Dialog zwischen Dichtern, Malern und Philosophen: Kunst, die Literatur atmet
Klassische Literatur und Poesie besitzen die Kraft, große Kunstwerke zu inspirieren – wir werfen einen Blick auf fünf Gemälde, die eng mit Legenden, Dramen und Mythen verbunden sind.
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„Miranda – Der Sturm“, 1916, von John William Waterhouse. Zahlreiche Gemälde entspringen literarischen Werken, so auch dieses, das eine Szene aus Shakespeares Schauspiel einfängt.
Die Schnittstelle zwischen bildender Kunst und Literatur bietet einen fruchtbaren Boden für kreative Entfaltung. Einer der großen Schätze der abendländischen Zivilisation ist der seit Jahrhunderten andauernde „Dialog“ zwischen Dichtern, Malern und Philosophen – ein wechselseitiges Reagieren auf Gedanken und künstlerische Ausdrucksformen.
Jedes literarisch inspirierte Kunstwerk ist ein Kommentar zu der Literatur, aus der es hervorgegangen ist. Es interpretiert die Vision des Autors, verleiht dem Geschriebenen eine neue Tiefe und wird zugleich selbst zu einer neuen Vision – zu einem eigenständigen Kunstwerk.
Diese künstlerische Wechselbeziehung zu erkunden, ist ein wahres Vergnügen, sowohl für Literaturkritiker als auch für Kunstwissenschaftler. In einer synergetischen, wechselseitigen Beziehung beleuchtet die Kunst die Dichtung, während die Dichtung der Kunst neue Perspektiven verleiht.
Hier sind fünf Beispiele für das Zusammenspiel der Künste in seiner schönsten Form.
„Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ von Pieter Bruegel (1560)
Wie der Stamm eines Baumes wächst dieses Gemälde des niederländischen Meisters Pieter Bruegel der Ältere aus einer literarischen Tradition heraus und bildet die Grundlage für spätere literarische Ableger. Darin stellte Bruegel eine Szene aus dem griechischen Mythos von Ikarus und Dädalus dar.
In diesem Mythos beauftragt König Minos von Kreta den Erfinder Dädalus, ein kompliziertes Labyrinth zu bauen, aus dem niemand entkommen kann, um das Ungeheuer Minotaurus darin einzusperren. Doch als Dädalus seine Aufgabe erfüllt hat, verbietet König Minos ihm und seinem Sohn Ikarus, in ihre Heimat zurückzukehren. Minos sperrt die beiden in einen Turm.
„Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“, 1560, von Pieter Bruegel dem Älteren. Öl auf Leinwand; 73,5 cm x 112 cm. Königliche Museen der Schönen Künste Belgiens, Brüssel.
Foto: gemeinfrei
Der erfinderische Dädalus fertigt aus Federn und Wachs zwei Paar Flügel, damit er und sein Sohn fliehen können. Doch Ikarus missachtet die Warnungen seines Vaters und fliegt zu nah an die Sonne – das Wachs schmilzt, die Federn lösen sich, Ikarus stürzt ins Meer und findet den Tod.
Bei der Darstellung des Augenblicks, in dem Ikarus fällt, trifft Bruegel eine interessante Entscheidung: Er platziert Ikarus und seinen Aufprall auf dem Wasser im Hintergrund so klein, dass ein Vorübergehender die beiden winzigen Beine, die in das tiefgrüne Meer ragen, kaum wahrnehmen würde. Stattdessen konzentriert sich das Bild auf ein großes, prächtiges Schiff, das in See sticht, und auf einen Bauern, der im Vordergrund ein Feld pflügt.
Das berühmte Gemälde inspirierte ein berühmtes Gedicht des modernistischen Dichters W.H. Auden. Darin reflektierte Auden darüber, dass die meisten Figuren in Bruegels Gemälde sich der Tragödie des Ikarus nicht bewusst sind:
„Was immer das Leiden angeht und seinen Rang – die Alten Meister, da sahn sie durch! Wie die verstanden, es einzuordnen ins Alltagsleben. Und wie so was abläuft, das Unerhörte, indessen irgendwower am Futtern ist Oder öffnet grad wo ein Fenster Oder schlendert gelangweilt wohin“ (von Wolf Biermann übersetzt)
So bringt große Kunst immer wieder neue große Kunst hervor – in einem unaufhörlichen Kreislauf.
„Andromache beweint Hektor“ von Jacques-Louis David (1783)
Wer die „Ilias“ gelesen hat, kennt eines ihrer großartigsten und bewegendsten Elemente: die Beziehung zwischen dem trojanischen Helden Hektor und seiner liebenden Frau Andromache. Hektor ist der Prinz von Troja, der die Verteidigung der Stadt gegen die belagernden Griechen zusammenhält. Seine Führungsqualitäten, sein Mut und seine Kampfkunst machen ihn zum Eckpfeiler der Sicherheit der Stadt. Außerdem ist er ein fürsorglicher Vater und Ehemann.
Eine der berührendsten Szenen des Epos spielt sich ab, als Hektor nach der Schlacht in die Stadt zurückkehrt, um seine Frau Andromache und ihren Sohn Astyanax zu besuchen. Er spielt mit dem Kind und tröstet seine Frau, die ihn flehentlich bittet, nicht mehr in den Krieg zu ziehen. Doch trotz ihrer Bitten kehrt Hektor in die Schlacht zurück – vor allem, um sie zu schützen.
Am Ende scheitert er jedoch: Durch die gewaltige Hand Achills wird er zu Boden gestreckt.
„Andromache beweint Hektor“, 1783, von Jacques-Louis David. Öl auf Leinwand, 275 cm x 203 cm. Louvre Museum.
Foto: gemeinfrei
Jacques-Louis Davids Gemälde zeigt Andromache und Astyanax, wie sie trauernd über Hektors Leichnam gebeugt sind.
David stellte die Szene mit solcher technischen Meisterschaft und emotionaler Wucht dar, dass ihm das Werk 1784 die Aufnahme in die Académie Royale einbrachte.
In Davids Darstellung fällt das Licht am stärksten auf die verzweifelte Andromache. Sie wendet ihren Blick nach oben und weg von Hektors Leichnam, der vor ihr liegt. Der Leichnam liegt halb im Schatten. Die Dunkelheit scheint vom linken Bildrand her einzudringen wie der Schatten des Todes selbst.
„Die Bankettszene in Shakespeares ‚Macbeth‘“ von Daniel Maclise (1840)
Dieses eindrucksvolle Gemälde von Daniel Maclise raubt dem Betrachter den Atem durch sein lebensechtes Spiel von Licht und Schatten, die gespenstische Atmosphäre und die dramatischen Gesten der Figuren.
„Die Bankettszene in Shakespeares ‚Macbeth‘“, 1840, von Daniel Maclise. Öl auf Leinwand; 183 cm x 305 cm. Guildhall Art Gallery, London.
Foto: gemeinfrei
Das Gemälde zeigt den Moment in Shakespeares „Macbeth“, in dem der Titelheld den Geist seines ermordeten Freundes Banquo erblickt. Der Tote sitzt ausgerechnet auf Macbeths eigenem Thron während eines Festmahls, das der König zu Ehren seiner Thane ausrichtet. Banquo wurde zum Opfer in Macbeths albtraumhaftem Abstieg in Eifersucht, Paranoia und Grausamkeit. Macbeth reagiert mit Entsetzen und Schock auf die geisterhafte Erscheinung. Seine Frau, Lady Macbeth, versucht sogleich, sein merkwürdiges Verhalten vor den verwirrten Gästen zu entschuldigen – denn für sie ist der Geist unsichtbar.
Von den wild flackernden Flammen des Kronleuchters über die ausladende Geste der Lady Macbeth bis hin zu Macbeths zurückweichender Haltung – im Kontrast zur ruhigen Silhouette des Geisterrückens – entfaltet das Gemälde eine kraftvolle, fast entfesselte Energie. Es spiegelt Macbeths Abgleiten in den Wahnsinn wider, während ihm die Kontrolle über seine Situation immer mehr entgleitet.
Die finsteren Schatten an den Rändern der Komposition spiegeln die Dunkelheit, die Magie und das Böse wider, die Macbeth in Shakespeares düsterster Tragödie umgeben. Lady Macbeth ist die dominierende und am stärksten beleuchtete Figur des Gemäldes – eine künstlerische Entscheidung, die zweifellos ihren großen Einfluss auf ihren Mann und die makabren Ereignisse des Dramas widerspiegelt.
„Ophelia“ von Sir John Everett Millais (1851)
Shakespeares Werke faszinieren Künstler seit jeher, und hier präsentiert sich eine weitere Szene aus einer seiner Tragödien, meisterhaft dargestellt von Sir John Everett Millais. Mit feiner Sensibilität fängt Millais Ophelias letzte Augenblicke aus „Hamlet“ ein.
Ophelia ist Hamlets Geliebte. Sie verfällt in Wahnsinn, als Hamlet, der den Tod seines Vaters, des Königs von Dänemark, betrauert, sich zunehmend irrational verhält und versehentlich ihren Vater, Polonius, tötet. Nach diesem Unglück wandert das Mädchen hilflos durch die Wildnis, singt seltsame Lieder und ertrinkt schließlich in einem Bach.
„Ophelia“, 1851, von John Everett Millais. Öl auf Leinwand; 76 cm x 112 cm. Tate Britain, London.
Foto: gemeinfrei
Millais malt Ophelia in dem Moment, bevor sie unter die Wasseroberfläche sinkt, ihre Lippen noch immer geöffnet in einem Lied, ihre Kleider und Haare um sie herum im Wasser weit ausgebreitet, während einige Blumen schlaff in ihrer Hand hängen. Die reichen Farben und die ungewöhnliche, statuenhafte Pose der halb untergetauchten Frau fesseln den Blick des Betrachters.
Wie Janie Slabbert für „The Collector“ schrieb: „Selbst im Tod strahlt sie Anmut und Gelassenheit aus, ihre Hände sind sanft nach oben gedreht, als hätte sie ihr Schicksal akzeptiert.“ Tatsächlich deuten Ophelias offene Arme darauf hin, dass sie bereit ist, das Kommende anzunehmen: ihren bevorstehenden Tod.
„Die Dame von Shalott“ von John William Waterhouse (1888)
In diesem Gemälde illustrierte John William Waterhouse eine Szene aus dem Werk seines Zeitgenossen, des großen Dichters Alfred, Lord Tennyson. Tennyson ließ sich stark von den Artus-Legenden inspirieren, ein weiteres Beispiel dafür, wie Kunst neue Kunst hervorbringt. Er schrieb zahlreiche Nacherzählungen dieser Legenden in Versform, darunter die umfangreiche Sammlung „Idyllen des Königs“.
Das separate Gedicht „Die Dame von Shalott“ erzählt die Geschichte einer Dame, die in einem Turm an einem Fluss lebt, der nach Camelot fließt. Sie ist Opfer eines Fluchs, der ihr verbietet, direkt in die Welt zu schauen. Wenn sie es tut, wird sie sterben. Sie kann nur durch einen Spiegel nach draußen sehen. Was sie sieht, webt sie in Wandteppiche. Letztlich beschließt die Dame von Shalott jedoch, die Regel zu brechen. Mit dem Blick direkt nach Camelot besiegelt die Dame von Shalott ihren Tod. Ihren Turm verlassend, findet sie ein Boot und treibt den Fluss nach Camelot hinunter. Noch bevor sie ankommt, stirbt sie.
„Die Dame von Shalott“, 1888, von John William Waterhouse. Öl auf Leinwand, 153 cm x 200 cm. Tate Britain, London.
Foto: gemeinfrei
Eines von Waterhouses berühmtesten Gemälden, „Die Dame von Shalott“, zeigt die Heldin, wie sie in ihrem Boot den Fluss hinunterfährt und in den Tod geht. Es besticht durch seine Kombination aus fotorealistischem Realismus und einer mystisch-fantastischen Atmosphäre. Mit dichten, satten Details und Farben hat Waterhouse diesen Moment lebendig werden lassen – genau in dem Augenblick, bevor der Tod eintritt.
Der Betrachter kann das Wissen um den nahen Tod der Dame in ihrem Gesicht ablesen, das tieftraurig, erschöpft, zerbrechlich, aber dennoch friedvoll ist. Sie sitzt aufrecht, einen Arm leicht ausgestreckt, den Blick nach vorn gerichtet, als wolle sie noch so viel wie möglich von der Welt aufnehmen, bevor sie ihr entgleitet.
So wie die Dame von Shalott die Welt nur im Spiegel betrachten kann, sahen auch die großen Künstler dieser Auswahl die Welt durch das Prisma der Mythen, Gedichte und Erzählungen, die sie bildlich zum Leben erweckten. Ihre Werke sind Spiegelbilder von Spiegelbildern – doppelte Reflexionen einer Wirklichkeit, in der sich Literatur und Kunst durchdringen, um Wahrheit und Schönheit in noch größerer Klarheit sichtbar zu machen – wie übereinander gestapelte Linsen, die sich in einem Teleskop zu einem schärferen Blick bündeln.
Prior to becoming a freelance journalist and culture writer, Walker Larson taught literature and history at a private academy in Wisconsin, where he resides with his wife and daughter. He holds a master‘s in English literature and language, and his writing has appeared in „The Hemingway Review“, „Intellectual Takeout“, and his substack, „The Hazelnut“. He is also the author of two novels, „Hologram“ and „Song of Spheres“.