Chaos-Wahl mit offenem Ausgang

Die Wahlpannen in Berlin beschäftigen die Gerichte auch mehr als fünf Wochen nach dem Urnengang. Das Landesverfassungsgericht hatte jüngst einen Eilantrag abgewiesen, wonach die erste Sitzung des neuen Berliner Abgeordnetenhauses bis zum Ergebnis der Wahlprüfung untersagt werden sollte. Der Antragsteller reagierte prompt – und hat noch einiges vor.
Titelbild
Wahl in Berlin.Foto: Steffi Loos/Getty Images
Von 5. November 2021

Geöffnete Wahllokale bis 20:56 Uhr, 73 vorübergehend geschlossene Wahllokale, auffallend viele ungültige Stimmen, fehlende, falsche und nicht ausgegebene Stimmzettel und überforderte Wahlhelfer. Die Liste der Pannen am Superwahltag in Berlin ließe sich fast beliebig fortsetzen.

Die inzwischen zurückgetretene Landeswahlleiterin Petra Michaelis sprach von „erschreckenden und ärgerlichen“ Zahlen: In 207 von 2.254 Wahlbezirken sei es bei der Abgeordnetenhauswahl am 26. September zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen.

Rechtsprofessor Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität, der selbst Wahlhelfer war, schrieb im Internetforum „Verfassungsblog“ von „professionellem Versagen“ und „gravierendem Organisationsverschulden der Landeswahlleitung“.

Dass Stimmzettel ausgegangen seien, sei „beispiellos und unerklärbar“. Die Behinderungen bei der Stimmabgabe hätten rechtlich betrachtet „den Grundsatz der Freiheit der Wahl“ beeinträchtigt. Waldhoff hält die Vorkommnisse für rechts- und somit auch verfassungswidrig.

Für Staatsrechtler Ulrich Battis haben die Unregelmäßigkeiten bei der Wahl Folgen für die Verteilung der Mandate bei der Abgeordnetenhauswahl. „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Unregelmäßigkeiten am Wahltag in Berlin mandatsrelevant für die Abgeordnetenhauswahl sind“, sagte der frühere Professor an der Humboldt-Universität Berlin gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. In Berlin reichten schon weniger als 1.000 abweichende Zweitstimmen aus, damit sich das Kräfteverhältnis der Parteien im Abgeordnetenhaus ändere.

Parlament ohne demokratische Legitimität

Gründe genug für Marcel Luthe, einen Eilantrag einzureichen, um die erste Sitzung des neuen Berliner Abgeordnetenhauses bis zum Ergebnis der Wahlprüfung untersagen zu lassen. Nach dem umstrittenen amtlichen Ergebnis der Wahl vom 26. September gehört der streitbare Politiker nicht mehr dem neu gewählten Abgeordnetenhaus an.

Seine Freien Wähler erhielten nur 0,8 Prozent der abgegebenen Stimmen – obwohl Umfragen sie zuvor bei rund drei Prozent gesehen hatten. Bei der Wahl seien die Mängel so gravierend gewesen, so Luthe, dass dem neuen Parlament die demokratische Legitimität fehle. Die konstituierende Sitzung müsse bis zur Entscheidung über das Wahlprüfungsverfahren einstweilen untersagt werden.

Vergangenen Montag erklärte der Verfassungsgerichtshof den Antrag für unzulässig, ein Aufschub widerspreche der Berliner Verfassung. Diese besagt, dass das Parlament spätestens sechs Wochen nach der Wahl zusammentreten muss.

Dies gelte laut Verfassungsgerichtshof auch dann, wenn Rechtsverstöße bei der Wahl vorgebracht werden. Einwände gegen die Zusammensetzung des Parlaments müssen nach Ansicht der Richter im Wahlprüfungsverfahren erhoben werden.

Die Crux: Der Verfassungsgerichtshof prüft die Anträge erst nach Ende der Einspruchsfrist Ende November – und entscheidet dann, ob die Wahl wiederholt werden muss. Dies könnte sich über mehrere Monate hinziehen. Das Berliner Abgeordnetenhaus konnte auf Basis dieser Entscheidung wie geplant am Donnerstag erstmals zusammentreten.

„Bislang einmaliger, geradezu beispielloser Vorgang“

Luthe reagierte umgehend mit einer sogenannten Anhörungsrüge. Damit kann eine Gerichtsentscheidung angegriffen werden, wenn kein Rechtsmittel eingelegt werden kann. „Der mit hiesiger Gehörsrüge angegriffenen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ist nicht zu entnehmen, dass sich das Gericht mit den Argumenten des Antragstellers auseinandergesetzt hat“, lautet eines der Argumente im Schriftsatz.

Der Antragsteller habe zur Begründung seines Antrages im Wesentlichen darauf verwiesen, dass verhindert werden müsse, dass „aus einer derartig mangelhaften – chaotischen – Wahl eine Volksvertretung erwächst“.

„Der Verfassungsgerichtshof lässt vollkommen offen, wann die Voraussetzungen vorliegen sollen, dass eine solche einstweilige Anordnung überhaupt erlassen werden kann“, schreibt Luthe im Schriftsatz – und schließt die Frage an: „Wie schwerwiegend müssen die Wahlfehler erst werden, damit der Verfassungsgerichtshof die Konstituierung einstweilen unterbindet und damit dem Interesse aller von dieser Entscheidung betroffenen Bürgerinnen und Bürger Rechnung trägt?“

Um festzustellen, ob eine Frist zwischen Wahlen und erstem Zusammentreten zwingend einzuhalten sei, müsse zunächst geklärt werden, ob überhaupt eine den demokratischen Grundsätzen genügende Wahl stattgefunden habe:

„Der Verfassungsgerichtshof möge bei seiner Entscheidung mit bedenken, dass es sich hier um einen in der Geschichte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bislang einmaligen, geradezu beispiellosen Vorgang handelt, bei dem mit punktueller Prüfung und vereinzelter Neuauszählung oder Nachwahl keine Abhilfe geschaffen werden kann.“

Ultima Ratio: Der Gang bis zum Europäischen Gerichtshof

Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch offen, ob der Anhörungsrüge stattgegeben werden würde. Der Abgeordnete Marcel Luthe hatte zuvor bereits angekündigt, im Fall einer Ablehnung das Bundesverfassungsgericht anzurufen, um die für Donnerstag anberaumte konstituierende Sitzung zu verhindern.

„Wer, wenn nicht die Verfassungsgerichte, sollten denn verhindern, dass ein womöglich nicht demokratisch legitimiertes Parlament Schaden anrichtet“, wettert der Politiker – und gibt sich unverdrossen: „Wenn der Berliner Verfassungsgerichtshof das nicht als seine Aufgabe sieht, dann werden wir diese zentrale Frage für die Verteidigungsfähigkeit unserer Demokratie eben vor das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof bringen.“

Etwas anderes als die Anordnung einer vollständigen Wiederholung der Berliner Wahlen und Annullierung des verkündeten Ergebnisses kann und will er sich nicht vorstellen: „Mit einer Absegnung dieses Wahltages würde das Demokratieprinzip in Deutschland erodieren.“



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