Wenn sich die Welt dreht: Warum Schwindel so oft falsch verstanden wird
Schwindel ist mehr als ein Problem des Gleichgewichts. Welche Arten von Schwindel es gibt, welche Ursachen oft übersehen werden und wann umgehend ein Arzt aufgesucht werden sollte, erklärt Gastautor und Heilpraktiker René Gräber in seiner wöchentlichen Kolumne bei Epoch Times.
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Die moderne Medizin beschreibt Schwindel heute als Störung des gesamten Körperschemas, nicht nur als Problem des Ohres.
Schwindel ist nicht gleich Schwindel. Er hat verschiedene Auslöser und erfordert verschiedene Behandlungen.
Symptome ohne klaren Befund sind keine Einbildung. In der Schulmedizin werden sie oft unter dem Begriff PPPD zusammengefasst.
Behandlungsansätze stützen sich teils auf praktische Erfahrung. Zusammenhänge sind noch nicht vollständig verstanden.
Es gibt Situationen, in denen Schwindel sofort in eine Klinik und/oder zu einem Arzt gehört.
Schwindel gilt oft als „kleine Störung“, aber wer ihn erlebt, weiß, dass er einer der tiefsten Eingriffe in die Selbstwahrnehmung ist. In dem Moment, in dem der Boden schwankt oder der Raum zu kreisen beginnt, verliert jeder Mensch nicht nur die Orientierung, sondern vor allem auch ein Stück Vertrauen in den eigenen Körper.
Die moderne Medizin beschreibt Schwindel heute als Störung des gesamten Körperschemas, nicht nur als Problem des Ohres, in dem Teile des Gleichgewichtssinns sitzen. Die medizinischen Leitlinien betonen in der Akutphase zu Recht vor allem eines, nämlich gefährliche Ursachen, etwa Durchblutungsstörungen im Gehirn, Blutdruckkrisen oder Herzrhythmusstörungen, rechtzeitig zu erkennen oder auszuschließen.
Erst wenn diese „roten Flaggen“ geklärt sind, beginnt der Teil, über den kaum gesprochen wird: die vielen Patienten, bei denen alle Untersuchungen unauffällig bleiben und der Schwindel trotzdem bleibt.
Die klassischen Diagnosewege – notwendig, aber nicht das ganze Bild
In der Schulmedizin haben sich einige „große Brocken“ herauskristallisiert: benigner Lagerungsschwindel mit kurzen Drehschwindelattacken beim Lagewechsel, vestibuläre Migräne mit Schwindelphasen im Rahmen von Migräneerkrankungen, Morbus Menière mit Anfällen aus Schwindel, Hörminderung und Tinnitus, bilaterale Vestibulopathien oder vaskuläre Ursachen (Durchblutungsstörungen) im höheren Alter.
In den vergangenen Jahren ist außerdem ein Bild in den Vordergrund gerückt, das erstaunlich gut zu vielen „Schwindel ohne Befund“-Patienten passt: persistent postural-perceptual dizziness (PPPD) beziehungsweise anhaltender postural-perzeptiver Schwindel, ein chronischer, schwankender Schwindel, verstärkt durch Haltung, Bewegung und visuelle Reize, oft nach einem auslösenden „Ereignis“. Bildgebung und HNO-Befunde sind meist unauffällig, die Beeinträchtigung im Alltag aber ist enorm.
Das Dilemma „Schwindel real, Befunde unauffällig“ ist also auch der Schulmedizin bekannt. Es wird heute unter Schlagworten wie vestibulärer Migräne, PPPD oder funktionellem Schwindel geführt und ist damit alles andere als „eingebildet“. Trotzdem bleibt eine Lücke. Was ist mit den Faktoren, die selten systematisch angeschaut werden, etwa der oberen Halswirbelsäule oder dem Kiefer?
Die obere Halswirbelsäule – wichtig, aber kein Freibrief
Ein Bereich, der in vielen Leitlinien nur am Rand erwähnt wird, in der Praxis aber eine erstaunliche Rolle spielt, ist die obere Halswirbelsäule. Zwischen Hinterhaupt, Atlas und Axis sitzen hochsensible Propriozeptoren, die ständig Rückmeldung über Kopf- und Körperlage geben. Wenn hier Muskelspannung, Statik oder Gelenkspiel aus dem Takt geraten, kann das Gleichgewichtssystem irritiert werden. Man spricht dann von zervikogener Dizziness.
Die Halswirbelsäule (Pars cervicalis) besteht aus sieben Halswirbeln.
Foto: nach VectorMine/iStock
In vielen meiner Schwindel-ohne-Befund-Fälle finde ich Funktionsstörungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule, insbesondere des Atlas, deutlich häufiger, als im Klinikalltag überhaupt gesucht wird. Das ist keine prozentgenaue Wahrheit, sondern meine klinische Beobachtung, die gut zu dem Konzept einer störanfälligen Nackenpropriozeption passt.
Rein wissenschaftlich betrachtet bleibt diese Diagnose, ich sage mal, vorsichtig. Es gibt keinen Goldstandardtest. Es ist eigentlich immer eine Ausschlussdiagnose. Studien zur Manualtherapie im oberen Halswirbelsäulenbereich zeigen oft eine Besserung von Schwindelintensität und Beweglichkeit. Die sogenannte Evidenzsicherheit ist allerdings begrenzt.
Wichtig ist mir hier allerdings, dass aggressive Manipulationen an der Halswirbelsäule, speziell bei älteren Patienten, bei Gefäßerkrankungen oder Bindegewebsschwäche – wenn überhaupt – in sehr erfahrene Hände gehören. Sanfte Techniken, osteopathische oder manualtherapeutische Behandlungen, kombiniert mit sorgfältiger Diagnostik, sind aber aus meiner Sicht immer ein guter und verantwortlicher Weg.
Der Kiefer als Mitspieler – nicht als Hauptschuldiger
Ähnlich unterschätzt ist der Kiefer. Eine craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) ist mehr als Zähneknirschen. Sie ist eine Funktionsstörung von Kiefergelenk, Kaumuskulatur und Bisslage, die sich entlang der Muskel- und Faszienketten bis in den Nacken fortsetzen kann. Dass sich CMD auf Kopf- und Nackenbeschwerden auswirkt, ist gut dokumentiert; otologische Symptome wie Tinnitus oder Druck im Ohr werden zunehmend beschrieben.
In meiner Praxis sehe ich immer wieder ein Muster: nächtliches Pressen, morgendliche Nackenschmerzen, eine „schiefe“ Kopfhaltung, dazu unspezifischer Schwindel. Wenn dann unter einer gut angepassten Aufbissschiene, kombiniert mit manualtherapeutischer Behandlung von Kiefer und Halswirbelsäule, der Schwindel nachlässt, ist das zwar kein Evidenzbeweis, aber ein starker Hinweis.
Es wäre unseriös, zu behaupten, CMD sei die dominierende Ursache für Schwindel. Seriös ist, dass die Zusammenhänge zwischen Kiefer, Halswirbelsäule und vegetativem Nervensystem zunehmend diskutiert werden. Die Datenlage ist heterogen. Für manche Patienten ist der Kiefer ein fehlendes Puzzleteil – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wenn alle Bilder unauffällig sind – der homöopathische Blick
Bei einer anderen Gruppe von Patienten sind Innenohr, Gefäße, Halswirbelsäule und Kiefer unauffällig, und doch beschreiben sie ihr Erleben mit einer Präzision, die mich sofort an homöopathische Lehrbücher erinnert.
Da ist der Patient, der beim Drehen des Kopfes sofort das Gefühl hat, der ganze Raum beginne, zu kreisen – ein klassisches Conium-Bild. Oder der Patient, der vor allem beim Treppe-abwärts-Gehen (sonst nicht) das Gefühl hat, den Boden zu verlieren – Borax.
Schwindel bei jeder Bewegung, verbunden mit Übelkeit und Schwäche – Petroleum. Schwindel, der sich durch Geräusche verstärkt – für das homöopathische Mittel Theridion fast typisch. Anfallsartiger Schwindel mit Übelkeit, Kaltschweiß und dem Drang, nach draußen an die Luft zu kommen – Tabacum. Und nicht zuletzt der erschöpfte Mensch, dessen Schwindel mit Zittern, Nackendruck und Konzentrationsproblemen einhergeht – Gelsemium.
Viele Menschen schätzen die Homöopathie als alternatives Mittel für ihre Gesundheit.
Foto: filmfoto/iStock
Die klassische Homöopathie arbeitet hier phänomenologisch. Sie ordnet Empfindungen, Auslöser und Modalitäten Arzneibildern zu. Die Studienlage zu homöopathischen Einzelmitteln bei Schwindel ist sehr begrenzt, um nicht zu sagen nicht vorhanden. Meine Erfahrungen stammen überwiegend aus der Praxis, nicht aus großen randomisierten Studien.
Ein bekanntes homöopathisches Komplexmittel wurde in einer Studie immerhin mit einem gängigen schulmedizinischen Präparat als therapeutisch vergleichbar bewertet. Aber auch das ersetzt keine solide Gesamtforschung. Zudem halte ich von dem richtig gewählten Einzelmittel deutlich mehr. Für viele Leser mag die Homöopathie ein rotes Tuch sein. Das ist völlig in Ordnung. Für viele meiner Patienten ist sie ein Segen.
Gleichgewicht als Netzwerk – Körper, Nerven, Lebenslage
Heute ist unbestritten, dass Gleichgewicht im Zusammenspiel von Augen, Innenohr und Propriozeption entsteht. Hinzu kommen psychische und vegetative Faktoren, die das System fein regulieren. Bei PPPD etwa verstärken Stress, Angst und Vermeidungsverhalten den Schwindel, obwohl keine strukturellen Schäden vorliegen.
In anderen Zusammenhängen habe ich bereits beschrieben, wie eng Herz, Nervensystem und Emotionen miteinander verflochten sind. Ähnliches gilt für das Gleichgewicht. Dauerstress verspannt die Muskulatur, verändert die Atmung und verschiebt die Kopfhaltung und damit auch die Sensordaten, auf die unser Gehirn angewiesen ist.
Naturheilkundlich setzen wir hier durch sanfte Regulierung der Muskelspannung, bewusste Atmung, Entschleunigung, eine entzündungsarme Ernährung und gezielten Einsatz von Magnesium oder Omega-3-Fettsäuren an. Solche Maßnahmen sind keine „Schwindelmittel“, aber sie stabilisieren das System, in dem Schwindel entsteht – den ganzen Menschen, nicht nur sein Ohr.
Wann Schwindel ein Notfall ist
So wichtig es ist, die „übersehenen“ Ursachen zu betrachten, eines darf dabei nie untergehen: Es gibt Situationen, in denen Schwindel sofort in eine Klinik und/oder zu einem Arzt gehört.
Warnzeichen sind dabei etwa plötzlicher, heftigster Schwindel mit Doppelbildern, Sprachstörungen, Lähmungen, Taubheitsgefühlen, akuter Gehstörung oder einem „anderen“ Kopfschmerz.
Hier geht es nicht um Halswirbelsäule, Kiefer oder Homöopathie, sondern um Minuten und Stunden, in denen Gefäßverschlüsse oder Blutungen erkannt werden müssen. Wenn gefährliche Ursachen ausgeschlossen sind, beginnt der eigentliche Weg, und zwar herauszufinden, was den einzelnen Patienten aus der Balance gebracht hat.
Kommen zu Schwindel außerdem Sprachstörungen, Lähmungen, Taubheitsgefühl, akute Gehstörungen oder „andere“ Kopfschmerzen hinzu, sollte dringend ein Arzt aufgesucht werden.
Foto: EyeEm Mobile GmbH/iStock
Fazit
Schwindel ist selten „nur Schwindel“. Er ist ein Signal aus einem fein abgestimmten Netzwerk und manchmal auch ein Echo einer Lebensphase, in der zu vieles gleichzeitig ins Wanken geraten ist.
Die Kunst besteht darin, beides – die leitliniengerechte Abklärung von Innenohr, Gehirn und Gefäßen und die oft übersehenen Faktoren wie Halswirbelsäule, Kiefer, vegetatives Nervensystem und seelische Spannungen – ernst zu nehmen.
Wer naturheilkundliche Erfahrung und schulmedizinische Präzision verbindet, nimmt den Schwindel ernst, ohne ihn zu dramatisieren. Und genau dann geschieht das, was sich viele Patienten wünschen: Die Welt hört auf, sich zu drehen, zumindest im Kopf.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
René Gräber studierte Pädagogik und Sportwissenschaften. Aufgewachsen in einer Ärztefamilie, kam er früh mit der Medizin in Kontakt – vor, unter und hinter dem Arzttisch. Bereits in seinen Zwanzigern war seine Krankenakte „so dick wie die mancher 70-Jährigen“. Sein eigenes Leid führte ihn jenseits der klassischen Medizin schließlich zur Naturheilkunde. Die erfolgreiche Selbstbehandlung legte den Grundstein für seine seit 1998 bestehende Praxis mit den Schwerpunkten Naturheilkunde und Alternativmedizin.