Opfert die Bundesregierung ihren Grundsatz „Löschen statt Sperren“?

Eine EU-weite Lösung für den Umgang mit Kinderpornographie im Netz ist auch nach monatelangen Debatten nicht in Sicht – ebensowenig wie eine klare Position der Bundesregierung. Deren Grundsatz „Löschen statt Sperren" könnte nach Informationen von Netzpolitik.org demnächst kippen.
Titelbild
Das Archivbild zeigt einen Screenshot einer Login-Seite einer Kinderpornografie-Plattform.Foto: Arne Dedert/dpa/dpa
Von 30. März 2023

In der Europäischen Union gibt es seit Jahren Differenzen um den Kampf gegen kinderpornografische Inhalte im Internet. Wie das Onlineportal „Netzpolitik.org“ berichtet, ist die Bundesregierung offenbar bereit, dafür von ihrem Grundsatz „Löschen statt Sperren“ abzurücken. Das gehe aus einem „Drahtbericht der deutschen Verhandlungsgruppe“ vom 28. Februar 2023 hervor. Obwohl der Bericht als „Verschlusssache“ eingestuft wurde, hat ihn „Netzpolitik.org“ veröffentlicht.

Grundlage des Berichts ist eine Sitzung der „Ratsarbeitsgruppe (RAG) Strafverfolgung“ vom 24. Februar 2023 in Brüssel. Dabei wurde ein schwedischer Kompromissentwurf vom 16. Februar 2023 diskutiert (PDF). Er stützt sich auf den ursprünglichen „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ („Child Sexual Abuse“ [CSA]) vom 11.5.2022.

EU-Kommission will „Netz-Sperren“

Uneinigkeit herrsche offenbar noch immer in der Frage, ob beziehungsweise wie Anbieter von Internet-Zugangsleistungen wie beispielsweise Facebook oder WhatsApp demnächst zu „Netz-Sperren gegen illegale Internet-Inhalte“ verpflichtet werden können. Dies sei der ausdrückliche Wunsch der EU-Kommission.

Doch nach Angaben von „Netzpolitik.org“ ist das gar nicht so einfach umsetzbar:

Technisch wäre es allenfalls möglich, Netz-Sperren auf der Ebene von DNS oder IP durchzuführen. Damit werden aber ganze Domains oder IP-Adressen gesperrt und damit weit mehr als nur einzelne URLs.“

Solch einem „Overblocking“ („Übersperren“) stehe aber sogar die EU-Kommission kritisch gegenüber.

Eine technische Alternative besteht laut „Netzpolitik.org“ lediglich in der äußerst umstrittenen „Deep Packet Inspection“-Technologie (DPI). Diese sei zwar in der Lage, „einzelne Datenpakete“ vollautomatisch zu sichten, auszuwerten, zu bearbeiten oder auch verschwinden zu lassen. Damit das funktioniert, müssten die Anbieter aber zuvor die HTTPS-Verschlüsselung gegen die Grundsätze des Datenschutzes „brechen“.

EU-Kinderschutzambitionen im Dilemma

Das ganze Vorhaben, mehr gegen Kinderpornografie im Netz zu unternehmen, steckt also im Dilemma zwischen technischen Schwierigkeiten, Overblocking und den Datenschutzrechten und sonstigen Interessen der Dienste-Anbieter.

Wenig überraschend gehen die Lösungsvorschläge innerhalb der „Ratsarbeitsgruppe (RAG) Strafverfolgung“ der EU auseinander – oder sind erst gar nicht vorhanden.

Regierung steht Sperren kritisch gegenüber

Nach dem internen „Drahtbericht“ hatte die deutsche Delegation zum Entwurfsartikel 16 („Blocking orders“, zu Deutsch übersetzbar mit „Anordnungen zur Sperre“) „weisungsgemäß“ zu Protokoll gegeben, dass aus der Perspektive der Bundesregierung „Sperranordnungen insgesamt kritisch gesehen werden, jedenfalls nur subsidiär erfolgen dürften und eine Güterabwägung im Einzelfall erforderten.“

In dieser ziemlich schwammigen Formulierung wird die seit Jahren unumstrittene offiziellen Regierungspraxis „Löschen statt Sperren“ nicht erwähnt, obwohl das Prinzip nach eigenen Angaben in Deutschland recht gut funktioniert.

Keine klare Positionierung in der Ampel

Hintergrund ist laut „Netzpolitik.org“ die Tatsache, dass es innerhalb der Ampelregierung verschiedene Ansichten zum vorliegenden Gesetzentwurf der EU-Kommission gibt. Das habe eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums auf Anfrage bestätigt:

Die Bundesregierung stimmt derzeit die Positionierung zum Verordnungsentwurf der EU-Kommission ab. Die Abstimmung dauert an. Eine abgestimmte Stellungnahme Deutschlands zum gesamten CSA-Verordnungsentwurf existiert noch nicht.“

Ursprungsposition aufgeweicht

Das SPD-geführte Bundesinnenministerium vertritt mit Nancy Faeser wohl eine härtere Linie pro Chatkontrolle als jene, die im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Dort ist nämlich von einer klaren Ablehnung zu „allgemeine[n] Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine[r] Identifizierungspflicht“ die Rede. Eine Sprecherin des Innenministeriums beschrieb die aktuelle Position gegenüber „Netzpolitik.org“ allerdings wie folgt:

Aus Sicht der Bundesregierung sollte bei der Entfernung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern vorrangig eine dauerhafte Entfernung der Inhalte angestrebt werden.“

Die beiden FDP-Bundesministerien für Justiz (Marco Buschmann) beziehungsweise für Digitales und Verkehr (Volker Wissing) dagegen verteidigen zwar offiziell den Passus des Koalitionsvertrages unter Hinweis auf seine „roten Linien“ und bekennen sich zum „bewährte[n] Grundsatz ‚Löschen statt Sperren‘ “. Andererseits aber stünden „Entfernungsanordnungen und Sperranordnungen in einem Stufenverhältnis“, wie eine Sprecherin des Justizministeriums gegenüber „Netzpolitik.org“ präzisiert habe:

Sperranordnungen kommen aus Sicht des BMJ nur als letztes Mittel in Frage, wenn Entfernungsanordnungen nicht ausreichen, um die dauernde und umfangreiche Verbreitung von Kinderpornografie durch einen Anbieter zu verhindern.“

Wird der Koalitionsvertrag gebrochen?

Viele Bundestagsabgeordnete über die Fraktionsgrenzen hinweg befürchten, dass die regierungsinternen Querelen in einen Verstoß gegen den Koalitionsvertrag münden könnten und pochen auf der Einhaltung des „Löschen statt Sperren“-Prinzips.

Eine klare Ablehnung von Netzsperren signalisierten laut „Netzpolitik.org“  bereits die Parlamentarier Anna Kassautzki (SPD), Tobias Bacherle (Grüne), Maximilian Funke-Kaiser (FDP) und Anke Domscheit-Berg (Linke).

Die Fraktionen der Grünen und der FDP hatten bereits im Dezember 2022 einen Antragsentwurf verfasst, der die Bundesregierung verpflichten soll, gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes eine europapolitische Stellungnahme zum Thema zu verfassen – und sich den Verhandlungen mit der EU strikt daranzuhalten. Doch, wie gesagt: „Eine abgestimmte Stellungnahme Deutschlands zum gesamten CSA-Verordnungsentwurf existiert noch nicht.“

Bei all dem Hickhack ist eine Lösung wohl vorerst nicht in Sicht.



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