Der stille Supermarkt

Bunte Reklamen, blitzende Lichter und „Last Christmas“ in Dauerschleife: Einkaufen im Dezember ist herausfordernd. Autisten leiden besonders unter der Reizüberflutung. Märkte wollen helfen.
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Reizüberflutung im Supermarkt ist häufig ein Grund dafür, nicht einkaufen zu gehen.Foto: iStock
Epoch Times25. Dezember 2023

Mit mehreren Durchsagen werden die Supermarkt-Kunden auf das vorbereitet, was jetzt kommt: Ruhe. Gedimmtes Licht, leise Kassen und eine friedlichere Atmosphäre sollen Autisten und sensiblen Menschen einen entspannteren Einkauf ermöglichen.

„Stille Stunde“ heißt das Konzept, das aus Neuseeland stammt und in manchen Supermärkten in Deutschland bereits praktiziert wird.

So richtig still ist es an diesem Dezembertag im Konstanzer Edeka-Center Baur natürlich nicht. „Nicht alles lässt sich komplett abstellen“, sagt Sabine Seibl, die Geschäftsführerin von Edeka Baur. Ein normaler Supermarkt sei auf so etwas nicht ausgerichtet. Aber es sei eine spürbar ruhigere Atmosphäre, die es seit März immer dienstags in dem Markt gibt.

Die Anregung für die „Stille Stunde“ stamme von einer Kundin mit autistischen Kindern, sagt Seibl. „Erst durch sie ist mir der Bedarf und die Not, die da ist, bewusst geworden.“ Das sei ein Einblick in eine ganz neue Welt gewesen.

„Für mich war es unvorstellbar, dass jemand lieber nicht isst, als sich dem Stress eines Einkaufs hinzugeben“, so die Geschäftsführerin. „Teilhabe“ sei das Zauberwort gewesen, mit dem Katrin Zorn sie überzeugt habe.

Schmerzhaftes Licht

Zorn selbst ist dankbar und kann es gleichzeitig nicht so recht glauben, dass sie den Markt für die Idee gewinnen konnte. Ihre Kinder seien begeistert, sagt die Mutter. „Wir hatten Jahre, da hat unsere Tochter nur Reis gegessen – morgens, mittags, abends. Da wäre es hilfreich gewesen, sie mal in den Supermarkt mitzunehmen, um zu zeigen, was es alles gibt.“

Wegen der Reizüberflutung sei es zu dem Zeitpunkt nicht möglich gewesen, mit ihr in einen normalen Supermarkt zu gehen.

„Das grelle Licht in Supermärkten empfinden die Menschen im Autismus-Spektrum oft als schmerzhaft in den Augen“, sagt Zorn, die auch die Vorsitzende des Autismus-Netzwerks in der Bodensee-Stadt ist. „Geräusche werden zum Teil viel stärker wahrgenommen.“

Das Reduzierte bei der „Stillen Stunde“ mache vieles leichter. Einkaufen sei eine wichtige Alltagskompetenz für Autisten, weil es ein selbstständiges Leben bedeute.

Angebot in immer mehr Märkten

Immer mehr Märkte in Deutschland gehen mit „Stillen Stunden“ auf die Bedürfnisse der autistischen und sensibleren Kundschaft ein. Die Initiativen sind bundesweit verstreut, flächendeckend ist das Angebot noch nicht.

Von REWE etwa hieß es, dass man großes Verständnis für Kunden habe, die es etwas leiser haben wollen. „Daher kann in jedem Markt die Lautstärke der Musik individuell geregelt werden, ohne dass man auf bestimmte Einkaufszeiten festgelegt ist“, so ein Sprecher. Das Kassensignal könne nicht in der Lautstärke geregelt werden. Auch andere Ketten zeigten sich etwas zurückhaltend.

„Die Nachfrage und der Zuspruch der Kundschaft werden darüber entscheiden, ob sich ein solches Angebot bundesweit durchsetzen wird“, erklärt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland. Das Feedback sei bisher gut, deshalb sei das Angebot gewachsen.

„Es funktioniert nicht über Zwang“

„Es funktioniert nicht über Zwang“, sagt Fabian Diekmann vom Verband Autismus Deutschland. Die Initiative müsse von den Supermärkten selbst kommen. „Immer mehr Märkte beteiligen sich.“ Wie viele es bundesweit genau sind, weiß der Verband nicht.

Angebote wie die „Stillen Stunden“ gebe es mal regelmäßig, mal zu bestimmten Anlässen. In der Vorweihnachtszeit sei das Shoppen besonders stressig. Überall sei es voller und lauter als sonst. Die Lichter zu dimmen und die Musik abzustellen, koste die Supermärkte nichts. Es helfe aber Menschen. „So leicht kriegt man selten Punkte auf dem Karma-Konto.“

Die Möglichkeit, einkaufen gehen zu können, ohne Angst vor Reizüberflutung haben zu müssen, sei besonders wichtig für autistische Menschen. „Sie laufen sonst Gefahr, in die Isolation und Einsamkeit abzudriften.“

Kundschaft reagiert fast durchweg positiv

Autismus ist laut Verband eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Eine Statistik über die Häufigkeit in Deutschland gibt es nicht. Man gehe aber davon aus, dass zwischen 600.000 und 800.000 Menschen betroffen seien, erklärt Diekmann. „Nicht alle sind diagnostiziert.“

Die Reaktion der Kundschaft am Bodensee sei fast durchweg positiv, sagt Seibl. Nur ein kleiner Teil beschwere sich über das gedimmte Licht. „Dass man die Preisetiketten nicht mehr so deutlich sehen kann.“ Die Hintergrundmusik werde aber nicht vermisst.

Bar-Atmosphäre im Spirituosengang

Der Aufwand für die zwei „Stillen Stunden“ ab 15 Uhr halte sich in Grenzen, ergänzt Centerleiter Marko Peic. Weil der Markt groß sei, sei man von Ecke zu Ecke unterwegs, um die Lichtschalter auszuschalten. „Das geht gute 20 Minuten – wenn man schnell ist.“ Zentralisiert sei die Beleuchtung nämlich nicht. „Es müssen insgesamt 16 Sicherungen rein und raus genommen werden.“

Vor dem Start der Initiative in Konstanz habe es etliche Versuche gegeben, sagt Seibl. Die Versuche hätten während des laufenden Betriebs stattgefunden. „Einmal hat eine Kundin geschrien ‚Hilfe! Überfall!‘, weil es dunkel wurde“, berichtet Seibl.

Es gebe keinen Dimmer. Der Effekt funktioniere über ein paar ausgeschaltete Licher.

„Die Wein- und Spirituosenabteilung hatte zu Beginn fast schon eine Bar-Atmosphäre bekommen, die manche Leute zu etwas animiert, was wir eigentlich nicht wollten.“ Schlechte Beleuchtung sei eine Einladung für den Weg an der Kasse vorbei. „Spots auf den Regalen und an der Kasse haben da geholfen.“ (dpa)



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