Der Orbán-Konflikt: Warum Ungarn die europäische Einigung „blockiert“
In der Lesart führender europäischer Politiker blockiert Orbán die Zusammenarbeit in der EU. Der ungarische Ministerpräsident hingegen sagt, er vertrete lediglich die nationalen Interessen Ungarns gegen die zunehmende Zentralisierung in der EU. Auch sein Widerstand gegen den EU-Beitritt der Ukraine sei Teil einer umfassenden Strategie.
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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vor der Konferenz der Präsidenten der europäischen Parlamente in Budapest am 12. Mai 2025.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán lehnt einen beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine ab und hat mehrfach angedroht, dass Ungarn dem nicht zustimmen werde. Um seine Position zu stärken, lässt er derzeit eine Volksbefragung in seinem Land durchführen. Die Frage ist brisant, denn für den Beitritt des kriegsgebeutelten Landes ist die einstimmige Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten erforderlich.
Der irische Premierminister Micheál Martin forderte kürzlich, dass die Europäische Union das als „nukleare Option“ bezeichnete EU-Verfahren nach Artikel 7 zum Schutz der Grundwerte der EU gegen die Vetos Ungarns einsetzen solle. In einem Interview mit „Euronews“ plädierte Martin dafür, Ungarn das Stimmrecht im Europäischen Rat zu entziehen.
Seiner Aussage nach missbrauche die ungarische Regierung wiederholt die Entscheidungsregeln der EU und blockiere nun in „empörender“ Weise auch den EU-Beitritt der Ukraine.
„Wir haben das Prinzip der Einstimmigkeit in gewisser Hinsicht akzeptiert. Aber es wird missbraucht. Und die Europäische Union wird funktionsunfähig, wenn dieser Missbrauch weitergeht“, so Martin.
Zankapfel Einstimmigkeitsprinzip
Das Europäische Parlament hatte bereits 2018 gegen Ungarn ein sogenanntes Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 eingeleitet. Während des Verfahrens wurden dem Land bereits Mittel in Höhe von mehreren Milliarden Euro vorenthalten, da die EU Verstöße gegen die Prinzipien der Demokratie befürchtet. Die Kritik betrifft vor allem Einschränkungen der Medienfreiheit und die Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz. Zudem werden Korruption und fehlende Transparenz in der Regierung bemängelt.
Das Verfahren hat jedoch bisher nicht die kritische zweite Phase erreicht, indem der Rat einem Mitglied bestimmte Mitgliedsrechte inklusive Stimmrechten aussetzen könnte.
Orbán bringt in verschiedenen Fragen regelmäßig ein mögliches Veto im Europäischen Rat ins Spiel – etwa bei der gemeinsamen Schuldenaufnahme zugunsten der Ukraine oder bei wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland oder China.
In den vergangenen Monaten wurde mehrmals über Maßnahmen wie einen Entzug des Stimmrechts Ungarns oder gar eine Reform des EU-Abstimmungssystems diskutiert, um die Zahl der Entscheidungen zu reduzieren, welche Einstimmigkeit erfordern.
Die wachsende Kluft zwischen Ungarn, den EU-Institutionen und anderen Mitgliedstaaten wurde in den vergangenen Tagen bei der Konferenz der Parlamentspräsidenten der EU-Mitgliedstaaten, welche im Budapester Parlament abgehalten wurde, deutlich.
Orbán: Schutz der nationalen Souveränität
Orbán beruft sich bei der Drohung mit Vetos auf die Interessen des ungarischen Volkes, welche geschützt werden sollten. Auch in seiner Antwort auf den irischen Premierminister reagierte er ähnlich.
„Für uns ist Irland ein Symbol für Freiheit und Souveränität. Deshalb ist es immer wieder schockierend zu sehen, wenn ein irischer Patriot sich auf die Seite des Imperiums stellt, anstatt für die nationale Souveränität einzutreten“, erklärte Orbán auf X.
Martin äußerte seine Kritik zu einem Zeitpunkt, als in der ungarischen Hauptstadt ein offizielles EU-Treffen stattfand.
Am 11. und 12. Mai kamen die Präsidenten der Parlamente der EU in Budapest zusammen. Das jährliche Treffen dient dem Erfahrungsaustausch und folgte der Ratspräsidentschaft Ungarns im vergangenen Jahr. Eingeladen waren auch die Parlamentspräsidenten der Ukraine sowie von Moldau und Georgien.
EU: Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit
Auf der Agenda stand die Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit. Orbán betonte in seiner Rede an die Parlamentspräsidenten den Schutz der nationalen Souveränität.
Er warf der EU vor, auf Krisen wie Krieg, Migration und Energieprobleme stets mit einer weiteren Zentralisierung der Macht zu reagieren – und dabei die Nationalstaaten zu unterdrücken. Diese jedoch seien, so Orbán, das Fundament der wahren „gemeinsamen europäischen Werte“.
„Wer nicht im Chor mitsingt, wer die nationalstaatlichen Strukturen verteidigt, dem droht Brüssel mit dem Entzug von EU-Geldern“, so Orbán.
Die von Brüssel durchgesetzten westlichen Sanktionen und der Green Deal zerstörten laut Orbán Europas Wirtschaft. Die Fortsetzung des Krieges führe in eine Sackgasse. Einen EU-Beitritt der Ukraine hält er für gefährlich und wirtschaftlich schädlich.
Als Lösung präsentierte er einen Vorschlag, den das ungarische Parlament bereits 2022 der EU unterbreitet hatte. Dieser sieht vor, das Prinzip der „immer engeren Union“ aus den Verträgen zu streichen. Stattdessen sollen Europas christliche Wurzeln und kulturelle Identität vertraglich verankert werden. Zudem sollen die politische und ideologische Neutralität der Europäischen Kommission festgeschrieben sowie das Subsidiaritätsprinzip gestärkt werden.
Konferenz der Präsidenten der Parlamente der EU in Budapest am 12. Mai 2025.
Foto: Attila Kisbenedek/AFP via Getty Images
Scharfe Kritik an Orbán
Während der Konferenz der Parlamentspräsidenten übten mehrere Redner scharfe Kritik an Orbán, insbesondere im Hinblick auf die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Annita Demetriou, Präsidentin des zyprischen Repräsentantenhauses, bezog sich direkt auf Orbáns Worte, als sie sagte, dass „niemand im Chor mit einer anderen Stimme singen kann, weil am Ende kein Chor mehr übrig bleibt“.
Rasa Budbergytė, Vizepräsidentin des litauischen Parlaments, forderte Ungarn auf, sich den anderen EU-Mitgliedstaaten in der Ukraine-Frage anzuschließen. Agnieszka Pomaska, Vorsitzende des Europaausschusses des polnischen Sejms, sagte, dass man keine starke EU mit denjenigen aufbauen könne, die die Einheit von innen heraus untergraben.
Jussi Halla-aho, Präsident des finnischen Parlaments, sagte, er sympathisiere mit Orbáns kritischen Äußerungen zur EU, stimme aber den seiner Ansicht nach „defätistischen“ Schlussfolgerungen des Ministerpräsidenten nicht zu. Er sagte außerdem, dass die Unterwerfung unter „autoritäre Imperien“ keine europäische patriotische Lösung sei – eine klare Anspielung auf Orbáns freundliche Politik gegenüber Russland und China.
In der EU wird diese Kritik auch häufig im Zusammenhang mit Orbáns Vetos geäußert. Seine Gegner behaupten, dass Orbán unter dem Deckmantel nationaler Interessen in Wirklichkeit die Interessen Pekings oder Moskaus vertrete. Im Gegenzug für wirtschaftliche Vorteile sei er praktisch ihr Trojanisches Pferd innerhalb der EU.
Bei der Debatte im ungarischen Parlament sprach auch Ruslan Stefantschuk, der Präsident des ukrainischen Parlaments. Stefantschuk forderte mehr Unterstützung und dass Europa an seinen grundlegenden Werten festhält, anstatt sich auf billige russische Energie zu verlassen.
Auch Roberta Metsola, Präsidentin des Europäischen Parlaments, hielt eine Grundsatzrede im Budapester Parlament. Darin betonte sie im Gegenteil zu Orbán nicht die nationale, sondern die europäische Identität. Sie sprach über „eine gemeinsame Demokratie“ und über europäische Bürger, die „nicht durch unsichtbare und unnötige Barrieren getrennt“ seien.
Metsola sagte auch, dass „Budapest genauso ein Teil Europas ist, wie es Brüssel oder Straßburg, Riga oder Dublin sind“.
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, spricht am 12. Mai 2025 im Parlamentsgebäude in Budapest.
Foto: Attila Kisbenedek/AFP via Getty Images
Direkt auf die Ausführungen Orbáns ging Metsola nicht ein. Sie erklärte jedoch: „Es gibt jene, die diesen Ansatz ablehnen, die diese Fortschritte rückgängig machen wollen, die uns dazu drängen, uns nach innen zu wenden, unsere Türen zu schließen und Europa und allem, was es uns bieten kann, den Rücken zuzukehren.“
Sie räumte ein, dass „das europäische Projekt nicht perfekt ist“. Doch ihr zufolge gebe es keinen Grund, sich zurückzuziehen. Es sei vielmehr ein Grund mehr und nicht weniger, in der EU zusammenzuarbeiten.
Metsola sagte kürzlich in einer Pressekonferenz auch, dass es selbst in jenen Fällen, in denen die Zusammenarbeit aller 27 Mitgliedstaaten erforderlich ist, aber ein Staat sich weigert, mitzumachen, Lösungen gebe. Sie spielte damit darauf an, dass auch 26 Staaten eine gemeinsame Erklärung abgeben können.
Warnung vor „Diktatur einer kleinen Gruppe“
László Kövér, Präsident des ungarischen Parlaments, warnte in seiner Rede vor aus seiner Sicht gefährlichen Tendenzen. Demnach sei die „politische EU-Elite“ bereit, „die Regeln der inneren Demokratie innerhalb der EU“ sowie das Prinzip der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten „über Bord zu werfen“.
Das damit verbundene Risiko sei laut Kövér, dass dies den Weg für eine „Diktatur einer kleinen Gruppe“ in Brüssel ebne. Dies führe letztlich auch zur vollständigen „Abschaffung der nationalen Souveränität“.
Kövér warnte auch davor, dass derzeit in allen europäischen Ländern ein „bewusster und systematischer geistiger, seelischer und politischer Kampf gegen traditionelle Familien, christliche Kirchen und nationale Identität“ geführt werde. Dieser Angriff überschreite mittlerweile die Schwelle des „Identitätsterrorismus“.
Deutschland als abschreckendes Beispiel
Als Beispiel führte Kövér Deutschland an. Er erklärte, dass „der Geheimdienst des bevölkerungsreichsten Mitgliedstaates der Europäischen Union“ gerade in diesen Tagen in einem Schriftstück dargelegt habe, dass ein ethnischer Volksbegriff mit der Demokratie unvereinbar sei.
Damit bezog sich Kövér zweifellos auf eine Stellungnahme des Bundesamts für Verfassungsschutz, mit der die Behörde die Einstufung der AfD als „gesicherte rechtsextremistische Bestrebung“ begründet hat. Das BFV teilte darin mit, dass das „in der Partei vorherrschende ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis […] nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar“ sei.
„Sie sagten nicht, dass der Ausschluss aus der Nation aus ethnischen Gründen gegen die Demokratie verstößt, sondern dass der Begriff der Nation, der in der ethnischen Identität verwurzelt ist, für die Demokratie gefährlich ist“, so Kövér.
Der „Knackpunkt“ sei seiner Meinung nach, dass es „ohne ethnische Elemente keine Nation gibt“. Die europäischen Nationen seien nämlich Produkte ethnischer Gemeinschaften, die sich über eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Kultur definieren.
Die nationale Identität sollte Kövér zufolge nicht von ethnischen Elementen befreit werden. Ungarn schlage vor, das Recht auf nationale Identität gemeinsam in Europa zu schützen. Dieses Recht soll Teil einer neuen Generation europäischer und weltweiter Menschenrechte werden. Davon sollen jedoch nicht nur die traditionellen Minderheiten profitieren, die etwa 10 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung soll davon einen Vorteil haben.
Mária S. Szentmagyari ist eine ungarische Juristin mit deutschen Wurzeln und lebt im Grünen unweit von Budapest. Mit Leidenschaft und großem Interesse an geopolitischen Zusammenhängen berichtet sie für die Epoch Times über die aktuellen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, der Ukraine, Russland und dem Nahen Osten. Die Kommentare unter ihren Artikeln liest sie mit besonderer Neugier.