Meinung
Sabine Küster-ReeckBerlin in Trümmern: Der letzte Widerstand
Die Zitadelle Spandau, ein 500 Jahre altes Bollwerk über der Havel, birgt Geschichten von Belagerungen, Kriegen und einem mutigen Akt der Menschlichkeit im April 1945.

Zitadelle Spandau mit Juliusturm, Torhaus und einer Zugbrücke in Berlin.
Foto: laranik/iStock
Strahlend blau ist der Himmel über Berlin. Im warmen Frühlingslicht des Jahres 2025 umrunden zahlreiche Spaziergänger die Spandauer Zitadelle. Wer das trutzige Bauwerk betrachtet, muss den Kopf allerdings in den Nacken legen, um hoch hinaufzublicken auf die fünfhundert Jahre alte Renaissancefestung, die in ihrer Geschichte so vieles gesehen hat.
Viele Dramen haben sich hinter ihren Mauern abgespielt, oft wurde sie umkämpft. Schwedische Truppen belagern sie während des Schwedeneinfalles 1675; Napoleon Bonaparte besichtigt die Zitadelle 1806, nach der Kapitulation durch den preußischen Major Ernst Ludwig von Beneckendorf nach dem Krieg mit Frankreich. In Friedenszeiten wirkt nur der tosende Berliner Autoverkehr in der Nähe des gewaltigen Bauwerkes aggressiv. Hoch über der Havel ruht die Festung inmitten einer herrlichen Grünanlage, die Erholung verheißt.
Ein prächtiger alter Baumbestand säumt das Ufer und lädt den Besucher ein, hier zu verweilen. Auch viele Wildtiere haben sich hier in der hektischen Großstadt eine Heimat gesucht. Habichte, Biber, Reiher, Fledermäuse und sogar der scheue Eisvogel haben sich angesiedelt. Während der letzten Jahre trat die Zitadelle Spandau durch Veranstaltungen in Erscheinung. Konzerte und Theateraufführungen erfreuen auf dem Gelände viele Besucher. Hinweistafeln am Rundweg aber berichten von einer bewegenden Geschichte, die sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs an diesem Ort zugetragen hat.
Wladimir Gall: Ein Menschenfreund im Krieg
Wladimir Samoilowitsch Gall wird am 20. Januar 1919 im ukrainischen Charkiw geboren. Nach seinem Abitur beginnt er 1936 ein Studium an der Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur in den Fachrichtungen Weltliteratur und Deutsch. Der junge Wladimir meldet sich nach seinem Studium freiwillig zur Roten Armee und zieht mit der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Schukow auf Berlin.
Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse wird er einer Sondereinheit für Propaganda zugeteilt. Er soll die deutschen Soldaten über den Faschismus aufklären. Gall agitiert an den Hauptkampflinien mit seinem Lautsprecherwagen. Er soll die Rolle der Roten Armee erklären. Mehrfach wird seine Einheit schwerstem Beschuss ausgesetzt.
Während dieser Zeit lernt der Hauptmann auch den Kommunisten Konrad Wolf kennen, der später als Regisseur seine Kriegserlebnisse in dem Film „Ich war 19“ mit Jaecki Schwarz in der Hauptrolle verarbeitet.
Wladimir Gall ist ein Menschenfreund, er liebt die deutsche Literatur und es fällt ihm schwer zu glauben, dass alle Deutschen Verbrecher sind, die seine Heimat überfallen haben sollen. Daher mag sein engagierter Einsatz als Parlamentär kommen, mit dem er später so vielen Menschen in der Zitadelle Spandau das Leben retten soll.
Verzweifelte Verteidigung: Das Ende des Dritten Reichs
Ende April 1945 ist der Krieg verloren. Adolf Hitler hat sich das Leben genommen; Berlin liegt in Schutt und Asche. Dennoch klammern sich vereinzelte Bastionen und Gefechtsstellungen an eine verzweifelte Verteidigung, getragen von Männern, die die Wahrheit nicht akzeptieren wollen: Das Dritte Reich ist untergegangen.
Im April 1945 erreicht Wladimir Gall die zerstörte Stadt Berlin zusammen mit seinem Vorgesetzten Major Grischin, für den er die Dolmetscherrolle übernehmen soll. Auch die Soldaten der Roten Armee sind von einem langen Marsch, dem Hunger und den vielen Kämpfen körperlich und seelisch zermürbt.
Wladimir Gall und Major Grischin sollen versuchen, die deutsche Besatzung der Zitadelle Spandau davon zu überzeugen, dass ein weiteres Blutvergießen sinnlos ist und nicht im Interesse der Roten Armee liegt. In den Mauern der Zitadelle haben Hunderte Zivilisten Schutz vor den Kämpfen gesucht. Die Besatzung der Zitadelle besteht nur noch aus Resten einer Volkssturmkompanie sowie Wissenschaftlern in Uniform, den Mitarbeitern des Heeresgasschutzlaboratoriums, das seit 1936 auf der Zitadelle untergebracht war. Kommandant der Zitadelle ist Oberst Prof. Dr. Gerhard Jung.
Wladimir Gall schildert später in seiner Autobiografie „Mein Weg nach Halle“, wie er zunächst versucht, mit seinem Lautsprecherwagen die Deutschen zur Kapitulation zu bewegen. Flugblätter regnen herab, und Spandaus Bürger werden zur Zitadelle entsandt – doch ohne Erfolg. Daraufhin beschließt Major Grischin am 1. Mai, selbst die Rolle des Parlamentärs einzunehmen.
Mut unter der weißen Fahne
Eine weiße Fahne wird improvisiert. Mit einem Weidenstock, an den ein Stück weißer Stoff gebunden wird, nähert sich der Major der Festung. Mit ihm kommt Wladimir Gall. Er trägt einen neuen Mantel, genäht aus englischem Stoff, der „Churchill-Mantel“ genannt wird. Sein alter Frontmantel ist ihm zu abgenutzt, denn auch Kapitulationsverhandlungen brauchen Stil.
Die Todesangst begleitet die beiden Männer auf ihrem Weg zur Zitadelle, denn nur zu oft wurden Parlamentäre trotz der weißen Fahne erschossen. Ein schlichtes „Hallo“ ist es, mit dem Gall die Gespräche einleitet. Der deutsche Kommandant Oberst Jung erklärt sich für Gespräche bereit und klettert ziemlich unorthodox über eine Strickleiter hinab zu den sowjetischen Abgesandten. „Ich würde ja kapitulieren“, lässt er die Parlamentäre wissen, jedoch sei mit dem Widerstand seiner Offiziere zu rechnen.
So schlagen die beiden Sowjets vor, selbst hinaufzuklettern, um zu verhandeln. Woher sie bei aller Todesangst den Mut dafür nehmen, erklärt Gall später, hätten sie selbst nicht gewusst. Bizarr aber, dass sich Gall beim Aufstieg zum „Fürstensaal“, wo die deutschen Offiziere auf die Parlamentäre warten, mehr Sorgen um die Sauberkeit seines neuen Churchill-Mantels macht als um sein Leben, denn eine rußige Laterne versperrt beim Aufstieg seinen Weg.
Ein Ultimatum rettet Leben
Es zeigte sich, dass die deutschen Offiziere in zwei Lager gespalten sind. Die Einsichtigen können sich zunächst nicht gegen die Fanatiker durchsetzen, die noch immer bis zum letzten Blutstropfen kämpfen wollen – ohne Rücksicht auf die vielen Zivilisten im Keller des Gemäuers. Die Verhandlungen bleiben ein zähes Ringen, bis die beiden Russen schlussendlich den Deutschen ein Ultimatum stellen: Entweder die Zitadelle kapituliert innerhalb von 3 Stunden oder sie wird angegriffen.
Diese ultimative Drohung ist es, die auch bei den letzten Verfechtern des Widerstandes gegen die Russen wirkt. Die Zitadelle wird durch den Kommandanten Oberst Jung und dessen Stellvertreter Koch übergeben, ohne dass ein Schuss fällt. Übergriffe vonseiten der Rotarmisten gibt es nach Zeugenaussagen nicht, obgleich einige von ihnen durch die Gegend streifen, auf der Suche nach Alkohol. Die überlebenden Zivilisten können friedlich abziehen, die Militärs wortlos den Weg in die Gefangenschaft antreten. Für sie ist nun auch der Krieg zu Ende.
Zwei Männer der Roten Armee haben nach all den verheerenden Schlachten, die sie als junge Menschen miterleben mussten, bewiesen, dass es auch in schwierigen Situationen einen Ausweg geben kann, wenn sich nur die Kontrahenten einig werden können.
Der neue Mantel des Parlamentärs Gall hatte zwar seine Rußflecken abbekommen, das diplomatische Wesen seines Trägers und dessen Mut aber haben vielen Menschen das Leben gerettet. Die Zitadelle Spandau erzählt bis heute eine Geschichte davon.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
Aktuelle Artikel der Autorin
05. Januar 2025
Das Glück ist mit den Unerschrockenen
Kommentare
Noch keine Kommentare – schreiben Sie den ersten Kommentar zu diesem Artikel.
0
Kommentare
Noch keine Kommentare – schreiben Sie den ersten Kommentar zu diesem Artikel.