Innenminister de Maizière: „Ein Staat wird die Art des Trauerns nicht vorschreiben“

"Ein Staat wird die Art des Trauerns nicht vorschreiben. Ein Staat hat andere Wege der Anteilnahme: Er leistet Unterstützung für die Hinterbliebenen." Die Rede des Bundesministers des Innern, Dr. Thomas de Maizière, in der Aktuellen Stunde zum Thema “Entschieden gegen Gefährder vorgehen – Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit“.
Titelbild
Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Bundestag.Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Von 19. Januar 2017

Frau Präsidentin!

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!

Einen Tag nach dem Anschlag habe ich mit anderen den Berliner Breitscheidplatz besucht. Es war nicht der erste Ort dieser Art, den ich gesehen und besucht habe. Wir haben dort Blumen niedergelegt. Ich habe den Schock und die Trauer in den Gesichtern der Menschen gesehen. Die Kirchen haben am Abend nach dem Tag des Anschlags einen wunderbaren Gottesdienst abgehalten. Alle diese Eindrücke bleiben bei mir und auch bei vielen von Ihnen noch Wochen im Kopf und im Herzen.

Jeder, den ich dort gesehen habe, hat seine eigene Weise, Anteil an den schrecklichen Ereignissen zu nehmen. Jeder und jede in unserem Land darf und muss für sich entscheiden, wie er oder sie mit dem Anschlag umgehen möchte. Ein Staat wird die Art des Trauerns nicht vorschreiben. Ein Staat hat andere Wege der Anteilnahme: Er leistet Unterstützung für die Hinterbliebenen – und wenn dort mehr zu tun ist, dann müssen wir mehr tun – ; er setzt Flaggen auf Halbmast; er vereinbart einen Moment des Schweigens; er gedenkt morgen im Bundestag.

All das ist wichtig, nicht nur für die Hinterbliebenen, auch für uns, die wir niemanden verloren haben, und auch für eine wehrhafte Demokratie. All das lässt uns gemeinsam innehalten und zeigt, dass wir in diesen Tagen und Stunden und angesichts dieser Lage einander zugehörig sind – als Demokraten, oft im Streit, aber trotzdem in Freiheit miteinander verbunden.

Meine Damen und Herren, all das verlangt – nach einer Phase des Innehaltens – aber auch nach Aufklärung und Konsequenzen. In den letzten Wochen ist viel über den Begriff des Gefährders gesprochen worden. Ein Gefährder ist jemand, von dem die Sicherheitsbehörden die Befürchtung haben, dass er etwas unternehmen wird, was unser Land bedrohen könnte – deswegen beobachten sie ihn.

Auch Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, gehörte zu dieser Personengruppe. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn im Visier, sie haben ihn beobachtet und sie haben Ermittlungsverfahren geführt. Auch die Ausländerbehörden der Länder haben sich mit ihm beschäftigt. Wir mussten aber feststellen – das ist meine vorläufige Bewertung angesichts des bisherigen Kenntnisstandes –: Alle Maßnahmen der Sicherheitsbehörden und der Ausländerbehörden haben nicht vermocht und nicht ausgereicht, ihn aufzuhalten und den Anschlag zu verhindern.

Die Gefährlichkeit von Menschen einzuschätzen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Sicherheitsbehörden und der Justiz. Das kennen wir auch aus anderen Fällen, etwa der Sicherheitsverwahrung entlassener Sexualstraftäter. In anderen ähnlichen Terrorgefährdungsfällen haben die Sicherheitsbehörden auch in jüngster Zeit Anschläge verhindern können. Hier nicht; das ist bitter.

Ich habe gemeinsam mit meinem Kollegen Maas unter Beteiligung der betroffenen Bundesländer, allen voran Berlin und Nordrhein-Westfalen, eine Chronologie des Behördenhandelns vorgelegt. Das bietet jetzt die Grundlage für weitere Aufklärung – die wir in jeder Weise unterstützen –, die dieser Deutsche Bundestag unternimmt. Ich beteilige mich nicht an Schuldzuweisungen. Ich konzentriere mich auf die erforderlichen Konsequenzen. Angesichts der Gefährdungslage haben wir keine Zeit zu verlieren; wir haben es heute im Ausschuss diskutiert. Erst volle Aufklärung zu verlangen und dann Maßnahmen und Konsequenzen zu diskutieren, halte ich jedenfalls dann für falsch, wenn wir von den Maßnahmen, die jetzt erforderlich sind, jetzt überzeugt sind. Dann sollten wir sie jetzt ergreifen, gegebenenfalls später andere. Aber was wir jetzt für richtig halten, sollten wir jetzt umsetzen und nicht abwarten.

Ich habe folgende operative Maßnahmen veranlasst: Die Arbeitsgemeinschaft Statusrechtliche Begleitmaßnahmen, die sogenannte AG Status, im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum nimmt in mehreren Sondersitzungen – auch heute, während wir hier diskutieren – jeden ihr bekannten Gefährder noch mal unter die Lupe und prüft nochmals, ob Abschiebungen oder ähnliche Maßnahmen erforderlich sind. Ich habe außerdem das Bundeskriminalamt beauftragt, die Risikobewertung von Gewaltstraftätern zu verbessern und Pläne zur Vereinheitlichung von Gefährderbewertungen voranzutreiben. Wir haben zwar eine – wenn Sie so wollen – sicherheitsfachliche Definition von Gefährdern und relevanten Personen in ihrem Umfeld, wir haben auch bundesweite Leitlinien zum Umgang mit ihnen, aber die

Bewertung von Gefährdern und die taktischen Maßnahmen nimmt immer noch jedes Bundesland zu sehr für sich alleine vor. Wir brauchen eine bundesweit standardisierte Gefährderbewertung. Ich will auch den Erkenntnisaustausch in Europa weiter beschleunigen. Wir haben dort schon viel beschlossen, das muss jetzt beschleunigt werden.

Neben diesen operativen Maßnahmen sind aber auch gesetzliche Maßnahmen erforderlich. Ich habe mich mit meinem Kollegen Maas auf eine Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen verständigt, das ist gut. Wir sind uns jetzt darüber einig, dass es dabei zentral um aufenthaltsrechtliche Maßnahmen gehen muss, darunter einige Maßnahmen, die ich bereits im August vergangenen Jahres vorgeschlagen habe und zu denen ich bereits im Oktober entsprechende Gesetzentwürfe vorgeschlagen habe – ich muss das einmal leider so sagen.

Was tun wir jetzt? Wir verschärfen die Möglichkeiten der Abschiebehaft für Gefährder. Eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit muss ausreichen für eine Abschiebehaft. Das gilt nicht nur für Terror, sondern auch für sonstige schwere Kriminalität. Gefährder sollen auch dann in U-Haft genommen werden, wenn eine Abschiebung absehbar nicht innerhalb von drei Monaten stattfinden kann. Das werden wir auch umsetzen. Die Möglichkeit zum Ausreisegewahrsam wird von vier auf zehn Tage verlängert. Wir regeln schärfere Überwachungsmöglichkeiten für ausreisepflichtige Ausländer, die die öffentliche Sicherheit gefährden – dazu gehört auch die Fußfessel. Sehr wichtig ist: Für Asylbewerber und Ausreisepflichtige, die über ihre Identität täuschen, soll der Aufenthalt auf den Bezirk der jeweiligen Ausländerbehörde beschränkt werden. Dann kann jemand wie Amri jedenfalls nicht folgenlos seinen Aufenthalt mal hier und mal dort nehmen und durchs ganze Land ziehen.

Und: Wir werden bei den Verhandlungen mit den Herkunftsländern über die Rücknahme eigener Staatsbürger stärker auch andere Politikfelder mit einbeziehen, insbesondere auch die Außen-, die Wirtschafts- und die Entwicklungspolitik.

Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe für die ganze Bundesregierung und jeden Minister.

Meine Damen und Herren, ich habe vor zwei Wochen weitgehende Vorschläge gemacht für einen starken Staat in schwierigen Zeiten. Sie sind auf ein großes Echo gestoßen. Ich will sie heute hier nicht wiederholen; wir werden sie heute auch nicht debattieren können – dafür ist nicht der Zeitpunkt, auch nicht der Rahmen. Hier und heute nur so viel: Für die Sicherheit unseres Landes sollten wir nicht nur über Befugnisse reden, sondern auch darüber, wie wir die Aufgaben am besten erledigen können. Beim Umgang mit Gefährdern im föderalen Staat sind alle gefordert. Ich möchte einheitliche Maßstäbe in Bund und Ländern. Es darf in Deutschland keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben.

Ich bin bereit, dass der Bund mehr Verantwortung übernimmt. Es kommt auf die Verwaltungen an und deren Zusammenarbeit. Es kommt auf den Gesetzesvollzug an. Es kommt auch auf die Justiz an, wie wir auch im Fall Amri sehen.

Ich will nicht hinnehmen, dass sich gewaltbereite Islamisten in unserem Land frei bewegen können. Ich will einheitliche Sicherheitsstandards in Bund und Ländern. Ich will, dass Gefährder besser und intensiver beobachtet und schneller aus dem Verkehr gezogen werden können. Ich will, dass ausreisepflichtige Gefährder unser Land verlassen, und ich werde alles in meiner Verantwortung Mögliche tun, damit das auch passiert. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung hier im Deutschen Bundestag und die der Bundesländer, möglichst geschlossen, vor allem aber entschlossen.

Videolink zur Rede des Innenministers: Bundestag



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