Analyse
Stahlgipfel im KanzleramtÜberkapazitäten als Waffe: Der ökonomische Machtkampf zwischen Europa und China
Europa ringt um seine industrielle Souveränität. Chinesische Überkapazitäten treffen die Stahlbranche besonders hart. Der Kanzler lädt zum Gespräch – doch es geht längst nicht nur um Stahl.

Europäische Stahlwerke konkurrieren zunehmend mit chinesischen Überkapazitäten.
Foto: Federico Gambarini/dpa
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In Kürze:
- Deutschland und die EU stehen wegen chinesischer Dumpingpreise unter wachsendem Druck, besonders die Stahl- und Technologiesektoren; Politiker fordern verstärkte Schutzmaßnahmen und Zölle.
- Studien belegen, dass Chinas Preis- und Industriepolitik strategisch gesteuert ist: Staatliche Subventionen und politische Kontrolle schaffen Überkapazitäten, die ausländische Märkte gezielt unterbieten.
- Zölle können kurzfristig entlasten, lösen das Problem aber nicht allein: Ohne eine Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und eine langfristige Industrie- und Technologiestrategie bleiben sie nur ein begrenztes Schutzinstrument.
Vor dem Stahlgipfel heute im Kanzleramt hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die strategische Bedeutung der Branche für Deutschland hervorgehoben. „Deutschland braucht die Stahlindustrie – wettbewerbsfähig, zukunftssicher, modern“, erklärte Merz im Onlinedienst X. „Das ist im strategischen Interesse unseres Landes“, fuhr er fort.
„Das sichert Arbeitsplätze und Wertschöpfungsketten. Das sichert den Wohlstand unseres Landes“, schrieb Merz weiter. Der Kanzler empfängt heute Vertreter von Industrieunternehmen, Gewerkschafter sowie eine Reihe von Ministerpräsidenten aus stahlproduzierenden Bundesländern. Ebenfalls dabei sind Finanzminister Lars Klingbeil (SPD), Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) sowie Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD).
Thyssenkrupp fordert höhere Zölle auf chinesischen Stahl
Die neue Chefin von Thyssenkrupp Steel, Marie Jaroni, forderte konkrete Maßnahmen. „Der Stahlgipfel muss konkrete Ergebnisse bringen“, sagte sie der „Rheinischen Post“.
Jaroni forderte höhere Zölle auf Stahlimporte aus China. „Als erstes brauchen wir europäischen Handelsschutz. Derzeit strömen ungehindert riesige Mengen Billigstahl zu uns, vor allem aus asiatischen Ländern mit Überkapazitäten.“, sagte sie der Zeitung.
„Die EU plant, die Menge für zollfreie Importe zu halbieren. Der Zollsatz für Importe, die darüber hinausgehen, soll auf 50 Prozent verdoppelt werden. Das muss die Bundesregierung aktiv und ohne Abstriche unterstützen“, fuhr die Thyssenkrupp-Steel-Chefin fort. „In Brüssel und Paris warten alle auf ein Signal aus Berlin. Genau das muss nun vom Stahlgipfel ausgehen.“
Jaroni forderte außerdem Hilfe beim Strompreis. „Der Industriestrompreis muss jetzt kommen, nicht nur für Konzerne wie Thyssenkrupp, sondern auch für die vielen Mittelständler.“ Sonst drohe Deutschland „ein weitere Schritt in die Deindustrialisierung“.
Forderungen nach EU-Zöllen auf Importstahl
Diskussionen gab es schon Tage vor dem Gipfel. So hatte sich CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann (CDU) am vergangenen Sonntag in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ für EU-Einfuhrzölle gegen Dumpingimporte ausgesprochen. So könne man die Stahlindustrie vor der Konkurrenz – etwa aus China – schützen, betonte Linnemann.
In der Sendung berichtete Linnemann von einem Besuch beim Kranhersteller Liebherr in Baden-Württemberg, der „riesige Probleme“ habe. Chinesische Wettbewerber produzieren identische Güter und „besetzen den europäischen, den deutschen Markt, gehen 50 Prozent unter Marktpreis, machen unsere Firmen kaputt“, kritisierte der CDU-Generalsekretär. Anschließend würden die Preise wieder angehoben. Daher, so Linnemann, müsse sich Europa gegen Dumpingpraktiken aus China wehren. Die Europäische Union müsse deshalb beim Thema Strafzölle „zu Potte kommen“.
Auch die saarländische Ministerpräsidentin und derzeitige Präsidentin des Bundesrats, Anke Rehlinger (SPD), unterstützte in derselben Folge von „Bericht aus Berlin“ die Forderung nach Zöllen. Der in Deutschland produzierte Stahl müsse wieder „eine Chance bekommen“. Es wäre ein Fehler, Strukturen zu zerstören, die später kaum oder gar nicht mehr wieder aufgebaut werden könnten.
Am Wochenende hatten zudem CDU-Abgeordnete aus dem EU-Parlament gefordert, dass die Bundesregierung den Weg für EU-Zölle auf chinesischen Stahl freimacht.
Die Wirtschaftsministerin hat sich mittlerweile in die Diskussion eingeschaltet. Zu möglichen EU-Zöllen auf Importstahl sagte Reiche am 5. November zu Beginn der Konferenz Friends of Industry: „Die Vorschläge, die auf dem Tisch sind, sind in jedem Fall hilfreich“. Unfairen Handelspraktiken „muss man sich kraftvoll entgegenstellen“.
Kampf um Marktregeln und industrielle Souveränität
Die Kritik an Chinas Handelspolitik hat die Debatte über das sogenannte „chinesische Dumping“ zurück auf die politische Bühne gebracht. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob Europa höhere Zölle einführen sollte, um die heimische Industrie zu schützen. Dahinter steht eine größere Fragestellung: Will Europa ein offen zugänglicher Markt für chinesische Produkte bleiben oder sich unabhängiger machen? Denn China setzt seinen wirtschaftlichen Einfluss gezielt ein, um sich Vorteile zu verschaffen. Es ist eine Art stiller wirtschaftlicher Machtkampf, der nicht laut ausgetragen wird, aber deutliche Folgen hat.
Die Europäische Union hat bereits auf die chinesische Marktdominanz reagiert und bisher eine Reihe von Schutzmaßnahmen eingeführt. So wurden im August 2024 Antidumpingzölle auf bestimmte Stahl- und Metallprodukte aus China verhängt und bestehende Schutzquoten für Stahlimporte verlängert, damit chinesische Überkapazitäten den europäischen Markt nicht weiter unter Druck setzen. Zudem hat die EU Antidumpingzölle auf Stahlkettenplatten eingeführt, nachdem Untersuchungen bestätigt hatten, dass chinesische Hersteller ihre Waren mithilfe staatlicher Unterstützung deutlich unter dem Marktpreis anbieten.
Die EU-Kommission hatte Anfang Oktober eine weitere Ausweitung der EU-Zölle auf Stahl vorgeschlagen. Demnach sollen jährlich nur noch 18,3 Millionen Tonnen der wichtigsten Stahlimporte zollfrei auf den EU-Markt gelangen – deutlich weniger als noch im Vorjahr. Darüber hinaus soll ein 50-prozentiger Zoll fällig werden. Über die neuen Quoten müssen vor Inkrafttreten noch das Europaparlament und die 27 EU-Länder verhandeln.
Laut dem Jahresbericht der Europäischen Kommission vom Juli dieses Jahres hat die EU ihre handelspolitische Abwehr gegenüber China deutlich ausgeweitet. Die Kommission leitete so viele neue Verfahren ein wie seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr; ein großer Teil entfiel auf Produkte chinesischer Herkunft, wie ein Blick auf die Website der Kommission zeigt. Dort werden die Antidumpingmaßnahmen aufgelistet und aufgezeigt, gegen wen sich diese richten.
Besonders im Fokus stand, das bestätigt auch der Jahresbericht, die Untersuchung zu staatlich subventionierten E-Autos aus China, die Ende Oktober 2024 zu Einfuhrzöllen von bis zu 35 Prozent führten. Insgesamt stieg die Zahl aktiver Maßnahmen auf 199, die laut Bericht über 625.000 Arbeitsplätze in Europa direkt absichern sollen.
Von E-Autos bis Branntwein
Peking reagierte seinerseits mit einer Beschwerde gegen die Festlegung von EU-Zöllen auf Elektrofahrzeuge bei der Welthandelsorganisation. Seit Juli dieses Jahres erhebt China zudem Zölle von bis zu 34,9 Prozent auf Weinbrand-Importe aus der EU. Zuvor hatten chinesische Behörden untersucht, ob bei EU-Branntwein Preisdumping vorliegt.
„Wir sind der Meinung, dass Chinas Maßnahmen unfair sind“, sagte ein Sprecher in Brüssel als Reaktion auf die Zölle. Diese seien „Teil eines besorgniserregenden Musters, bei dem China handelspolitische Schutzinstrumente missbraucht“ und auf Grundlage fragwürdiger Anschuldigungen und unzureichender Beweise handle.
Diese Beispiele machen deutlich, dass es um die handelspolitischen Beziehungen zwischen China und der EU im Moment nicht gut bestellt ist. Immer mehr entwickeln sich diese zu einem Kampf um Marktregeln und industrielle Souveränität.
Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft vom April 2024 zeigte, dass China seine Schlüsselindustrien – darunter E-Autos, Windturbinen und Schienenfahrzeuge – in weit größerem Umfang subventioniert als europäische Staaten. Die staatliche Unterstützung reiche von direkten Zuschüssen und Steuervergünstigungen über zinsgünstigte Kredite bis zu verbilligten Vorleistungen und Vorteilen bei öffentlichen Ausschreibungen.
Diese Maßnahmen haben es chinesischen Konzernen wie dem Autobauer BYD oder der Schienenfahrzeughersteller CRRC ermöglicht, ihre Produktionskapazitäten rasch auszubauen und international aggressive Preisstrategien zu verfolgen. Laut den Autoren liegen die Industriesubventionen Chinas drei- bis neunmal höher als in großen EU-Ländern.
Chinas Strategie der Marktüberflutung
Die eigentliche Herausforderung für Europa ist jedoch nicht nur der unlautere Wettbewerb, sondern die dahinterstehende Strategie der Volksrepublik China, Europa wirtschaftlich und politisch zu überrollen. Es handelt sich hier um einen gezielten Plan, der tief in den Strukturen des chinesischen Wirtschaftssystems verwurzelt ist.
Eine 2020 veröffentlichte Studie mit dem Titel „Was Chinas Industriepolitik für die deutsche Wirtschaft bedeutet“ der Bertelsmann Stiftung unterstreicht, dass dahinter eine strategisch, staatlich gelenkte Entwicklung steht. Im Rahmen der Initiative „Made in China 2025“ verfolgt China seit mindestens zehn Jahren das Ziel, in zehn Schlüsseltechnologien wie Robotik, Halbleiterproduktion und Maschinenbau, eine führende Rolle einzunehmen.
Laut der Bertelsmann-Studie bedeutet dies eine gezielte Förderung dieser Sektoren durch die Zentralregierung mit massiven Subventionen, die es den chinesischen Unternehmen ermöglichen, zu Dumpingpreisen auf internationalen Märkten zu agieren. Das untergräbt die Wettbewerbsfähigkeit der westlichen Industrien. Laut der Studie musste der deutsche Maschinen- und Anlagenbau dadurch „umfangreiche Rückgänge bei den Exporten nach China“ hinnehmen. Die „Konkurrenzsituation in vielen anderen Regionen“ habe sich zudem zugespitzt.
In einem Szenario der Studie könnte der Export deutscher Maschinenbauer nach China bis 2030 deutlich einbrechen, was den Wettbewerb erheblich verzerren und die wirtschaftliche Abhängigkeit Europas von China verstärken würde.
Unternehmen als verlängerte Arme der Partei
Eine im Jahr 2016 ebenfalls von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichte Studie mit dem Titel „China 2030: Szenarien und Strategien für Deutschland“ zeigte auf, dass die Kommunistische Partei Chinas über Parteigremien in staatlichen Unternehmen direkten Einfluss nimmt. Unternehmen agieren als verlängerte Arme der Partei, die strategische Zielvorgaben umsetzen.
Kredite und Fördermittel werden, so legt es wiederum die Industriepolitik-Studie nahe, auf strategischer, nicht marktwirtschaftlicher Basis vergeben, um Branchen zu stärken und Überkapazitäten zu generieren.
Die Autoren der Studie schreiben:
„Gleichzeitig wirkt diese Situation allerdings wie ein Signal für die chinesische Regierung, den technologischen Aufholprozess gegenüber den westlichen Industrieländern zu intensivieren und damit einen Wettbewerbsvorteil bei Hightech- und Schwellentechnologien zu erlangen. Beispiele für solche politischen Instrumente in China mit Angebotsüberschuss sind: hohe F&E-Finanzierung, Kapitalspritzen für chinesische Unternehmen, Technologietransfer von multinationalen Unternehmen mit Tochtergesellschaften in China und Technologietransfer aus dem Ausland.“
Zollverschärfungen: Nur bedingt effektiv
Zollverschärfungen gegen China sind allerdings nur bedingt ein effektives Mittel, um Europa vor Wettbewerbsdruck zu schützen. Sie können ein Signal setzen, aber keine umfassende Strategie ersetzen. So konstatiert ein Kommentar auf der Website des US-Thinktanks Center for Strategic and International Studies mit Blick auf die Autoindustrie nach der Verabschiedung der damals umstrittenen Zölle auf E-Autos im Oktober 2024:
„Die neuen Zölle signalisieren die Fähigkeit der Europäischen Union, auch bei starkem internem Widerstand gegen China vorzugehen und so einseitig gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den beiden Handelspartnern zu schaffen. Allerdings könnten Zölle an Wirksamkeit verlieren, wenn sie nicht von Maßnahmen begleitet werden, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass europäische Automobilhersteller wettbewerbsfähiger gegenüber ihren chinesischen Konkurrenten werden.“
Gleichzeitig zeigte eine Analyse der Europäischen Zentralbank vom März, wie sich die von den USA eingeführten Zölle auf chinesische Produkte auf die Eurozone auswirkten: Dass damit zwar chinesische Exporte in die USA reduziert wurden, jedoch chinesische Anbieter „alternative Märkte“ wie die Eurozone stärker beliefern.
Zölle können also Handelsumlenkung erzeugen, ohne das Grundproblem zu lösen. Somit: Zollmaßnahmen können Teil des Schutzschilds sein, doch ohne verstärkte Wettbewerbsfähigkeit, klare Ausrichtung der Industriepolitik und koordinierte Maßnahmen gegen Umgehung bleiben sie ein unvollständiges Instrument im Verhältnis zu einer systematischen China‑Strategie.
Ökonomisch betrachtet könnten höhere Zölle somit kurzfristig die europäische Industrie schützen und den Wettbewerbsdruck verringern. Insbesondere die deutsche und europäische Stahlindustrie, die durch Chinas Exportüberschüsse stark unter Druck steht, könnte von Zöllen profitieren. Die Erhebung von Strafzöllen würde den Preisunterschied zwischen chinesischen und europäischen Produkten erhöhen und den Wettbewerb in den betroffenen Sektoren fairer gestalten.
Bumerang für die deutsche Wirtschaft?
Allerdings gibt es auch mögliche negative Auswirkungen: Zölle auf chinesische Produkte könnten die Produktionskosten in anderen Industrien, die auf billigen Stahl und andere Materialien angewiesen sind, in die Höhe treiben. Dies könnte vorwiegend die Automobil- und Maschinenbauindustrien betreffen, die große Mengen an Stahl benötigen, aber auch auf die Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten angewiesen sind. Eine Erhöhung der Produktionskosten könnte die Produktionskapazitäten in Europa weiter schwächen und das Wachstum in diesen Sektoren bremsen.
Die Frage, die sich Europa stellen muss, ist, wie es in den kommenden Jahren auf diese Bedrohung reagieren wird. Der Ruf nach höheren Zöllen und stärkerem Schutz vor chinesischen Überkapazitäten ist nur eine Reaktion auf ein viel tieferliegendes Problem: die wirtschaftliche Abhängigkeit von China. Wird Europa sich für eine Strategie der wirtschaftlichen Selbstbestimmung entscheiden und eigene Kapazitäten aufbauen, um unabhängiger von China zu werden – das sogenannte Derisking? Oder wird es weiterhin auf eine Politik der offenen Märkte setzen, die von China zunehmend dominiert wird?
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)
Patrick Langendorf schreibt seit drei Jahren für Epoch Times zu den Themen Politik, Wirtschaft und Finanzen.
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