Wachstum steigt, Wohlstand sinkt – Was steckt dahinter?

Das Wirtschaftswachstum steigt, doch immer mehr Menschen kommen nur schwer über die Runden. Der Wohlstand nimmt ab. Volkswirtschaftler Prof. Dr. Kreiß fordert, die offiziellen Zahlen auf Sinnhaftigkeit, Zweck und Aussagekraft zu überdenken.
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Sicherheit durch mehr Überwachung? Das ist eine eher unproduktive Tätigkeit.Foto: iStock
Von 5. Juni 2022

Trotz konjunktureller Auf- und Abschwünge, trotz Finanzkrise 2008, Corona und Lockdowns wächst unser Bruttoinlandsprodukt kontinuierlich weiter. In den letzten 25 Jahren hat sich das deutsche BIP real um etwa ein Drittel erhöht, pro Kopf und kaufkraftbereinigt sind wir heute offiziell real ungefähr 25 Prozent reicher als vor 25 Jahren; wir haben mehr Beschäftigte denn je und die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit beinahe 40 Jahren nicht mehr.

Trotzdem klagen – gefühlt – immer mehr Menschen, dass sie nur mehr schwer über die Runden kommen, dass der Wohlstand, das Wohlbefinden nicht nur nicht zunimmt, sondern teilweise sogar abnimmt. Wie kann das sein? Dafür gibt es gute Gründe.

Steigende Kriminalität trotz mehr Sicherheitsmaßnahmen

Zunächst ein Blick in die USA: In den letzten Monaten erschienen im „Wall Street Journal“ zwei bemerkenswerte Artikel zu steigender Kriminalität in US-Städten seit Corona. Der eine trägt den Titel: „Diebstähle und Einbrüche plagen San Francisco – Einzelhändler sehen sich mit steigenden Sicherheits- und Reparaturkosten konfrontiert“ vom 21.3.2022.

Demnach stiegen in San Francisco Eigentumsdelikte 2021 um 13 Prozent und Autodiebstähle um 39 Prozent gegenüber dem Vorjahr: „Gewerbebetriebe waren in allen Ecken von San Francisco betroffen, sogar in Vierteln mit traditionell niedriger Kriminalität wie Sunset District, wo Einbrüche in Geschäfte und Wohnhäuser zwischen 2019 und 2021 um 80 Prozent stiegen.“

Am 29.4.2022 berichtete das „Wall Street Journal“, dass wohlhabende Viertel von Chicago wegen zunehmenden Autodiebstählen und Überfällen jetzt bewaffnete private Polizeieinheiten einführten. Sicherheitsdienste florierten.

Ein Anbieter von Sicherheitsdiensten wird mit den Worten zitiert: „Als die Pandemie sechs Monate währte, begannen mich die Kunden anzurufen und sagten: ‚Die Kriminalität ist außer Kontrolle, was können Sie tun?‘“ Vor der Pandemie habe er 75 Kunden in einer bestimmten Region gehabt. Heute habe er dort 175.

Die Zunahme von Kriminalität wird durch eine Studie des Council on Criminal Justice von Januar 2022 zur Kriminalitätsentwicklung in 27 US-Städten bestätigt. Demnach stiegen Morde 2021 gegenüber 2020 um fünf Prozent, im Vergleich zu 2019 gar um 44 Prozent. Schwere Übergriffe erhöhten sich 2021 gegenüber 2020 um vier Prozent, Waffenangriffe um acht Prozent und Autodiebstähle um 14 Prozent.

Andererseits gingen Einbrüche, Diebstähle und Drogendelikte 2021 gegenüber dem Vorjahr 2020 zwischen einem und zwölf Prozent zurück. Diese Rückgänge erklärt die Studie mit den Stay-at-Home-Anordnungen und Lockdowns: „Die Quarantänen reduzierten die Einbrüche in Wohnhäusern. Wenn die Geschäfte geschlossen sind, gibt es keine Ladendiebstähle. Drogen auf Straßen zu verkaufen ist schwieriger, wenn weniger Leute auf der Straße sind.“

Gewerbetreibende, Normalbürger und Stadtverwaltungen wehren sich gegen die zunehmende Kriminalität mit zusätzlichen Ausgaben für Überwachungskameras, Zäunen, Gittern und so weiter sowie mehr Sicherheitspersonal und privater Polizei.

Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen der Sicherheitsmaßnahmen

Was bedeuten zunehmende Ausgaben für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit gesamtwirtschaftlich? Offiziell steigt dadurch das Bruttoinlandsprodukt. Denn jede Reparatur von eingeschlagenen Schaufenstern, jede Neuinstallation von Überwachungskameras, Stacheldrähten, Gittern, Zäunen und neu eingestelltes Security-Personal steigern das Wirtschaftswachstum.

Real geschieht jedoch genau das Gegenteil. Der Wohlstand sinkt. Denn nun sind mehr Menschen als zuvor mit Tätigkeiten beschäftigt, die entweder zerstörtes Gut wiederherstellen, also den vorherigen Wohlstand wiederherstellen. Oder es nehmen Tätigkeiten zu, die keinen realen Wohlstandszuwachs erzeugen, wie etwa Wachpersonal, die Produktion neuer Stacheldrähte oder von Überwachungskameras.

Man könnte diese Art von Arbeit als unproduktive Tätigkeiten bezeichnen in dem Sinne, dass sie, wenn sie zunehmen, keine Wohlfahrtsvermehrung erbringen, keine zusätzlichen Produkte oder Dienstleistungen erzeugen, die die materielle oder geistige Wohlfahrt vermehren. Ein anderer Ausdruck dafür könnte unnötige Arbeit sein.

Unproduktive Arbeit

Auch in Deutschland nimmt diese Art unproduktiver Tätigkeit seit Langem zu. Beispielsweise sind die Umsätze der Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland von 3,28 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 9,21 Milliarden 2020, also um etwa 180 Prozent und damit deutlich stärker als das BIP gestiegen. Die Zahl der Beschäftigten nahm in der Branche von 2000 bis 2020 um 85 Prozent zu, und zwar von 140.000 auf 259.500.

Einen großen Sprung bei Umsatz und Beschäftigtenzahlen gab es von 2014 bis 2016, was mit der Flüchtlingswelle ab 2014 zusammenhängen dürfte: Allein zehn Prozent aller Beschäftigten in der Sicherheitsdienstleistungswirtschaft waren 2020 zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften eingesetzt.

Was tut Security-Personal, das gerade in den Corona-Zeiten besonders sichtbar war? Diese Beschäftigten sollen einen Zustand der Sicherheit wiederherstellen, der vorher ohne sie vorhanden war.

Wenn beispielsweise Kriminalität oder Unehrlichkeit steigen, müssen mehr Menschen eingesetzt werden, um die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Wenn es mehr Schwarzfahrer gibt, brauchen wir mehr Kontrollen. Je mehr die Moralstandards sinken, desto mehr Ressourcen und Menschen müssen wir einsetzen, um sichere Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten.

Unproduktive Tätigkeiten sind jedoch bei Weitem nicht auf den Sicherheitssektor beschränkt. Für David Graeber besteht die Hälfte aller Erwerbsarbeit aus Bullshit-Jobs: Unnötige, überflüssige, subjektiv und/oder objektiv sinnlose, nicht Werte schaffende Tätigkeiten. Beispiele dafür sind Bürokratie, Überwachung, Verwaltung, Werbung, Anwälte, Steuerberater, Gerichtsvollzieher, Vermögensberater, Lobbyisten, geplanter Verschleiß, um nur einige zu nennen.

Das heißt nicht, dass alle diese Tätigkeiten nicht notwendig sind. Ohne Polizei, Verwaltung, Gerichtswesen und so weiter ist unser Leben undenkbar. Es soll lediglich gesagt werden, dass, wenn diese Tätigkeiten zunehmen, sie praktisch keine wohlfahrtsvermehrende Wirkung haben, im Gegenteil. Es wird Arbeitskraft, Fleiß und Geisteskraft abgezogen von produktiven, wohlstandschaffenden, sinnvollen Tätigkeiten.

Um eine Größenordnung für Deutschland zu nennen: Allein geplanter Verschleiß und Werbung sorgen dafür, dass wir etwa vier Wochen im Jahr arbeiten, ohne eine einzige Dienstleistung oder ein einziges Gut mehr zu haben. Etwa zehn Prozent unserer Arbeitszeit wird allein dadurch verschwendet, ist umsonst, könnte genauso unterbleiben, ohne Schaden anzurichten. Im Gegenteil.

Wenn diese Tätigkeiten unterblieben, hätten wir weniger Energie- und Ressourcenverschwendung sowie weniger Umweltzerstörung.

Gesundheitswesen

Ein weiterer sehr großer Bereich ist das Gesundheitswesen. Je mehr chronische Krankheiten oder Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Lebensmittelunverträglichkeiten, Diabetes, Karies, einige Krebsarten, Rheuma, Herz- und Gefäßkrankheiten, Gicht, Adipositas und so weiter zunehmen, desto mehr müssen wir für Gesundheitsdienstleistungen ausgeben.

Das erhöht das reale BIP, aber nicht unsere Wohlfahrt. Im Gegenteil. All die Menschen, die im Gesundheitswesen dafür arbeiten, Zivilisationskrankheiten einzudämmen, werden aus den produzierenden Bereichen der Volkswirtschaft abgezogen. In Deutschland haben die Ausgaben für das Gesundheitswesen von 9,4 Prozent vom BIP 1992 auf 11,9 Prozent 2019 zugenommen.

Ein aktuelles Beispiel: In Deutschland wurden für Bürgertests (Corona-Schnelltests) laut „tagesschau.de“ vom bis April 2022 etwa 10,3 Milliarden Euro ausgegeben. Dabei werden allein die Betrugsschäden auf bis zu 1,5 Milliarden Euro geschätzt. All dieses Geld, die Menschen, die die Tests durchführen, die Hersteller, die die Materialien verkaufen – das alles führt zu keiner Erhöhung des Wohlstands in der Gesellschaft. Im Gegenteil: Diese Ressourcen werden von anderen, produktiven Tätigkeiten abgezogen.

Den Sinn der Zahlen hinterfragen

Viele Menschen fragen mich immer wieder, ob denn die offiziellen Zahlen zum Wirtschaftswachstum stimmen, ob nicht die Inflation in Wahrheit viel von unserem Wohlstand auffrisst.

Anders ausgedrückt: Wie kann es sein, dass trotz sehr niedriger Arbeitslosigkeit und fast ständigem Wirtschaftswachstum gefühlt immer mehr Menschen in unserem Land immer schlechter über die Runden kommen?

Meiner Ansicht nach stimmt dieses Gefühl für viele Menschen. Und dafür gibt es vor allem zwei Gründe: erstens die ständig zunehmende unproduktive Arbeit in unserem Land (und weltweit). Trotz Wirtschaftswachstum bleibt netto oft wenig oder manchmal nichts übrig an realem Wohlstandszuwachs.

Zweitens die seit etwa 40 Jahren weltweit und auch in unserem Land steigende Ungleichverteilung. So hieß es in einem Artikel der „Welt“ am 7.10.2019 zu Deutschland: „Die verfügbaren Einkommen sind so ungleich verteilt wie noch nie“. Mindestens beim unteren Viertel der deutschen Beschäftigten kommt vom Wirtschaftswachstum seit einer Generation praktisch nichts an, im Gegenteil.

Ein offiziell kontinuierlich steigendes reales BIP heißt längst nicht, dass es den meisten Menschen im Land auch real besser geht. Wir sollten anfangen, umzudenken und die offiziellen Zahlen auf Sinnhaftigkeit, Zweck und Aussagekraft zu hinterfragen.

Prof. Dr. Christian Kreiß ist seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Er ist auch Autor von sieben Büchern und wurde mehrfach als unabhängiger Experte in den Deutschen Bundestag (Grüne, Linke, SPD) eingeladen. Weitere Informationen auf: www.menschengerechtewirtschaft.de.



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