Die Union ist ihren Prinzipien „fremdgegangen“: Schnappt die AfD der CDU die russlanddeutschen Wähler weg?

Der Union laufen die russlanddeutschen Wähler davon. Galt sie früher vor allem im „traditionsorientierten“ Milieu der Russlanddeutschen als „Schutzmacht“, ist sie für viele zu liberal geworden. Ein Fünftel von ihnen wird nach neuesten Untersuchungen die AfD wählen.
Von 15. September 2017

In den Wahlpräferenzen der Russlanddeutschen zeichnet sich eine neue Entwicklung ab: 15 bis 20 Prozenten von ihnen werden bei der Bundestagswahl 2017 die AfD wählen – das schätzt Professor Achim Goerres von der Universität Duisburg. In einer Studie untersucht er mit seinen Kollegen die Wahlpräferenzen von Aussiedlern aus der UdSSR, wie die „Welt“ am Sonntag berichtete.

Dabei gilt die CDU/CSU für viele immer noch als die „Schutzmacht, der sich besonders Spätaussiedler aus historischen Gründen verbunden fühlen“, heißt es in einer Analyse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2013. Doch diese Bindung scheint sich aufzulösen – und das auch nicht erst seit der Gründung der AfD.

Der Trend begann bereits Anfang dieses Jahrhunderts: „In den 1990er Jahren waren es noch 75 %, die diese Parteien bevorzugten, im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2008 nur noch 65 %. […] Unter den jüngeren Spätaussiedlern im Milieu der Traditionsorientierten sind auch SPD-Wählerinnen vertreten, die sich von dieser Partei eine höhere soziale Sensibilität für Arbeitnehmer erhoffen“, heißt es in derselben Analyse.

Deutsche in der Sowjetunion: Enteignet, deportiert, diskriminiert

Russlanddeutsche gehören zu der Gruppe der deutschstämmigen Aussiedler, die außerhalb Deutschlands deutsche Kolonien gründeten. Ende des 18. und bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von Katharina der Großen und später von ihrem Enkel Zar Alexander I. aus den deutschen Gebieten angeworben und siedelten an der Wolga, im Schwarmeergebiet, auf der Krim, in Transkaukasien und Bessarabien.

Deutsche Auswanderung nach Russland im 18. und 19. Jahrhundert. Foto: Ingenieurbüro für Kartographie, J. Zwick, Gießen/Kompezenzzentrum für Integration/Screenshot

Bereits nach der Bolschewistischen Oktoberrevolution wurden viele von ihnen enteignet und nach Sibirien deportiert. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland – insbesondere nach Beginn des Zweiten Weltkrieges – begann unter Stalin eine der größten Verfolgungswellen von Deutschen im Ausland.

Den Russlanddeutschen wurde kollektiv die Kollaboration mit dem Dritten Reich vorgeworfen, sie wurden enteignet und aus den deutschen Siedlungsgebieten der Vorkriegszeit nach Sibirien, in den Ural oder nach Kasachstan deportiert.

Dort wurden sie in Sondersiedlungen festgehalten und mussten unter schwierigsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Beim Verlassen der Sondersiedlungen drohten 20 Jahre Haft. Durch die stalinistischen Zwangsmaßnahmen kamen hunderttausende Russlanddeutsche ums Leben.

1956 wurden die Sondersiedlungen abgeschafft, allerdings durften die Deutschen nicht in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurückkehren und wurden auch nicht für das 1941 beschlagnahmte Eigentum entschädigt, heißt es auf der Seite des „Kompetenzzentrums für Integration“ (KFI). Die Diskriminierung der Russlanddeutschen dauerte bis zum Zerfall der Sowjetunion weiter an.

Wie kamen die Auslandsdeutschen wieder zurück nach Deutschland?

1953 erließ die Bundesrepublik das Bundesvertriebenengesetz, das allen Deutschen und ihren Angehörigen, die unter den Folgen von Hitlers Angriffskrieg gelitten hatten, eine Rückkehr in ihre alte Heimat erlaubte – dazu gehörten Deutsche aus Polen, Rumänien, der Sowjetunion und anderen Staaten, die auch Aussiedler genannt wurden.

Zuwanderung von (Spät-)Aussiedlern insgesamt und nach den wichtigsten Herkunftsländern, 1950-2012. Foto: BMI/BAMF 2013/Screenshot

Bereits Anfang der 60er Jahre äußerten Russlanddeutsche den Wunsch, in ihre alte Heimat auszuwandern. Die Ausreise wurde ihnen von der sowjetischen Führung jedoch verboten. Erst nach der Machtübernahme Michail Gorbatschows 1985 und später nach dem Zerfall der Sowjetunion konnten sie ihr Vorhaben realisieren, wie das KFI schreibt. Auf diese Weise kamen seit 1990 um die 2 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland.

Zerstörung der deutschen Kultur in der UdSSR – viele Russlanddeutsche sprechen kein Deutsch

Die deutsche Kultur wurde in der Sowjetunion systematisch zerstört, die deutsche Sprache verboten. Die Deutschkenntnisse der jüngeren Generationen der Deutschen in der UdSSR verfielen:

Bei Befragungen hat 1926 eine überwiegende Mehrheit von 95 % aller, die ‚Deutsch‘ als Volkszugehörigkeit angaben, auch Deutsch als ihre Muttersprache genannt. 1959 lag dieser Anteil bei 75 % und sank sukzessiv auf 48,7 % im Jahr 1989. Viele von denen, die Deutsch als Muttersprache angegeben hatten, verfügten durch die angesprochenen Bedingungen nur noch über rudimentäre Sprachkenntnisse (sog. ‚Küchendeutsch‘).“

(Deutsche aus Russland. Wer sie sind. Woher sie kommen. Was sie mitbringen. 2009)

„Soziale Ausgrenzung“ in Deutschland und russlanddeutsche Parallelgesellschaften?

Wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse wurden Russlanddeutsche nach der Übersiedlung nach Deutschland „sozial ausgegrenzt“, wie es in der Analyse des BAMF heißt. Auch wurde ihnen deshalb vorgeworfen, nicht richtig Deutsch zu sein und Parallelgesellschaften in Deutschland zu bilden, wie es auch Dunja Hayali in ihrer ZDF-Sendung vom 9. August tut.

Ihr Gast, der AfD-Politiker Waldemar Birkle, widerspricht ihr: „Parallelgesellschaft bildet sich immer dann, wenn Menschen einfach außerhalb der gesetzlichen Lage leben. Wenn sie die Grundgesetze nicht akzeptieren, das ist eine Parallelgesellschaft. Wenn ein Mensch eine andere Sprache spricht, ist es noch lange keine Parallelgesellschaft“.

Dabei sehen sich die Russlanddeutschen als Deutsche und wollen nur eins: „Endlich mal als Deutsche wahrgenommen werden, so wie wir sind, mit all unserer Vergangenheit, mit allem, was wir haben. Wir sind Teil deutscher Geschichte, auch mit unseren scheinbar kulturfremden Eigenschaften, dass wir russische Bonbons vielleicht noch mögen, dass wir in den russischen Laden zum Einkaufen gehen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess, wenn sie hierüber kommen, dass sie gleich versuchen, zueinander zu finden“, meinte der AfD-Politiker Vadim Derksen im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk Mitte August.

Wegen ihrer Identifikation mit der deutschen Kultur integrierten sich die Spätaussiedler sehr schnell, so Derksen. Seine Worte entsprechen auch den jüngsten Untersuchungsergebnissen zu den Russlanddeutschen. So sei die hochdeutsche Standardsprache bei 80 Prozent der Eltern die „Vorzugssprache für ihre Kinder“, heißt es in der Analyse des BAMF.

Russisches Staatsfernsehen für AfD-Sympathie bei Russlanddeutschen verantwortlich?

Doch warum genau erfährt die AfD momentan Zulauf seitens der Russlanddeutschen? In Hayalis Talkshow ist das russische Staatsfernsehen der Übertäter. Dabei wurde bereits 2007 in einer Untersuchung festgestellt, dass nur ein kleiner Teil der Russlanddeutschen russischsprachiges Fernsehen anschaut, heißt es in der Analyse des BAMF.

Fernweh-, Radio- und Tageszeitungsnutzung bei Spätaussiedlern. Foto: BAMF 2013/Screenshot

Birkle: Union ist ihren Prinzipien „fremdgegangen“ – die Russlanddeutschen ihren hingegen nicht

Waldemar Birkle hat eine einfachere Erklärung für die momentanen Wahlpräferenzen der Russlanddeutschen: Die CDU sei ihren Prinzipien „fremdgegangen“, meint er. Die Aussiedler hingegen seien ihren Prinzipien treu geblieben und würden weiterhin eine Partei wählen, die konservative Werte vertrete, so der AfD-Politiker in Hayalis Sendung.

Vadim Derksen vertritt eine ähnliche Meinung. Sollte die AfD der Union folgen und liberaler werden, werde sie das gleiche Schicksal erleiden wie die CDU/CSU, so der Politiker.

Altersarmut bei den Russlanddeutschen

In der ZDF-Sendung wird Birkle vorgeworfen, dass die AfD nach der Wahl nichts für Russlanddeutsche tun werde und auch nichts gegen die Altersarmut bei dieser Bevölkerungsgruppe unternehmen würde. Dabei interveniert Birkle, dass die AfD keine Aussiedlerpartei sei und es „ein Wahnsinn [wäre], wenn die AfD versuchen würde, ausgerechnet nur für die Russlanddeutschen ein extra Rentenprogramm auszulegen“.

Am Ende der Talk-Runde meint Hayali, dass die Altersarmut bei den Russlanddeutschen „extrem hoch“ sei. Mit diesen Worten beendet sie auch das Gespräch über die Spätaussiedler und erklärt nicht, was genau sie mit „extrem hoch“ meint.

In der unteren Tabelle des BAMF ist zu sehen, dass knapp 23 Prozent der älteren Aussiedler durch die Altersarmut gefährdet sind. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt die Armutsgefährdungsquote im Alter bei rund 13 Prozent.

Armutsgefährdungsquote nach Migrationshintergrund 2011. Foto: BAMF 2013/Screenshot

Hier die ZDF-Talkshow von Dunja Hayali vom 9. August 2017:

https://youtu.be/1GzBO5fKDMk?t=14s

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