Zwischen Gefühl und Sinnlichkeit: Die romantische englische Literatur des 19. Jahrhunderts

In „Sinn und Sinnlichkeit“ aus dem Jahr 1811 weisen zwei Schwestern sehr unterschiedliche Charaktere auf: die ältere Schwester ist klug, bescheiden und fällt nicht gerne auf, die andere schwelgt in ihren romantischen Gefühlen und gibt sich gern ihren Emotionen hin. Das Gefühl und die Sensibilität im Roman von Jane Austen.
Titelbild
“Evening or Full Dress”, eine Modetafel für “The Repository of Arts”, 1. Juni 1810, von Rudolph Ackermann. Handkolorierte Gravur auf Papier. Geschenk von Charles LeMaire, Kunstmuseum von Los Angeles County.Foto: Public Domain
Epoch Times20. Februar 2019

Jeder kennt eine Dramaqueen. In „Sinn und Sinnlichkeit“ von Jane Austen spielt Marianne Dashwood diese Rolle nur allzu gern. Sie demonstriert auf wunderbare Weise, wie sie sich dem schwärmerischen Gefühl hingibt. Bis hin zur Ekstase. Marianne folgt nur ihrem Herzen. Sie gibt sich jedem Gefühl hin. Malt sich diese in ihren kühnsten Träumen noch bunter aus und schwelgt in dieser Vorstellung und Fantasie. Unnötig zu sagen, es bringt sie fast um. Umgekehrt ist ihre Schwester Elinor, die uns durch die Geschichte führt, in Vernunft und Selbstbeherrschung tief verankert.

Maureen Stiller, Ehrensekretärin der Jane Austen Society des Vereinigten Königreichs, erzählt in einem Interview mit Epoch Times ein wenig davon, wie Austen in ihrem 1811 erschienenen Roman „Sense and Sensibility“ den Unterschied zwischen dem ekstatischen Gefühl der Schwärmerei und der Vernunft, die sich von Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung, nährt.

Marianne in ihren Emotionen gefangen. Eine Illustration von C. E. Brock in der 1908er Ausgabe von „Sinn und Sinnlichkeit“ Foto: Public Domain

Epoch Times: Erzählen Sie uns bitte von Jane Austens „Sinn und Sinnlichkeit“

Maureen Stiller: In „Sinn und Sinnlichkeit“ ist Marianne die jüngere Schwester der Heldin Elinor. Sie ist charmant und attraktiv, aber in all ihren Gefühlen und Handlungen, in der Art und Weise wie sie Sinnlichkeit und Liebe versteht und zelebriert einfach unangemessen. Sie hat keine Geduld für irgendjemanden, der nicht sofort auf alle ihre Geschmäcker und Gefühle eingeht. Marianne vergisst die Contenance, verliert ihre Höflichkeit, wenn sie auf ihre Meinung besteht, ohne dabei auf die Gefühle anderer zu achten.

Sie wird von ihrem Geliebten John Willoughby sitzengelassen und während dieser Trauerphase trägt sie ihr Herz ständig auf einem Präsentierteller. Sie beansprucht jeden um sich herum, isst und trinkt wenig, zum Kummer und Leid aller in ihrer Familie. Ja, es ist erlaubt, sich traurig zu fühlen und auch Mitleid von den anderen zu erwarten. Aber der Punkt ist, dass sie ihren Gefühlen permanent freien Lauf lässt, sie diese überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hat. Alle sind gezwungen an ihrem Liebeskummer teilzuhaben. Alle sehen ihren Schmerz, aber keiner kann ihr helfen, weil sie sich nicht helfen lassen will.

Im Gegensatz dazu wird die Geduld der Heldin Elinor durch das unberechenbare Verhalten von Edward Ferrars, dem Mann, den sie liebt, erheblich auf die Probe gestellt. Er wird von seiner Mutter und seiner Schwester beschimpft. Zudem taucht das Gerücht auf, dass er eigentlich mit Lucy Steele verlobt sei. Schließlich zieht sich Elinor aus Pflichtgefühl ihrer Familie gegenüber zurück. Sie beugt sich den gesellschaftlichen Konventionen, um ihre Mutter und ihre Schwester vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren. Aber auch, um ihre Würde vor Lucy zu bewahren.

Elinor erträgt all dies in ihrer Zurückgezogenheit und Stille. Sie bemüht sich um Höflichkeit und leistet weiterhin genügend Aufmerksamkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Damit versucht sie auch die Nachlässigkeit von Marianne auszugleichen. All dieses Bemühen hilft ihr, sich gegenüber den anderen nicht zu verraten, die ihre wahren Gefühle nicht ahnen.

Mr. Willoughby entdeckt Marianne, rettet sie und trägt sie nach Hause. Illustration von C. E. Brock in der 1908er Ausgabe von „Sense and Sensibility.“ Foto: Public Domain

Elinor ist weiterhin gezwungen, ihr Schweigen zu halten, weil sie Marianne pflegen muss, die durch ihre eigene Vernachlässigung fast gestorben wäre. Marianne erholt sich und offenbart ihrer Schwester ihr Einsehen.

Einige ihrer Zitate verdeutlichen ihre Buße: „Ich sah, dass meine eigenen Gefühle mein Leiden ausgelöst haben und dass mein Mangel an Standhaftigkeit mich fast ins Grab gebracht hat. Ich wusste sehr wohl, dass meine Krankheit durch eine solche Vernachlässigung meiner eigenen Gesundheit noch schlimmer schaden würde. Welches Elend sollte ich Ihnen hinterlassen haben? Gerade dir, die all die ärgerliche Selbstsucht meiner letzten Tage gesehen hatte. … Immer wenn ich in die Vergangenheit sah, sah ich eine Pflicht, die vernachlässigt wurde, oder eine, die versagte. Jeder schien von mir verletzt zu sein. Die Freundlichkeit, … hatte ich mit undankbarer Verachtung zurückgezahlt … Bei jeder Bekanntschaft war ich frech und ungerecht gewesen; mit einem verhärteten Herzen und ein übles Temperament, das durch mich deren Aufmerksamkeit irritierte. … Habe ich ihre Nachsicht nachgeahmt oder ihre Fesseln gemildert, … allgemeiner Gefälligkeit oder besonderer Dankbarkeit … habe ich mich von jeder Pflicht oder Freundschaft abgelehnt.“

Was genau ist mit „Sensibilität“ gemeint?

Zu Jane Austens Zeit gab es „den Kult der Sensibilität“. Als die Menschen individualistischer wurden und ihr Geschmack gebildeter, wurde die Sensibilität als wertvoll angesehen, was bedeutet, dass Sie sich in die Lage anderer Personen hineinversetzen konnten. Sie sind auf die Person eingegangen und deshalb wurde es tatsächlich als moralischer Wert betrachtet, wenn Sie dazu fähig waren. Aber natürlich gab es eine Gegenkultur, weil alle dachten, sie würden die Sensibilität zu sehr kultivieren und sich im Leid anderer suhlen und sich nur noch dem Gefühl hingeben.

Die Vernunft blieb nicht selten auf der Strecke. Und hier kommt Marianne natürlich ins Spiel, weil sie sich von diesem Gefühl des Sensiblen mitreißen lässt. Sie ist absolut begeistert von Poesie. Gleichzeitig kann sie niemanden ertragen, der Dinge nicht auf dieselbe Weise zu schätzen weiß, wie sie es tut. Sie ist erst 17 Jahre alt, aber trotzdem ist sie furchtbar romantisch. Marianne beschwert sich zum Beispiel darüber wie Edward Cowper liest.

Marianne beschwert sich über Edwards Lesung von Cowper. Illustration von Chris Hammond in der 1899er Ausgabe von „Sense and Sensibility“. Lilly Library, Indiana University. Foto: Public Domain

Kann man Sensibilität mit Empathie vergleichen?

Ja, das nannten sie dann „Sensibilität“. Hier ist eine moderne Definition von Sensibilität, wie sie damals gedacht wurde. „Die exquisitesten Verzückungen, die der Menschheit bekannt waren, sollten aus der Fähigkeit resultieren, für das Leiden anderer zu empfinden und es durch uneigennützigen Mut und Großzügigkeit zu lindern. Dieser Glaube war mit der wachsenden Sensibilität verbunden, die zu der Annahme führte, dass die bloße Fähigkeit, den Schmerz eines anderen zu empfinden, ein wertvolles Merkmal war, selbst wenn Sie keine praktische Hilfe anbieten konnten, was Sie irgendwie über das gewöhnliche, gefühllose Gefühl stellte und war an sich eine Quelle intensiver Freude.“ Dies ist aus Carolyn D. Williams ‚Essay über „Der Luxus des Guten Tuns: Wohlwollen, Sensibilität und die Royal Humane Society“.

Sensibilität ist also „Ich fühle deinen Schmerz“; das ist es wirklich. Gleichermaßen bedeutet dies, dass Sie sich auch all diesen sinnlichen Vergnügen hingeben können, was Marianne ja durchaus tut.

Was bereitet Ihnen an diesem Roman ‚Freude‘?

Ich bin mir nicht sicher, ob „Freude“ ein Wort ist, das ich verwenden würde, um ehrlich zu sein. Es gibt nur wenige Passagen, die mir wirklich Freude bereiten. Zum Beispiel gibt es eine Diskussion zwischen Elinors Bruder und seiner Frau darüber, wie viel Geld er seinen Schwestern hinterlassen sollte, nachdem der Vater gestorben ist. Und die Diskussion ist so heftig, dass seine Frau ihm nach so großzügiger Haltung immer wieder alle möglichen Entschuldigungen dafür gibt, warum er ihnen am Ende des Tages nur eine Gans zu Weihnachten schickt. Es zeigt nur, wie gierig manche Leute sind. Die Bücher von Jane Austen machen auch sehr nachdenklich.

Eine Illustration von Hugh Thomson in der Ausgabe von „Sense and Sensibility“ von 1896. British Library Collections. Foto: Public Domain

Was würden Sie jemandem sagen, wenn er eine Zeit lang keinen Roman von Jane Austen gelesen hat? Oder wenn jemand zum ersten Mal einen Roman von Jane Austen lesen will?

Wenn sie lange keinen Jane-Austen-Roman gelesen haben und jetzt damit beginnen wollen, werden Sie wahrscheinlich etwas anderes entdecken, als sie zuvor gefunden haben, und es wird ihnen wahrscheinlich ebenso gefallen. Egal in welchem Lebensabschnitt Sie sich befinden, es wird immer etwas geben, was diese Romane einem geben.

Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, ich war gerade im Jane-Austen-Haus beschäftigt, als eine Touristengruppe hereinkam. Eine Dame kam auf mich zu und sagte auf das Buch blickend: „Oh, ja, das ist das Original, nicht wahr?“ „Ja, das ist es“, sagte ich. „Oh ja, ich habe den Film neulich gesehen, es war reizend“, erwiderte die Dame. „Ich denke, es war ‚Sinn und Sinnlichkeit’“. Ich fragte: „Haben Sie das Buch gelesen?“ Und sie sagte: „Nein.“ Ich fragte sie, ob sie es denn noch lesen würde und sie sagte: „Oh nein!“ Die Bilder des Filmes liefen vor ihrem geistigen Auge ab und ich glaube nicht, dass sie das Buch deswegen lesen wollte.

Ich sage immer, wenn Sie Jane Austen nicht kennen, und wenn Sie ihre Bücher lesen – entweder Sie mögen sie oder nicht. Entweder beschäftigen Sie sich sofort mit einem Jane-Austen-Buch oder Sie denken, das ist nicht wirklich mein Fall. Ich spreche von einem Laien. Ein Wissenschaftler oder eine Person mit einem akademischen Hintergrund würde Jane Austen anders lesen als Sie und ich.

Gibt es noch etwas, das unsere Leser über Jane Austen wissen möchten?

Wie wir in unseren Gesprächen sagen, es ist nicht das was ausgesprochen wird, sondern das, was unausgesprochen bleibt, was die Romane so besonders machen. Es ist das, was zwischen den Zeilen steht, was die Geschichte eigentlich sagen will. Es gibt so viel zu erfahren und zu lernen, sowohl in Bezug auf die Sozialgeschichte als auch menschliches Miteinander.

Die kleinen Ausdrücke, die kleinen Nuancen sind es, die Sie zum Lachen und zum Nachdenken bringen. All diese Bilder, die sich aus ihren beschreibenden Begriffen ergeben – denn Jane Austen war mit ihrem Text eigentlich sehr bescheiden – die machen die Charaktere so vielschichtig. Es war eine andere Art von Schreiben als alles, was vorhergegangen war. Jane Austen besaß im Vergleich zu anderen eine sehr moderne Schreibweise. Ich denke, wir können sagen, dass ihr Text ein Prototyp für die moderne Sprache des heutigen Romans war.

Vielen Dank für dieses Interview.

Marianne erlaubt einem Gentleman, sich eine Haarsträhne als Andenken zu schneiden, was damals als unangebracht angesehen worden wäre, wenn die beiden nicht tatsächlich bereits verlobt wären. Illustration von Hugh Thomson in der Ausgabe von „Sense and Sensibility“ von 1896 Foto: Public Domain

Übersetzt und bearbeitet von Jacqueline Roussety

Quelle: The ‘Sense and Sensibility’ in Jane Austen’s Novel



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