palliativteam beratend hinzugezogen wurde, litt er stark an den tumorbedingten Schmerzen, aber auch unter den erheblichen Nebenwirkungen der Behandlung (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, stark juckender Hautausschlag).

Aus palliativ-medizinischer Sicht hätte er unter anderem dringend einer Cortison-Therapie bedurft, um seine Beschwerden zu lindern. Die behandelnden Ärzte lehnten unseren Rat ab, da sie befürchteten, dass das Cortison die Wirkung des neuen Medikaments beeinträchtigen könnte. Der junge Patient starb qualvoll drei Tage später.

Die Behandlungskosten mit dem Antikörper betragen ca. 100.000,- Euro. Würden alle 2.000 Patienten, die an dieser Krebsart pro Jahr in Deutschland sterben, mit diesem Medikament behandelt (worauf sie einen Anspruch haben), würde dies die Krankenkassen 200 Millionen Euro jährlich kosten.

Dagegen haben die Kassen für die spezialisierte ambulante Palliativversorgung im gesamten Bundesgebiet im Jahr 2012 gerade 152 Millionen Euro einschließlich Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln ausgegeben…“

[–Aufklärungsbogen für "das Opfer Kunde"–]

Stets trifft der hilfsbedürftige Patient die Entscheidung für seine Behandlung. Das ist bereits äußerst folgenreich. Vor einer Operation muss „das Opfer Kunde“ einen umfangreichen Aufklärungsbogen unterschreiben mit seiner Einwilligung. Das bedeutet im Klartext: der Arzt trägt kein Risiko, er operiert auf Wunsch des Patienten. Das erinnert an das Motto des bekannten Circus Krone: „Ihre Gunst, unser Streben“.

Borasio: Palliativseminare für Medizin-Studenten

Noch bevor die Nachwuchsärzte der Universitätsklinik in München-Großhadern im neunten Semester im „Palliativseminar 2“ die Schmerz- und Symptomkontrolle bei sterbenskranken Patienten erlernen, müssen sie sich im sechsten Semester im „Palliativseminar 1“ mit Themen wie Trauer, Spiritualität und psycho-sozialen Aspekten auseinandersetzen – zum Beispiel in Form von Rollenspielen, Diskussionen, Gruppenarbeit.

Den Unterricht im Palliativseminar 1, darauf legte der ehemalige Lehrstuhlinhaber Professor Gian Domenico Borasio Wert, übernehmen ausschließlich nicht-medizinische Fachkräfte wie Sozialarbeiter, Psychotherapeuten oder Pfleger. Schon seit 2004 ist das so, damals hat die LMU als eine der ersten Universitäten Deutschlands die Palliativmedizin in den Rang eines Pflichtfachs erhoben.

Borasio schreibt:

„Geburt und Tod sind beide physiologische Vorgänge. Das sind auch die einzigen Vorgänge, die allen Menschen, allen Lebewesen gemeinsam sind. Alle Lebewesen kommen zur Welt, wenn auch auf verschiedene Art und Weise, und sie vergehen irgendwann wieder. Für diese physiologischen Vorgänge hat die Natur bestimmte Mechanismen vorgesehen, das sind Mechanismen, die sich im Lauf der Evolution herauskristallisiert haben.

Beide Vorgänge haben gemeinsam, dass sie in den meisten Fällen, aber beileibe nicht in allen, dann am besten ablaufen, wenn sie möglichst wenig gestört werden. Erfahrene Hebammen wissen, dass sie vor allem wissen müssen, wann sie nicht eingreifen sollen. Je weniger sie eingreifen müssen, desto besser wird die Geburt ablaufen. Das ist bekannt.

Weniger bekannt ist jedoch, dass dies auch für das Lebensende gilt. Das heißt, in den allerallermeisten Fällen – aber nicht in allen – ist es so, dass es am besten ist, wenn medizinisch möglichst wenig eingegriffen wird. Aber es gibt eben sowohl bei der Geburt wie auch beim Sterben Fälle, bei denen ein medizinischer Eingriff unbedingt notwendig ist, um Schaden abzuwenden.“  

Der Medien-Hype – die Angst und die Egomanie

Der größte Teil der Ärzte ist Erfüllungsgehilfe einer übermächtigen Pharma-Industrie geworden. Zudem wird in unqualifizierten Talk-Shows die Thematik von Gesundheit & Krankheit dauerhaft präsentiert. Die Ängste von Patienten werden verständlicherweise ständig größer.

Der aktuelle Medien-Hype ist unverantwortlich und verunsichert den Bürger. Es gehört nicht alles an die Öffentlichkeit.

Man darf nicht Selbstverantwortung mit Selbstbestimmung verwechseln bzw. gleichsetzen.

Das Leben des Menschen muss sicherlich grundlegender definiert werden – das hat nichts mit religiös-dogmatischen Ansichten zu tun, aber mit der wesentlichen Grunderkenntnis, dass jedes Leben kein persönlicher Besitz ist, wo sich das Ego zum Herrscher des Kosmos aufspielt.

Die Egomanie hat auch zu einem absurden Fortschrittsglauben in der Medizin geführt. Schmerz und Leiden müssen stets im Rahmen der Gegebenheiten gelindert werden. Der Arzt hat einen Beruf gewählt, wo das Curative im Vordergrund steht, immer in einer gewissen Demutshaltung der großen Natur gegenüber: „Medicus curat, natura sanat!“ Inzwischen haben sich viele Wissenschaftler ermächtigt, die Natur zu bezwingen – und das ist zum Scheitern verurteilt.

Foto: Cover C.H. Beck Verlag

Gian Domenico Borasio

selbst bestimmt sterben

C.H. Beck Verlag – 8. Oktober 2014

Gebundene Ausgabe: 206 Seiten

ISBN-10: 3406668623

Euro 17,95



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