Großbrand in Hongkong: Trauer, Zensur und die Suche nach der Wahrheit
Ein Großbrand im fernöstlichen Metropolraum Hongkong forderte über 150 Tote und löste massive öffentliche Trauer und Empörung aus. Gelöschte Berichte, eine unterdrückte Petition und die Festnahme eines Studenten verstärkten die Kritik an Behörden und dem Nationalen Sicherheitsgesetz. Viele Bürger sehen das einstige Versprechen von „Ein Land, zwei Systeme“ längst gebrochen.
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Am 2. Dezember gedenken die Menschen in Hongkong der Verstorbenen auf dem Platz vor der verbrannten Wohnanlage.
Am Dienstag, dem 2. Dezember, herrschte in Hongkong Trauerstimmung. Vor sieben verkohlten Wolkenkratzern im nördlichen Stadtteil Tai Po (大埔) liegt ein Blumenmeer, um das herum die Menschen still stehen. Gegen 14 Uhr betraten etwa 20 buddhistische Mönche den danebenliegenden Park und hielten eine Gedenkzeremonie für die am 26. November durch das Feuer Verstorbenen ab, begleitet von weinenden Familienangehörigen. Dies ist der siebte Tag nach dem Großbrand. Laut chinesischer Tradition verlassen die Seelen der Verstorbenen erst an diesem Tag die Menschenwelt.
Unter den Trauernden war auch Herr Ng, der Blumen in der Hand hielt. Er sagte der chinesischsprachigen Epoch Times, er kenne niemanden der Verstorbenen persönlich, trauere aber mit den Familien. „Ich weiß nicht, wie Hongkong so werden konnte“, sagte er und stockte. „Ich bin sehr enttäuscht.“
Eine Frau namens Ren erklärte, sie fühle sich sehr betroffen für die Familien, die ihr Zuhause im Brand verloren hätten. In Bezug auf die jüngste Erklärung der Regierung äußerte sie ihre Empörung: „Wir wollen kein Geld, sondern die Wahrheit. Das ist die Antwort, die alle Menschen in Hongkong hören wollen.“ Die Behörden hatten zwar finanzielle Unterstützung für die Betroffenen sowie kurzfristige Nothilfe versprochen, doch Ren und viele andere Angehörige kritisieren, dass dies die dringendsten Fragen nach Verantwortlichkeit und Transparenz nicht beantwortet.
Der Großbrand war am vergangenen Mittwoch im Wohnkomplex Wang Fuk Court (宏福苑) ausgebrochen. Das Feuer wütete über 43 Stunden lang in sieben der acht Hochhausblöcke der Wohnanlage mit insgesamt fast 2.000 Wohneinheiten. Bis zum 3. Dezember wurden offiziell 159 Todesopfer geborgen. 30 Menschen galten noch als vermisst. Das Feuer ist das Tödlichste in der Stadt seit sechs Jahrzehnten.
Die vierzig Jahre alten Gebäude der Wohnanlage Wang Fuk Court waren wegen Renovierungsarbeiten vollständig mit Bambusgerüsten und grünen Schutznetzen eingehüllt. Viele Fenster waren zudem mit Schaumstoffplatten versiegelt, sodass der Rauch kaum entweichen konnte; gleichzeitig versagte das Alarmsystem.
Nach dem Brand stellte die Öffentlichkeit Fragen zu Ursachen und Verantwortlichkeiten: Wer leitete das Renovierungsprojekt, wie wurde es vergeben und kontrolliert? Die Polizei nahm drei Männer wegen Totschlagsverdachts fest; später verhafteten Antikorruptionsbehörden sie erneut, zusammen mit acht weiteren Verdächtigen, darunter Projektleiter, Ingenieurdirektoren und Gerüstbauer.
Die pro-Peking-Zeitung Ta Kung Pao enthüllte in einer Serie von vier Artikeln massive Missstände im Bausektor: überhöhte Preise, Kartelle, Korruption und minderwertige Materialien. Im Zentrum steht die Baufirma Hung Yip (鴻業), verantwortlich für die Außenrenovierung. Trotz vorheriger Sicherheitsverstöße gewann sie weiterhin Ausschreibungen.
Insider berichten von Kartellpraktiken, Kostenmanipulationen und dem Einsatz billiger, leicht entflammbarer Schutznetze. Obwohl Behörden sie als zündsicher bezeichneten, kritisierte die Zeitung in ihrer Serie zu schwache Kontrollen. Die Artikelserie wurde am 30. November aus „technischen“ Gründen aus dem Online-Archiv entfernt – nicht gelöscht, sondern versteckt. Über alternative Links und Umleitungen konnten Leser die Artikel noch aufrufen.
Hongkong: Die Menschen trauern am 2. Dezember vor der verbrannten Wohnanlage um die Verstorbenen.
Foto: Xiao Long / Epoch Times
Petitionsinitiator verhaftet
In ganz Hongkong besuchten Tausende Einwohner provisorische Gedenkstätten, um ihre Anteilnahme auszudrücken. In den mit Blumen und Kondolenzbüchern gefüllten Gemeindezentren wischten sich die Menschen still die Tränen ab. Die öffentliche Trauer ist groß, gleichzeitig brodelt es vor Frustration. Viele Bürger wollen von der Regierung die Wahrheit wissen.
Miles Kwan, ein 24-jähriger Student der Chinese University of Hong Kong (CUHK), startete am 28. November eine Online-Petition mit vier Forderungen:
Sicherstellung von Unterkünften für Überlebende
Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission
Überprüfung der Bauaufsicht hinsichtlich der Sicherheit
Rechenschaftspflicht von Regierungsbeamten für regulatorische Versäumnisse
Die Petition gewann rasch an Unterstützung und sammelte über 10.000 Unterschriften, bevor die Behörden sie stoppten.
Die Hong Kong Free Press veröffentlichte Fotos, die Kwan beim Verteilen von Flugblättern mit einem QR-Code zur Petition zeigen. Laut mehreren lokalen Medien wurde Kwan daraufhin am 29. November von der Nationalen Sicherheitsabteilung der Hongkonger Polizei verhört und anschließend festgenommen.
Ihm wird „Sedition“ (Aufstachelung zum Aufruhr) vorgeworfen, da die Behörden die Flyer und die Petition als „subversiv“ einstuften und sie angeblich die öffentliche Ordnung gefährden könnten. Die Hong Kong Free Press berichtete am 1. Dezember, dass Kwan beim Verlassen der Polizeistation Cheung Sha Wan gesehen wurde.
Vor seiner Verhaftung bezeichnete Kwan die Forderungen in der Petition in einem Interview mit der AFP als „sehr grundlegend“. „Wenn die Behörden diese Ideen als aufrührerisch oder ‚grenzüberschreitend‘ einstufen, habe ich das Gefühl, die Folgen für nichts mehr abschätzen zu können“, sagte er. „Ich kann nur das tun, woran ich wirklich glaube.“
Der Fall verdeutlicht die anhaltenden Spannungen zwischen der Zivilgesellschaft und den Behörden in Hongkong.
Am 29. November gab das chinesische Büro für nationale Sicherheit in Hongkong eine scharfe Warnung heraus und kündigte an, gegen jeden konsequent vorzugehen, der die Katastrophe „zur Anstiftung von Unruhen“ ausnutzt.
Die Behörden warnten davor, die Feuerkatastrophe zu instrumentalisieren, um Hongkong „in das Chaos von 2019 zurückzustürzen“. Damals hatten pro-demokratische Proteste das Regime der Kommunistischen Partei Chinas herausgefordert und eine politische Krise ausgelöst.
„Wir warnen die China-feindlichen Störer, die versuchen, Hongkong durch eine Katastrophe zu destabilisieren, eindringlich. Egal welche Methoden sie anwenden, sie werden mit Sicherheit zur Rechenschaft gezogen und streng bestraft“, so die Behörden.
Hongkong: Am 2. Dezember findet in der Nähe der verbrannten Wohnanlage eine buddhistische Zeremonie zum Gedenken an die Verstorbenen statt.
Foto: Xiao Long/Epoch Times
Unabhängiger Untersuchungsausschuss
In der chinesischen Sonderverwaltungszone und ehemaligen britischen Kronkolonie ist es politische Praxis, für aufwendige Überprüfungsverfahren schnell Untersuchungskommissionen einzusetzen, die in der Regel von einem Richter geleitet werden. Im aktuellen Fall wurde ein solcher Ausschuss sieben Tage nach dem Brand eingesetzt.
Am Dienstag, dem 2. Dezember, kündigte Regierungschef John Lee eine Untersuchung des Unglücks durch einen „unabhängigen Ausschuss“ an. Zugleich verteidigte er das Vorgehen der Behörden gegen Menschen, deren Kritik im Zusammenhang mit dem Großbrand als „Aufwiegelung“ bewertet wurde.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erklärte, die Brandkatastrophe habe „ernsthafte Bedenken“ in der Bevölkerung ausgelöst. Es sei nun „wichtig, diejenigen, die nach Antworten zu dem tragischen Feuer suchen, nicht als Kriminelle zu behandeln“, mahnte die HRW-Asien-Direktorin Elaine Pearson.
Eine am selben Tag geplante Pressekonferenz von Vertretern der Zivilgesellschaft zur Brandkatastrophe wurde kurzfristig abgesagt. Laut lokalen Medien wurden Initiator Bruce Liu und weitere Beteiligte von der Nationalen Sicherheitspolizei „zu einem Treffen eingeladen“. Später wurde Liu beim Verlassen einer Polizeiwache gesehen.
In einem U-Bahn-Tunnel in der Nähe des Unglücksorts wurden zahlreiche Botschaften der Anteilnahme in Form bunter Klebezettel hinterlassen. Solche sogenannten Lennon Walls waren während der Hochphase der Pro-Demokratie-Proteste in Hongkong 2019 entstanden. Als AFP-Reporter am Dienstagnachmittag die improvisierte Gedenkstätte erneut besuchten, waren die Klebezettel entfernt. Allerdings tauchten neue auf Wänden, Pfählen und Bänken in der Nähe des Unglücksorts auf.
„Ein Land, zwei Systeme“ – begraben unter der Asche
Am 1. Juli 1997 gab Großbritannien seine seit 100 Jahren bestehende Kolonie Hongkong an China zurück. Unter der Bedingung, dass Rechtsstaatlichkeit, Grundfreiheiten und Autonomie für mindestens 50 Jahre gewahrt bleiben, wurde die sogenannte „Ein Land, zwei Systeme“-Garantie bis 2047 gegeben.
Das kommunistische Regime in Peking hält sein Versprechen jedoch nicht. Die Lage für Demokratie und Freiheit in Hongkong hat sich zusehends verschlechtert.
Mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz (NSG) von 2020 wird Kritik an der Regierung als „Subversion“ kriminalisiert. Die Wahlreform von 2021 erlaubt nur „Patrioten“, für das Parlament zu kandidieren; die Opposition ist fast zur Gänze ausgeschlossen. Über 280 Demokratieaktivisten wurden seither verhaftet, darunter Joshua Wong und Jimmy Lai.
Die Apple Daily, die mit einer Auflage von einer Million die größte pro-demokratische Zeitung Hongkongs war, wurde am 24. Juni 2021 zwangsweise geschlossen. Dem letzten Drucktag gingen Razzien der Polizei und das Einfrieren des Firmenvermögens durch das NSG voraus. Jimmy Lai, der Gründer der Zeitung, sitzt seit Ende 2020 in Haft.
Der 67-jährige, renommierte Schriftsteller Chip Tsao aus Hongkong sagte in einem Podcast, wenn die Apple Daily noch existiert hätte, hätte die Zeitung Investigativreporter zu dem Bauprojekt geschickt und den Skandal aufgedeckt. „Dann hätte es dieses Feuer nicht gegeben.“
Der in Australien lebende Hongkonger Erziehungswissenschaftler Song Lin äußerte gegenüber der chinesischsprachigen Epoch Times, dass „Ein Land, zwei Systeme“ tot sei. Sein Schulfreund und dessen Frau, beide pensionierte Beamte, lebten in dem ausgebrannten Wohngebäude. Die Frau verlor ihr Leben im Feuer, ihr Mann wurde verletzt.
Lin Song hatte das Glück, dass er vor 1997 aus Sorge um seine Freiheit auswandern konnte. „Heute verhält sich die Regierung in Hongkong wie in Festlandchina. Wenn es Probleme gibt, versucht sie nicht, diese zu lösen, sondern verhaftet zuerst die Menschen, die offen darüber sprechen“, so Lin.