Grundgesetzänderung trotz aufgelöstem Bundestag – geht das?

Noch bevor der neue Bundestag am 25. März 2025 zusammenkommt, möchten der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz und seine etwaigen neuen Partner von der SPD die alten Mehrheiten im Parlament für eine Änderung des Grundgesetzes (GG) nutzen. Die mutmaßlichen Koalitionäre beabsichtigen, sich einen größeren Kreditspielraum für Verteidigungs- und Investitionsvorhaben zu verschaffen, der das bisher erlaubte Maß deutlich übersteigen würde: 900 Milliarden Euro neue Schulden stehen im Raum.
„Königsrecht“ des Bundestags in Gefahr?
Doch ist es überhaupt rechtlich zulässig, nach der Auflösung des Bundestags mit den alten, eigentlich längst abgewählten Mehrheiten Grundgesetzänderungen einer solchen Tragweite zu verabschieden? Wäre nicht das „Königsrecht“ des neuen Bundestags ausgehöhlt, nämlich die Haushaltsgesetzgebung?
Diese Fragen treiben auch den Staatsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau um. Auf seinem X-Kanal wies er auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. März 2014 hin. Die Karlsruher Verfassungsrichter hätten damals festgestellt, dass „ein derzeit formell nun einmal amtierender Bundestag nicht durch die Eingehung übermäßiger haushaltsrelevanter Verpflichtungen die haushaltspolitische Handlungsfreiheit künftiger Bundestage leerlaufen lassen“ könne. Im Original liest sich das in Randnummer 161 so:
Die Überschreitung einer unmittelbar aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes ableitbaren Obergrenze von Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen kommt allenfalls in Betracht, wenn im Eintrittsfall die Haushaltsautonomie zumindest für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe.“
Vosgerau: Nicht legitim „im Geist des Grundgesetzes“
Schon vor einigen Tagen hatte Vosgerau in einem Interview mit „Tichys Einblick“ zudem auf den Unterschied zwischen der „Verfassungslegalität“ und der „Verfassungslegitimität“ hingewiesen.
Seiner Ansicht nach sei es zwar legal, dass ein noch amtierender Bundestag Gesetze noch kurz vor der Konstituierung des neuen Parlaments verabschiede – legitim „im Geist des Grundgesetzes“ sei es aber nicht, unter Berufung auf Artikel 39 GG gegen bereits neu gewählte, ganz andere Mehrheiten „anzugehen“. So etwas sei bei „Eilbedürftigkeit“ womöglich zulässig – diese aber existiere im vorliegenden Fall nicht.
„Dass es jemals erforderlich werden könnte, in den wenigen Wochen zwischen einer Bundestagswahl und der Konstituierung des Bundestags sogar verfassungsändernde Gesetzgebung ins Werk zu setzen, das hat man vorher nie geahnt, das gab es wirklich bisher noch nicht“, gab Vosgerau mit Blick auf die Väter des GG zu bedenken.
Abhilfe durch Normenkontrollklage?
„Hier geht es darum, dass man etwas, was der neue Bundestag eventuell nicht will, was man auch ganz genau weiß, dennoch durchsetzen will nach der Wahl“, so der Jurist. Aus seiner Sicht handele es sich um einen „Missbrauch des Prinzips der Diskontinuität“ und um eine „Anwendung der Verfassung gegen ihren Geist“. Die „Legitimität des Verfassungsstaates“ werde dadurch zerstört (Video auf YouTube).
Vosgerau empfahl dem neuen Bundestag in seinem X-Posting, eine Normenkontrollklage anzustrengen. Da dafür 25 Prozent der künftigen 630 Abgeordneten nötig seien, könnten sich insbesondere die 152 AfD-MdBs zusammenschließen und auf die Unterstützung von weiteren mindestens sechs Parlamentariern hoffen. Grundsätzlich dafür infrage kämen nach Ansicht Vosgeraus die 64 Abgeordneten der Linken „und möglicherweise sogar Dissidenten von Union und SPD, die das faule Spiel nicht mitmachen wollen“.
Dr. Bernd Baumann, der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD im Bundestag, kündigte bereits entsprechende Schritte an (Video auf YouTube).
Alter Bundestag darf Interessen eines neuen auch „gezielt umgehen“
Wenig Aussicht auf Erfolg bescheinigt einer Normenkontrollklage jedoch Gregor Laudage, Rechtsreferendar am Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg und Doktorand an der Georg-August-Universität Göttingen. Seiner Einschätzung nach ist es für die Rechte des Bundestags „völlig unerheblich, wie er politisch zusammengesetzt ist“, so Laudage in einem Interview mit dem Portal „Legal Tribune Online“ (LTO):
Das bedeutet in letzter Konsequenz auch, dass eine Änderung des Grundgesetzes auch von einem Bundestag vorgenommen werden kann, der sich absehbar in kurzer Zeit neu zusammensetzen wird.“
Nach seiner Rechtsauffassung dürfe eine alte Mehrheit im Bundestag eine neue Mehrheit „sogar gezielt umgehen“. So etwas wie „Rücksichtnahmepflichten“ existierten aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht. Artikel 39 GG sei dafür „zu eindeutig“ formuliert: Ein amtierender Bundestag sei nun einmal „bis zum Ende der Wahlperiode […] demokratisch legitimiert“. Diese Wahlperiode endet nach dem Wortlaut des GG erst „mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags“.
Die „demokratische Kultur“ könne durch die Pläne der Sondierer allerdings „erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden“, räumte der Doktorand im Einklang mit Vosgerau ein.
Laudage sieht keine Terminprobleme
Zeitliche Probleme sieht Laudage in den kommenden knapp drei Wochen bis zur Zusammenkunft des neuen Bundestags nicht. Als Beispiel nannte er das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG). Es war Mitte Oktober 2008 als „eilbedürftiges Gesetz“ nach nur wenigen Tagen Vorbereitung an einem einzigen Tag durch den Bundestag verabschiedet, vom Bundesrat bestätigt und im Bundesgesetzblatt verkündet worden. Die sonst üblichen Beratungsfristen waren laut Bundestagswebarchiv ausgehebelt worden, weil der Bundestag dem mit einer Zweidrittelmehrheit zugestimmt hatte.
Eine Möglichkeit, nun ein solches Eilverfahren zu verhindern, sehe er höchstens auf Grundlage des Paragrafen 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG), so Laudage. Absatz 1 erklärt, dass Karlsruhe „im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln“ kann, „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“.
Das war zuletzt dem CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Heilmann gelungen, der sich im Sommer 2023 gegen eine sehr kurzfristig angesetzte Beratung zum Gebäudeenergiegesetz gewehrt hatte.
Heilmanns treffsicheres Argument, es gebe nicht genug Zeit, um sich in die Materie einzuarbeiten, würde nach Ansicht von Laudage dieses Mal aber womöglich nicht greifen: Wenn es lediglich um eine neue Kreditermächtigung für die Bundeswehr gehe, sei eine Gesetzesvorlage wohl „nicht besonders komplex“.
Laudage persönlich hatte seinem Doktorvater Prof. Dr. Alexander Thiele nach dessen Angaben bereits vor der Wahl empfohlen, die alten Mehrheiten im Bundestag für eine Erhöhung des aktuellen Bundeswehr-Sondervermögens aus Artikel 87a (1a) GG zu nutzen, „damit man etwas Luft hat“. Im LTO-Interview ergänzte er seinen Standpunkt:
Eine Änderung des Art. 87a GG wäre sehr einfach umzusetzen, eine grundlegende Reform der Schuldenbremse hingegen nicht.“
Schuldenbremse anpassen, Sondervermögen einrichten
Die wahrscheinlichen nächsten Koalitionäre von Union und SPD wollen per „Sondervermögen“ deutlich mehr für die Verteidigung ausgeben, als der laufende Haushalt hergibt. Auch frische Kredite für die Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro sollen unter demselben Begriff ermöglicht werden. Zudem sollen auch die Länder die Möglichkeit bekommen, sich höher zu verschulden als bisher erlaubt.
Da all diese Wünsche mit den bisherigen Regeln der Schuldenbremse gemäß Artikel 109 GG nicht in Einklang zu bringen wären, müssten die entsprechenden GG-Änderungen nach Artikel 79 (2) GG gleichermaßen von „zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates“ mitgetragen werden.
Gesetz könnte am 21. März verabschiedet sein
Die erste Lesung der geplanten Grundgesetzänderungen soll bereits am Donnerstag, 13. März, im Bundestag stattfinden. Nach Durchlauf der zuständigen Ausschüsse sollen die beiden abschließenden Lesungen mit der finalen Abstimmung im Plenum am 18. März erfolgen. Der Bundesrat könnte am 21. März grünes Licht geben – vier Tage vor der Konstituierung des neuen Bundestags.
Bei derzeit noch 733 Sitzen im alten Bundestag wären 489 Stimmen für eine Grundgesetzänderung nötig. Union (196) und SPD (207) bringen es gemeinsam nur auf 403. Es fehlen also 86 Stimmen.
Welche Zugeständnisse Friedrich Merz womöglich an die Fraktion der Grünen wird machen müssen, um sich deren Zustimmung zu sichern, ist unklar. Sie verfügen derzeit noch über 117 Sitze.
JU beklagt Verstoß gegen Generationengerechtigkeit
Womöglich könnten die Pläne auch an Abweichlern aus den eigenen Reihen scheitern. Johannes Winkel, der Vorsitzende der Jungen Union, zeigte sich am Mittwoch in einem Interview mit dem Sender „Phoenix“ zwar offen für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr, aber auch kritisch zu dem Umstand, dass deren Finanzierung zulasten der jüngeren Generationen gehen solle.
Zudem bemängelte er, dass der „finanzpolitische Teil“ der bisherigen Sondierungsbeschlüsse einen grundsätzlichen Politikwechsel noch „nicht ausreichend sichtbar“ werden lasse. Die Union müsse bei den „großen Themen“ Migrations- und Wirtschaftswende „liefern“. Das sei der einzige Weg, um die AfD zu schwächen.
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