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Meinung

Maya Mizrachi

Menschliche Kreativität oder göttliche Eingebung?

In den letzten Jahrzehnten avancierte „Kreativität“ zum Zauberwort des Erfolgs. Im Jahr 2020 wurde sie gar als „die einzige Fähigkeit, die uns eine Zukunft sichern wird“, gepriesen. Doch könnte sich dieses Ideal in der Wirtschaft als trügerische Illusion entpuppen? Welcher entscheidenden Komponente mangelt es?

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Kalliope, Muse der epischen Poesie, 1798.

Foto: gemeinfrei

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Lesedauer: 15 Min.

In den vergangenen Jahrzehnten ist „Kreativität“ zum Synonym für Erfolg geworden. 2020 bezeichnete das Weltwirtschaftsforum sie als „die einzige Fähigkeit, die dir eine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt sichert“. Sie wird von Wirtschaftsministerien zunehmend als wichtige Fähigkeit erkannt, da sie Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliches Wachstum fördert, und in Umfragen unter Führungskräften als „maßgeblichste Eigenschaft“ für das Management in komplexen Umgebungen gewählt.

Workshops und Kurse bieten heute Werkzeuge zur Entwicklung und sogar zur „Befreiung“ unserer Kreativität. In Business Schools gibt es ganze Kurse dazu, und Bestseller laden uns ein, die „Geheimnisse des kreativen Geistes“ durch Lektionen von Leonardo da Vinci, Steve Jobs, Pablo Picasso oder Martin Luther King zu entdecken.

Kreativität – eine uralte Idee?

Daher erscheint es uns natürlich, dass „Kreativität“ eine Eigenschaft ist, über die schon immer gesprochen wurde. Sie sei seit Anbeginn der Geschichte da, charakterisiere die „Besten der Besten“ oder jene Auserwählten, die sie zu meistern verstanden. Es ist nur logisch, dass auch wir Zeit in das Erlernen von „Denkmethoden“ investieren, um diesen Funken in uns zu entfachen.

Doch der amerikanische Historiker Samuel W. Franklin erklärt in seinem 2023 erschienenen Buch „The Cult of Creativity“ (auf Deutsch etwa: Der Kult der Kreativität), dass diese Vorstellung nach seiner historischen Forschung falsch ist. Kreativität ist ein relativ neuer Begriff, der erst ab den 1950er-Jahren massiv genutzt wurde, vor allem als Mittel gegen sinkende Verkaufszahlen oder zur Förderung industrieller Forschung und Entwicklung.

Zuvor kamen die Begriffe „Schaffenskraft“ oder „Kreativität“ nur selten vor. „Vor den 1950er-Jahren gab es so gut wie keine Artikel, Bücher, Abhandlungen, Kurse oder Enzyklopädieeinträge zum Thema Kreativität“, schreibt Franklin. „Man findet es weder bei Platon noch bei Aristoteles oder Kant.“

Tatsächlich dachten Philosophen und Künstler von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nie an „Kreativität“ als eine Eigenschaft, die Menschen auszeichne oder ihnen Vorteile verschaffe.

Sprachen sie von jenem „Funken“ oder der „Inspiration“, die es einem Menschen ermöglichten, etwas Neues oder Einzigartiges zu schaffen, so kam dies nicht von den Methoden für „kreatives Denken“, sondern aus einer völlig anderen, unkontrollierbaren Quelle – dem Göttlichen. Philosophen und Künstler sahen diesen Funken als Gabe „von oben“.

Julian Jaynes, Professor für Psychologie und Historiker an den Universitäten Yale und Princeton, argumentiert in seinem Buch „The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind“ (auf Deutsch etwa: Der Ursprung des Bewusstseins beim Zerfall des zweikammerigen Verstandes) von 1976, dass früher die weitverbreitete Überzeugung bestand, die Götter kontrollierten einen „Raum“ in unserem Gehirn, in dem neue Gedanken entstehen. Ein weiterer Raum im Gehirn war dazu bestimmt, diese Inspiration durch einfache Mechanismen wie Sprechen und Schreiben auszudrücken.

Inspiration als göttlicher Odem

In der griechischen Mythologie gibt es ein Motiv, das besagt: Kreative Ideen sind nicht das Ergebnis menschlicher Anstrengung, sondern werden durch Musen vermittelt, die Botschaften der Götter überbringen.

Kalliope ist die Muse der epischen Dichtung, Klio die der Geschichtsschreibung, Erato die der Liebeslyrik und so weiter. Die Götter geben ihre Ideen durch „Inspiration“ in die Menschen – ein Wort, das im Griechischen wörtlich „hineinatmen“ bedeutet.

Kalliope, Muse der epischen Poesie, 1798.

Der Dichter Hesiod aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. verdeutlichte dies in seinem Werk „Theogonie“. Hesiod schrieb, dass die „olympischen Musen“ ihn ein schönes Lied lehrten, während er seine Herde hütete:

„[…] Und sie verliehn mir den Stab, ein Gesproß frischgrünendes Lorbers
Brechend, bewunderungswerth; und hauchten mir süßen, Gesang ein,
Göttlichen, daß ich priese, was sein wird, oder zuvor war […]“

Dieser Schöpfungsprozess zeigt sich auch in Homers Epen. Seine Helden trafen die besten Entscheidungen, nachdem die Götter ihnen „zugeflüstert“ oder Inspiration in ihren Geist „eingehaucht“ hatten.

Es war kein passiver Akt. Sie konnten sich entscheiden, der Inspiration nicht zu folgen, was einige durchaus taten. Wenn ihre Handlungen erfolgreich waren, lag der Erfolg nicht an ihren eigenen guten Ideen, sondern vielmehr daran, dass die Götter ihnen zur Seite standen und sie inspirierten.

Mehrere von Platons Dialogen behandeln ein ähnliches Konzept.

Wenn Sokrates beispielsweise mit Ion spricht, einem Experten für die Werke Homers, der als Rhapsode heroische Gedichte vorträgt, diskutieren sie die Frage, ob der Rezitator seine Arbeit aus Geschick und Wissen oder durch göttliche Inspiration verrichtet. Sokrates sagt zu Ion: „Die Gabe, die du besitzt, auf bemerkenswerte Weise über Homer zu sprechen, ist keine Kunst, sondern, wie ich gerade sagte, eine Inspiration – es ist eine göttliche Kraft, die dich bewegt.“

Sokrates erklärt ihm später, dass es eine Muse gibt, die ihn inspiriert. „Denn alle guten Dichter, ob episch oder lyrisch, singen ihre schönen Gedichte nicht aus künstlerischer Kraft, sondern als Begeisterte und Verzückte […] und gerade wie die Bakchantinnen nur im Zustande der Verzückung aus den Strömen Milch und Honig schöpfen, nicht aber wenn sie ihres Bewußtseins mächtig sind, so vermag auch der Liederdichter Seele nur in Begeisterung und Verzückung ein Ähnliches zu tun. Hat er diesen Zustand nicht erreicht, ist er hilflos und unfähig, die Worte Gottes auszusprechen.“

Der Künstler als Gefäß göttlicher Eingebung

Die Vorstellung des Künstlers oder Schöpfers als Werkzeug, das göttliche Ideen aufnimmt und sie in der menschlichen Welt umsetzt, war auch in anderen Kulturen stark präsent.

Im Tanach, der Hebräischen Bibel, erscheint dieses Konzept, etwa wenn Gott zu Mose über die Wahl von Bezalel, Sohn von Uri, für den Bau der Stiftshütte spricht: „Und der HERR redete mit Mose und sprach:Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezalel, den Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamm Juda, und habe ihn erfüllt mit dem Geist Gottes, mit Weisheit und Verstand und Erkenntnis und mit allerlei Fertigkeiten,kunstreich zu arbeiten in Gold, Silber, Bronze, kunstreich Steine zu schneiden und einzusetzen und kunstreich zu schnitzen in Holz, um jede Arbeit zu vollbringen.“ (2. Mose 2)

Leicht ist der Leser geneigt zu glauben, dass diese Denkweise nur verstaubten Zeiten angehört, Zeiten, die wir längst vergessen haben. Doch sehen Sie, was einer der größten Komponisten aller Zeiten, Ludwig van Beethoven, 1824 in einem Brief an George Nigeli schrieb: „Ich bin frei von allen kleinen Eitelkeiten. Nur in der göttlichen Kunst liegt der Hebel, der mir die Kraft gibt, den besten Teil meines Lebens den himmlischen Musen zu opfern.“

Im selben Jahr schrieb er in einem weiteren Brief an den Musikverlag Schott in Mainz: „Apollo und die Venus werden es noch nicht zulassen, dass ich dem düsteren Skelett ausgeliefert werde, denn ich schulde ihnen so viel, und ich muss, wenn ich zu den elysischen Feldern aufbreche, alles zurücklassen, was der Geist inspiriert und befohlen hat, zu vollenden.“ 1825 sagte er zu seinem Neffen Karl: „Ich verbringe alle meine Vormittage mit den Musen; und sie segnen mich auch bei meinen Spaziergängen.“

Beethoven beschrieb in seinen Worten einen Künstler, der versucht, seine Eitelkeit oder seinen Stolz auf seine Errungenschaften zu dämpfen, da er erkennt, dass er nur ein Diener der himmlischen Musen ist. Diese Sichtweise unterscheidet sich stark von der Art von Künstlern, die in den letzten 200 Jahren aufkamen und die Quelle und das Genie ihrer Schöpfungen sich selbst zuschrieben.

Einige sahen sich als „Avantgarde“-Künstler, die Inspiration aus sozialen und politischen Themen schöpften. Ihre Werke entsprangen nicht einer himmlischen Quelle, sondern der Beschäftigung mit ihren eigenen Gefühlen und Gedanken.

Der „kreative Mensch“ – ein Produzent inmitten von Konsumenten

Ein Künstler wie Vincent van Gogh malte etwa einfache Szenen des Alltags – Schuhe, Blumen in einer Vase oder arme Menschen, die Kartoffeln essen – und übertrug mit übertriebenen Pinselstrichen und kräftigen Farben, was in seiner Seele vorging. „Ob in Figuren oder in Landschaften, ich möchte nicht etwas Sentimentales, Melancholisches ausdrücken, sondern tiefe Trauer“, schrieb van Gogh 1882 an seinen Bruder Theo. In demselben Brief beschrieb er, dass „die schmutzigste Ecke im ärmsten Haus“ ihm als Inspiration für seine Gemälde diente.

Prof. Dominique Berthet von der Sorbonne argumentierte in seinem Buch „Le P.C.F., La culture et L’art“ (auf Deutsch etwa: Die Kommunistische Partei Frankreichs, die Kultur und die Kunst), dass Picasso etwa in seinen Werken seine persönlichen Einsichten über die „Probleme der Welt“ ausdrücken wollte. Nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei 1944 erklärte Picasso: „Was ist in deinen Augen ein Künstler? Ein Narr, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, oder nur Ohren, wenn er Musiker ist? Im Gegenteil, er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, stets aufnahmebereit für bewegende, brennende oder glückliche Ereignisse, die er in jeder Weise erwidert. […] Nein, Malerei ist nicht dazu da, Appartements zu schmücken. Sie ist eine Waffe zu Angriff und Verteidigung gegen den Feind.“

Moderne Künstler brachten eine neue Herangehensweise an die Schöpfung: Kunst sollte in erster Linie nach der Qualität und Originalität der Visionen und Ideen des Künstlers beurteilt werden. Diese Haltung führte im 20. Jahrhundert zu „origineller“ und „kreativer“ Kunst wie den Dosen mit Fäkalien von Piero Manzoni, dem ordentlichen Ziegelstapel von Carl Andre, den sexuellen Werken von Sarah Lucas, dem unordentlichen Bett von Tracey Emin und vielen weiteren.

Unsichtbare Skulptur für 15.000 Euro versteigert

Der Höhepunkt dieser Haltung kam mit konzeptuellen Strömungen, die „Kreativität“ so sehr erhoben, dass allein die originelle Idee eines Werks ausreichte. Ohne zwangsläufig eine physische Form zu haben, galt es bereits als Kunst.

So wurde etwa die unsichtbare Skulptur „Io sono“ (auf Deutsch etwa: Ich bin) des italienischen Künstlers Salvatore Garau 2021 für 15.000 Euro versteigert. Der glückliche Käufer durfte Garaus „originelle Idee“ mit nach Hause nehmen.

Nachdem „Kreativität“ mit „Originalität“ verknüpft wurde, drang sie auch in andere Bereiche wie Musik und Tanz und letztlich in die gesamte westliche Kultur, einschließlich der Geschäftswelt, vor. „Für Ingenieure oder Werbefachleute bedeutete Kreativität nicht nur Produktivität, sondern erlaubte ihnen auch, sich als eine Art Künstler oder Dichter zu sehen statt als Maschinen“, schreibt der Historiker Samuel W. Franklin in seinem Buch über Kreativität.

„Dies verlieh ihrer Arbeit implizit eine moralische Aura. Der Fokus verlagerte sich vom Produkt auf den kreativen Prozess, der zu seiner Entwicklung führte. Die Entwicklung des Kreativitätskonzepts ermöglichte das Auftreten einer neuen Form von Subjektivität – der des kreativen Menschen. Der kreative Mensch war ein Produzent in einer Welt von Konsumenten.“

„Ihr könnt keine großen Dichter werden, egal was ihr tut“

Der Unterschied zwischen der alten Denkweise, nach der der Mensch nur ein Werkzeug oder Bote ist, der höhere Ideen ausführt, die den Menschen nützen und die Gesellschaft voranbringen, und einem Menschen, der selbst Ideen erfindet, um sich auszudrücken, Konventionen zu brechen und Neuerungen einzuführen, zeugt von tiefgreifenden Veränderungen, die die moderne Gesellschaft durchlaufen hat.

Der britische Staatsmann Lord Chesterfield sagte einst: „Ich bin sehr sicher, dass sich jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand durch Kultur, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Arbeit zu allem machen kann, was er will, außer zu einem großen Dichter.“ Chesterfield, ein Aristokrat und Geist des 18. Jahrhunderts, setzte den Menschen eine strenge Grenze: „Ihr könnt keine großen Dichter werden, egal was ihr tut.“

Im Gegensatz zu der in den letzten Jahrzehnten in den Medien, Schulen und Universitäten verbreiteten These, dass jeder ein Dichter sein könne, wenn er sich nur ausdrücke, glaubte Chesterfield, dass die Ideen, die für Poesie nötig sind – einschließlich Schönheit, Ordnung und Harmonie –, nicht durch den menschlichen Willen heraufbeschworen werden können.

Wie die Alten zu sagen wussten, ist Poesie kein rationaler Akt des Willens oder bloß eine Ansammlung von Fähigkeiten. Sokrates formulierte es so: „Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses, dass sie nicht durch Weisheit dichteten, sondern aufgrund angeborener Begabung und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger.“

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.

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