Kulturwissenschaftler: Wie ist unsere Gesellschaft so ängstlich geworden?

Die Menschen scheinen die Welt theoretisch anzugehen. Das ermögliche es, dass unser Angstgefühl aufgepeitscht werden kann – besonders im Hinblick auf COVID-19. Das spiele vor allem der Macht in die Hände, meint der Kulturwissenschaftler Thomas Harrington in einem Interview.
Von 25. Februar 2022

Die Wahrscheinlichkeit an Corona zu sterben, ist für Personen unter 50-Jahren sehr gering. Das zeigen die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Gleichzeitig scheint sich jedoch die gesamte Gesellschaft übermäßig vor dem Coronavirus zu fürchten.

Wie erklärt sich diese unverhältnismäßige Reaktion?

Einer, der sich in den letzten Monaten mit dieser Frage beschäftigte, ist Thomas Harrington, Professor für Sprach- und Kulturstudien am Trinity College und Autor für das Brownstone Institute.

In einem Interview mit der Epoch Times in der Sendung „American Thought Leaders“ sprach er über die kulturellen Missstände in unserer Gesellschaft. Diese könnten ihm zufolge einige der unlogischen Reaktionen auf die Pandemie erklären. Außerdem hätten sie das hervorgebracht, was er als „verängstigte Klasse“ bezeichnet.

Das Interview im englischen Original:

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„Die verängstigte Klasse“ und das Spektakel

In einem Ihrer Artikel für das Brownstone Institute prägten Sie den Begriff „die verängstigte Klasse“. Können Sie uns sagen, was Sie damit meinen?

Die verängstigte Klasse, damit wollte ich der Tatsache Sinn verleihen, dass es so viel Angst zu geben scheint, so viele Menschen, die Angst haben. Das schien in keiner Weise dem Ausmaß der Bedrohung zu entsprechen, mit der wir konfrontiert waren. 

Natürlich gibt es eine Menge Input durch die Panikmache. Aber auch der Empfänger ist ein Schlüsselelement im Dialog zwischen der Angstmacherei und der Person. Was macht uns empfänglich dafür, dass unser Angstgefühl aufgepeitscht werden kann?

Eine Sache, die mir in den Sinn kam, war die Körperlichkeit. Haben wir uns von bestimmten Elementen der Körperlichkeit getrennt, die verhindern, dass wir durchdrehen, und die uns erlauben zu erkennen, ob unsere Ängste der greifbaren Wirklichkeit entsprechen?

Warum sind wir in unserer Herangehensweise an die Welt theoretisch geworden, wo es doch eigentlich greifbare Dinge gibt, die uns beruhigen könnten? Wie kommt es, dass wir in dem leben, was der französische Gelehrte Guy Debord als ein Spektakel bezeichnete?

Wie können wir also wieder Beschäftigungen entdecken, die es uns zumindest ermöglichen, aus diesem Spektakel, in dem wir ständig leben, herauszukommen?

Eine wichtige Fähigkeit ist meiner Meinung nach die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, über das eigene Leben zu erzählen oder zumindest eine Version davon. Daran mangelt es zum Teil, vor allem in einer visuellen Kultur. Die visuelle Kultur ist etwas ganz anderes als einem Menschen aktiv zuzuhören, der vor einem steht.

Die visuelle Kultur spült über einen hinweg. Man kann passiv sein. Aber Zuhören und Lesen erfordert ein aktives Engagement. Es erfordert einen Sinn für Vorstellungskraft. Man muss es sich selbst zusammenreimen. Und genau das wird immer weniger. Ich denke, das könnte eines der Gegenmittel gegen dieses Dilemma sein, im Spektakel gefangen zu sein.

Wie wirkt sich dieses Konzept des Spektakels auf die Schaffung oder die Existenz dieser verängstigten Klasse aus?

Es schafft eine Realität außerhalb unserer eigenen empirischen Erfahrung. Schließlich befinden wir uns immer in einem Dialog oder wir haben zumindest viele Jahre lang angenommen, dass wir uns in einem Dialog zwischen unserem Innenleben und der Welt außerhalb von uns befinden. Das Spektakel vermittelt, es schafft eine Linse zwischen dem Selbst und der Welt.

Wir hatten schon immer Linsen zwischen dem Selbst und der Welt. Aber diese besondere Linse der Furcht scheint eine lähmende Wirkung auf uns zu haben. Sie führt dazu, dass wir unserer eigenen Fähigkeit misstrauen, schwierige Probleme zu überwinden. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor Krankheit – es stellt sie so dar, als seien sie etwas Anormales oder etwas, mit dem wir uns nicht befassen sollten. Nur wenn wir richtig handeln, könnten wir uns von ihnen befreien.

In Wirklichkeit können wir diese Dinge nicht loswerden. Was ist mit den Diskursen oder den Gedankengängen, die dazu führen, dass wir lernen, mit diesen Dingen zu leben, wie der Angst vor dem Tod oder der Angst vor Verlust? Es scheint, dass die Konsumkultur, unterstützt durch die Angstkultur, eine seltsame Situation schafft, in der die Menschen von der Tatsache überrascht werden, dass dies in ihrem Leben möglich ist.

Welche Mittel stehen uns also zur Verfügung, um diese Dynamik zu überwinden? Dabei verwende ich das Wort Transzendenz, im Sinne von darüber hinausgehen. Auf welche Werte kann ich mich berufen, die mich außerhalb des Spektakels verankern, die meine Integrität und Würde vor dem Spektakel verteidigen und mir erlauben, mit einer gewissen kritischen Distanz darauf zurückzublicken?

Ich habe für mich viele Formen der Transzendenz gefunden. Eine davon ist, dass ich eine Sprache lerne und anfange, mit jemandem in seiner eigenen Sprache zu sprechen. Man könnte noch viele andere Beispiele anführen. Wichtig dabei ist, dass man einer Idee folgen kann. 

Manchmal frage ich mich, ob wir unsere jungen Menschen dabei unterstützen, das Modell zu entwickeln, dass es möglich ist, transzendent zu sein. Joseph Campbell, der große Gelehrte für vergleichende Religionen und Mythologie, spricht viel darüber. Er fragt, ob wir unseren Kindern eine ausreichende mythische Erziehung zukommen lassen.

Ich bin ein großer Verfechter von Geschichten und Geschichtenerzählen. Wir nehmen das Wissen, über das wir gelesen haben, und fügen es zu einer Geschichte zusammen. Diese Erzählungen geben unserem Leben und den Möglichkeiten, die wir in unserem Leben sehen, eine Form. Wenn sie fehlen, führt das dazu, dass wir keine Möglichkeiten in unserem Leben sehen.

Es gibt verschiedene Vokabeln, mit denen man Schwierigkeiten im Leben begegnen kann. Aber wenn wir sie nicht kennen, wenn wir nicht die Geschichte der Person kennen, die vor so vielen Jahren große Schwierigkeiten erlitten hatte, werden wir denken, dass wir die Einzigen sind, die jemals eine solche Schwierigkeit durchgemacht haben. Aber wenn wir Geschichten haben, die uns von diesen Dingen erzählen, die uns erzählen, wie andere Menschen damit fertig geworden sind, dann gibt uns das einen anderen Blickwinkel.

„Sozio-semiotische Unternehmer“ bestimmen unsere Wahrnehmung der Realität

Apropos Geschichten: Es ist faszinierend, wie unsere Gedanken unhinterfragt fast nur um diese Geschichte von COVID kreisen. Wie kam es dazu?

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen zuerst erklären, warum wir auf eine bestimmte Weise über bestimmte kollektive Identitäten nachdenken. Wenn man sich mit Nationen und Nationalismus beschäftigt, stößt man als erstes auf die Vorstellung, dass Nationen spontan entstehen, dass sie sich einfach aus dem Land heraus entwickeln und dass ein Gefühl des Nationalismus aufsteigt.

So ist es jedoch nicht. Als ich mir ansah, wie sich aufständische Nationen bildeten, stellte ich fest, dass es oft eine sehr kleine Gruppe von Menschen gab, die die Idee einer imaginären Gemeinschaft hatte, ähnlich wie eine Gruppe von Geistlichen in der Kirche. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das Zeitalter des Nationalstaates fast genau zu der Zeit aufkommt, in der die Gesellschaften säkularisiert werden.

Ich würde also vermuten, dass es ein starkes Bedürfnis nach Transzendenz gibt, das zuvor von der religiösen Tradition befriedigt wurde. Wenn eine Gesellschaft säkularisiert wird, springt die Nation in die Lücke und liefert eine neue Geschichte der Transzendenz, des Über-sich-Hinausgehens. 

Aber zurück zu der Frage, wie sie gebildet werden. Oft ist es eine sehr kleine Gruppe von Intellektuellen, die die Idee der Nation entwickelt und ein Narrativ schafft. Das sieht man sehr oft in den mitteleuropäischen Nationalbewegungen. Danach stellt sich die Frage, ob das Narrativ von der Macht aufgegriffen wird oder nicht.

Es gibt also eine Symbiose zwischen finanzieller und politischer Macht und der Schaffung von Symbolik. Mein Mentor in diesem Bereich ist der israelische Wissenschaftler Itamar Even-Zohar. Er bezeichnet diese Personen als sozio-semiotische Unternehmer; Semiotik, die Lehre von Zeichen und Symbolen.

Dies ist die Klasse, die die Zeichen oder laut Even-Zohar die Repertoires der Kultur hervorbringt, die uns umgeben und die unseren Blick auf bestimmte Vorstellungen der Realität lenken. Er betont, dass die politischen Eliten schon immer über sozio-semiotische Unternehmer verfügten. Diese schufen Repertoires, die die Menschen mit Zeichen und Symbolen umgeben – die ihr Bewusstsein auf bestimmte Ziele richten und von bestimmten anderen Zielen ablenken.

Das verändert die ganze Vorstellung von Kultur und führt zu dieser Idee einer konstruierten Kultur, dass Nationen und Nationalismus oder viele andere soziale Phänomene nicht einfach so auftauchen. Es gibt immer jemanden, der zumindest die Weichen für die Zeichen und Symbole stellt. 

Man muss sich Fragen stellen, vor allem, wenn man sich ansieht, wie zeitgleich einige Geschichten aufkommen. Bedeutet das, dass ich einen Schlüssel habe, um zu wissen, wer sie wann und wo einsetzte? Nein. Es bedeutet jedoch, dass es sich lohnen könnte, die Kanäle zu untersuchen, über die diese Zeichen und Symbole zu mir gelangten.

Als konkretes Beispiel möchte ich COVID aufführen. Dabei fiel mir folgendes auf: Im März 2020 las ich eine italienische Zeitung. Dort wurden Statistiken des italienischen Gesundheitsministeriums aufgeführt, die ein deutliches Altersgefälle zeigten. Die Rolle der Begleiterkrankungen bei allen Todesfällen war eindeutig. In der gleichen Zeitung gab es jedoch Fallberichte über 38- oder 42-Jährige, die wegen dieses schrecklichen Virus einfach tot umgefallen seien.

In US-Zeitungen gab es ähnliche Fallberichte über junge Menschen, die tot umfielen. Doch gleichzeitig wurden dort ebenfalls Statistiken aufgeführt, die uns zeigten, dass dies Anomalien waren.

Doch warum wurden diese Anomalien in allen journalistischen Traditionen, mit denen ich mich üblicherweise beschäftige, mit so viel Nachdruck hervorgehoben? Zufall? Vielleicht. Vielleicht bin ich verrückt und habe eine blühende Fantasie. Aber Sie müssen wissen, dass wir in einer Gesellschaft des Branding leben, in der die ganze Idee der Markenbildung darin besteht, etwas aus dem Kontext zu reißen. 

Wenn man das Bild eines 38-Jährigen, der tot umfällt, in die Köpfe vieler Menschen einbrennen kann, kann das die Fähigkeit auslöschen, die Statistiken zu betrachten. Diese zeigen eindeutig, dass die meisten Menschen, die unter 70 Jahre alt sind und sich nicht in einem schlechten Gesundheitszustand befinden, [nicht tot umfallen werden]. Ich stelle Fragen und rufe dazu auf, Diskussionen zu eröffnen, die scheinbar beendet worden sind.

Keiner in einer Gesellschaft ist ein freier Akteur

Sie erwähnten die Eliten, die die Geschichten konstruieren und so weiter. Können Sie mir sagen, wer diese Eliten sind, die hier ihre eigene Agenda haben?

Ich gehöre zu den Eliten, Sie ebenfalls. Wenn ich die Kulturtheorie der Kulturplanung lehre, wie sie von Even-Zohar und anderen verstanden wird, sage ich meinen Studenten oft, dass sie im Vergleich zum Rest der Bevölkerung sozio-semiotische Unternehmer seien. Denn sie hatten Zeit, vier Jahre an einem schicken College zu verbringen und zu lernen, wie man Texte, Sprache und andere Dinge manipuliert.

Dann stellt sich aber die Frage, wann verbündet sich diese sozio-semiotische Elite mit der Macht und wie tut sie das? Und genau da wird es interessant. Der verstorbene französische  Soziologe Pierre Bourdieu sprach zum Beispiel davon, dass Akademiker eine Mittelschicht seien. Sie hätten viel kulturelles Kapital, aber wenig tatsächliches Geldkapital.

In gewissem Sinne existieren wir zum Wohlgefallen der Geldeliten. Sie erlauben uns, unser Ding zu machen, und bedienen sich dann einiger unserer Fähigkeiten, um die Pädagogik der kollektiven Identität zu schaffen, die für ihre Ziele sehr hilfreich sein kann.

Ich denke, das ist eines der Dinge, die es sehr interessant machen, ein Akademiker zu sein. Ich tue nicht so, als ob ich nicht im Dienst einer bestimmten, sehr mächtigen Elite in der Gesellschaft stehen würde. Ich werde auch nicht so tun, als ob meine Arbeit implizit dieser Elite diene.

Wie bei so vielen Dingen liegt der Schlüssel darin, wie sehr man sich dieses Potenzials, dieser Macht, einen zu vereinnahmen, bewusst ist. Wenn man Journalisten sagt, sie würden mit der Macht im Bunde stehen, widersprechen sie und sagen, dass niemand ihnen je gesagt hätte, was sie zu tun hätten. Aber das ist nicht, wie es funktioniert.

Es gibt alle möglichen Dinge, die in der Soziologie des Ortes, an dem man sich befindet, in der Luft schweben und die einem sagen, was man tun oder nicht tun soll, was man sagen und nicht sagen darf. Auf diese Weise wird diese Haltung zur Macht geformt. Es gibt Fragen, die man nicht stellt. Wir alle müssen überleben, also stellen wir sie manchmal nicht.

Es sind diese oft sehr subtilen Prozesse, die uns in Positionen bringen und die uns oft glauben lassen, dass wir innerhalb dieser Institutionen völlig frei agieren. Keiner von uns ist ein freier Akteur. 

Die Frage besteht jedoch darin, wie bewusst man sich der Einschränkungen sein will, die einen vielleicht in eine Richtung führen, in die man nicht gehen möchte.

In einem Ihrer jüngsten Beiträge argumentieren Sie, dass sich die Art und Weise, wie wir unsere eigene Gesundheit verstehen oder was es überhaupt bedeutet, gesund zu sein, durch die Medien Schritt für Schritt zu verändern scheint. Können Sie das näher erläutern?

Sprache besitzt die Macht der Namensgebung. Mit Hilfe von Namen können wir eine bestimmte Sache mythologisieren und zu einer Waffe machen. Erinnern wir uns an die Zeit vor drei Jahren, als man Halsschmerzen und eine laufende Nase hatte. Das hatte man schon einige Male in seinem Leben gehabt. Man weiß, dass man darüber hinwegkommen wird. Man hört auf seinen Körper und weiß, wann man Hilfe suchen muss. Man entwickelte im Laufe seines Lebens einen Dialog mit seinem Körper.

Aber was passiert, wenn wir [der Krankheit] einen Namen geben und ihr mythologische Kräfte zuschreiben? Verstehen Sie mich nicht falsch, sie tötet Menschen, hat jedoch keine mythologischen Kräfte. Mythologisch im Sinne von außergewöhnlichen Kräften, die in keinem Verhältnis zu anderen Dingen stehen. Dann kreiert man einen Test, der die Namensgebung bestätigt und lässt zu, dass dieser Test sich zwischen uns und unsere Instinkte stellt.

Wir folgen jetzt der Obrigkeit. Wir laden die Namensgeber faktisch ein, in unser Leben zu treten und unsere Beziehungen zu anderen Menschen zu lenken, denn das ist es, was mit dem Testen geschieht.

Ich denke, das ist sehr gefährlich. Namensgeber machen sich ein Konzept zu eigen, wenn sie es benennen. Damit können sie einen Keil zwischen uns und unser Inneres, zwischen uns und unsere Familie treiben. Ich ziehe es vor, diese Dinge, die von anderen unnötigerweise oder vielleicht zu Unrecht mit einem Etikett versehen werden, so weit es geht aus meinem Privatleben zu halten.

„Kult der Verletzlichkeit“ unter jungen Menschen

Sprechen wir über junge Menschen. [Oft zeigen sie sehr große Angst vor COVID-19, obwohl sie laut der Wissenschaft ein sehr geringes Risiko haben, an Corona zu sterben.]

Ich denke, das hängt mit einer anderen Sache zusammen, die ich sehr beunruhigend finde und die man als Kult der Verletzlichkeit bezeichnen könnte. Eines der wunderbaren Dinge am Jungsein ist, dass man sich unverwundbar fühlt. Das ist in vielerlei Hinsicht eine schöne Sache. Du bist 19 und wirst die Welt erobern.

Was geschieht in einer Gesellschaft, die den Personen, die am energischsten sind, einen Kult der Verletzlichkeit einzutrichtern scheint? Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn jemand im Alter von 19 Jahren in den Spiegel schaut und eher einen verletzlichen als einen starken Menschen sieht? Ich kann mir nur vorstellen, dass das Menschen zugute kommt, die bereits an der Macht sind.

Ich denke darüber oft im Zusammenhang mit der Geschichte nach. Das Feudalsystem im Mittelalter zum Beispiel war ein System, das auf der Idee beruhte, dass der kriegerische Grundherr den schwachen Leibeigenen Sicherheit bietet. Der Beginn der Demokratie und des Republikanismus im engeren Sinne, wie wir ihn kennen, kam, als die Menschen beschlossen, das Risiko einzugehen, nicht vollständig geschützt zu sein, um ihre Individualität als soziales Subjekt auszudrücken. Mit anderen Worten: Ich werde meine Freiheit nicht im Namen der Sicherheit aufs Spiel setzen.

Doch genau das scheinen wir jetzt zu tun. Dieses semiotische Spiel scheint es zu fördern. Es sagt den Menschen, dass sie bestimmte Sachen nicht tun dürften, bis jemand anderes es ihnen erlaubt oder sie ihren Fehler beseitigen. Das bringt einen in eine sehr negative Stellung gegenüber der Macht. Was genau lehrt man hier über die Fähigkeit, mit Hoffnung ins Leben zu schreiten?

Auf der Grundlage eines konstruierten Gefühls des Risikos gibt man Autorität ab. Wird man diese Autorität zurückerhalten? Wird man wissen, wie man sie wieder für sich beanspruchen kann, selbst wenn sie zurückgegeben wird? 

Zu lernen, wie man sein eigenes Leben im weitesten Sinne selbstbestimmt leben kann, ist eine Lebenskompetenz. Was aber, wenn man immer von einer Autoritätsperson außerhalb seiner selbst auf das Signal wartet, etwas zu tun oder zu lassen? Es hat den Anschein, dass wir in vielerlei Hinsicht für eine Gesellschaft der permanenten Infantilisierung üben.

Humanistisches Denken wurde bei Corona vergessen 

In einem anderen Artikel trafen Sie eine Unterscheidung zwischen humanistischem und wissenschaftlichem Denken. Die öffentliche Gesundheit sollte sich in einem feinen Gleichgewicht zwischen den beiden befinden, verlagerte sich aber leider ganz auf die wissenschaftliche Seite. Das ist ein Teil unseres Problems. Bitte, erzählen Sie mir davon.

Es handelt sich um ein umfassenderes Problem, das mindestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts existiert, als die moderne Universität aufkam. Damals galt die Wissenschaft als die führende Disziplin, was auch heute noch der Fall ist. Ich möchte nicht zu sehr verallgemeinern, aber die Wissenschaft basiert zum größten Teil auf der Analyse, die das Gegenteil der Synthese ist. 

Analyse bedeutet, etwas in seine Bestandteile zu zerlegen und zu immer feineren Elementen vorzudringen, um es auf einer bestimmten Ebene zu verstehen. Dann kann man es wieder zusammensetzen und zu einem Ergebnis kommen. Das wäre dann der humanistische Teil der Wissenschaft.

Die humanistische Seite der Dinge, mit der ich mich beschäftige, ist synthetischer Natur. Synthetisch nicht im Sinne von künstlich, sondern im Sinne, dass man eine Synthese anstrebt. Es geht darum, Stücke der Kultur zu nehmen. Natürlich müssen wir manchmal analytisch sein, um die Stücke zu finden. Wenn wir die gefundenen Stücke jedoch nicht zu einer kohärenten Erzählung zusammenfügen, ist das als humanistische Arbeit nicht sehr nützlich.

Die öffentliche Gesundheit braucht natürlich Menschen, die sich eingehend mit immunologischen, virologischen und allen möglichen anderen Prozessen einer bestimmten Krankheit befassen. Aber wenn wir nicht gleichzeitig ein humanistisches Verständnis haben, dann passiert das, was in den vergangenen zwei Jahren geschah. Wer sprach über die Gesamtauswirkung der Lockdowns, zumindest auf Regierungsebene? Wer sprach über die Gesamtauswirkung der Maskenpflicht für Kindern?

Wir haben den obsessiven Versuch unternommen, ein Virus zu töten. Das war unser erstes, zweites und drittes Ziel. Dabei führten wir nie eine humanistische Kosten-Nutzen-Analyse durch und wogen sie nie gegen dieses vielleicht lobenswerte Ziel ab.

Haben Sie über einen Ausweg aus dieser ganzen Angelegenheit nachgedacht?

Ich denke viel darüber nach. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine positive Antwort geben kann. Ich denke, eine Sache, die viel Nutzen bringen könnte – was sowohl Solschenizyn als auch Havel sagten –, ist: Hör auf, eine Lüge zu leben.

Was bedeutet das? Es bedeutet, das zu bejahen, von dem man weiß, dass es real und dauerhaft ist. Das ist es, was man durch einen Dialog mit sich selbst lernt. Das ist eines der Dinge, die wir als Einzelne tun können. Wir können beginnen, uns selbst zuzuhören und einen Schutzschirm gegen all diese Impulse zu errichten, die ausgesendet werden.

Dann gibt es eine Metapher, die der katalanische Schriftsteller [Josep Maria Esquirol] kreierte: „intimer Widerstand“. Dieser hat einen persönlichen und einen gemeinschaftlichen Teil. Einfache Dinge wie Freundschaft, das Ausrufen eines Cordon sanitaire um seine Familie und Freunde herum. Und auch um Gleichgesinnte, bei denen man sich gut fühlt, wenn man mit ihnen zusammen ist und die den eigenen Gefühlen und Werten entsprechen. Es ist ein Ort, an dem wir Schutz vor der Welt finden können.

Wir müssen die Orte, Situationen und Interaktionen wertschätzen, die uns das Gefühl der Würde und des Selbstwerts geben und uns mehr zu der Person machen, die wir jederzeit sein wollen.

Thomas Harrington ist ein Essayist und Professor für spanische Sprache und Kultur am Trinity College in Hartford im US-Bundesstaat Connecticut. Sein Fachgebiet sind Bewegungen zur nationalen Identität  in der zeitgenössische katalanische Kultur.

Das Interview führte Jan Jekielek in der Sendung „American Thought Leaders“ (Epoch TV). Zum besseren Verständnis wurde der Text bearbeitet und gekürzt (von Anna Samarina).

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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