Geopolitik: Wer destabilisiert die Ukraine? Wer destabilisiert Europa?

Der Ukraine-Konflikt ist in aller Munde und verdrängt viele andere Weltthemen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Frage, die Experten diskutieren, ist: Wer hat welche Ambitionen in diesem geopolitischen Spiel und wer destabilisiert sogar? Dabei betrifft die Angelegenheit nicht nur die USA, die NATO, Europa, die Ukraine und Russland. Auch das kommunistische China beobachtet den Konflikt der Großmächte ganz genau und lotet seine Chancen aus, die damit einhergehen.
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(L-R) Flagge Russlands, der USA und der Ukraine. Symbolbild.Foto: iStock
Von 3. Februar 2022

Nur weil die Ukraine eine Annäherung an die NATO und den Westen wolle, heiße das nicht, dass deren Mitgliedstaaten das erlauben sollten, findet Prof. John Mearsheimer vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität von Chicago. Mearsheimer, der als Experte für Internationale Politik gilt, warnte vor einem sich gefährlich hochschaukelnden Konflikt um die Ukraine. Aus seiner Sicht wäre es für die Ukraine geradezu „töricht“, der NATO beizutreten.

Wenn man neben einer Großmacht wohne, so Mearsheimer, müsse man berücksichtigen, welche Bedenken sein Nachbar habe – „und zwar zu deiner eigenen Sicherheit“. Das Ergebnis der Annäherungsversuche der Ukraine sei es, „dass die Ukraine die Krim verloren hat und in einen Krieg mit Russland verwickelt ist“.

Im Interview mit der „Welt“ erklärte der einflussreiche US-Politologe, dass der Westen die russischen Interessen fehlinterpretiere. „Die aktuelle Krise ist eine direkte Folge der närrischen Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die Ukraine in die Nato bringen zu wollen“, so Mearsheimer.

Er könne absolut verstehen, dass Russland kein westliches Bollwerk vor seiner Haustür wolle. Keine Großmacht wolle eine andere Großmacht vor seiner Haustür haben. „Im Westen denkt man vielleicht so, dass die Nato niemanden bedroht, aber was wir denken, ist nicht entscheidend.“ Russland sehe die Nato nicht als „freundliche Allianz“, gibt der renommierte Politikwissenschaftler zu bedenken.

Merz: Putin betreibt Destabilisierung Europas

Eine andere Sicht der Dinge hat Friedrich Merz, frischgebackener CDU-Chef und nunmehr Oppositionsführer gegenüber der Ampel-Regierung im Deutschen Bundestag. In der Sendung „Welt-Talk“ erklärte Merz, Putin fühle sich durch die Spaltung Europas und die unterschiedlichen Positionen ermutigt, „auf diesem Weg der Spaltung Europas weiter voranzuschreiten“. Wozu brauche Russland an der ukrainischen Grenze und in Weißrussland 100.000 Soldaten, fragt Merz und bringt den Begriff „Zangengriff“ gegenüber der Ukraine ins Spiel.

Der CDU-Chef kommt zu dem Schluss: „Das ist eine Destabilisierung der politischen Ordnung Europas.“ Der Ukraine-Konflikt sei in erster Linie eine Herausforderung für Europa und die Europäische Union. Es sei auch kein NATO-Fall. Die NATO bedrohe auch niemanden. Auch die Osterweiterung der NATO habe niemanden bedroht, habe noch nie jemanden bedroht, meinte Merz.

Merz priorisierte die Möglichkeit, die Ukraine „mit reinen Verteidigungswaffen“ zu versorgen. Der Unionspolitiker erinnert daran, dass die Ukraine und Russland (der europäische Teil) die größten Länder Europas seien und stellt die rhetorische Frage: „Wollen wir zusehen, wie Putin die Landkarte Europas mit Waffengewalt verändert?“, so der CDU-Chef, der ergänzt, „gegen alle Verträge, die wir mit ihm gemacht haben?“

1994 sei die Ukraine noch die drittgrößte Atommacht der Welt gewesen. Die Waffen seien zu 100 Prozent abgebaut worden. Im Gegenzug habe Moskau der Ukraine territoriale Souveränität garantiert, sich verpflichtet, das Land nicht mit Wirtschaftssanktionen zu schwächen und ihm Bündnisfreiheit zugesagt. „Nichts davon wurde eingehalten.“ Was sei uns in Europa die Freiheit wert, gegenüber jemandem, der sie mit Waffengewalt ändern wolle.

Wer destabilisiert die Ukraine?

Dem Argument, dass Russland die Ukraine mit seinem Verhalten destabilisiert habe und nicht die NATO, stimmte Mearsheimer nur bedingt zu: „Ja, aber als Reaktion.“ Bei den Osterweiterungen der NATO 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn) und 2004 (u.a. Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien) sei Russland noch zu schwach gewesen, um diese zu verhindern. Als der Westen aber 2008 Georgien und die Ukraine zur NATO holen wollte, reagierte Russland. Im selben Jahr noch habe es Krieg in Georgien gegeben und sechs Jahre später, 2014, in der Ukraine. „Die NATO hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.“

Nach Ansicht Mearsheimers gebe es keine Hinweise dafür, dass Russland neue Gebiete erobern wolle. Putin wolle kein neues russisches Großreich oder die Auferstehung der Sowjetunion. Er wolle hauptsächlich verhindern, dass die Ukraine der NATO beitrete. Der Westen verstehe Putin nicht. Er folge den Regeln der Machtpolitik. Laut Mearsheimer gehe es im Ukraine-Konflikt um Geopolitik.

Am 24. Januar erst sagte Olexij Danilow, Sekretär des nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, vor Journalisten: „Wir sehen zum heutigen Tag überhaupt keine Anhaltspunkte für die Behauptung eines großflächigen Angriffs auf unser Land.“ Auch seien Truppenbewegungen auf russischer Seite im Gegensatz zum Westen keine erstaunliche Angelegenheit. Wenige Tage später warf der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, ausländischen Journalisten bei einer Pressekonferenz vor, Panik zu verbreiten: „Fahren bei uns etwa Panzer auf den Straßen herum? Nein! Doch das ist das Gefühl, wenn du nicht hier bist.“

Selenskyj erklärte, man müsse heute die Wirtschaft des Landes stabilisieren. „Durch all diese Signale, dass morgen Krieg ist, gibt es Panik auf den Märkten und im Finanzsektor.“ Dem DPA-Bericht nach sei die Ukraine ökonomisch ohnehin schwach. Nun hätten ausländische Investoren bereits mehr als elf Milliarden Euro abgezogen. Die Inflation sei zweistellig und die Landeswährung Hrywnja sei gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit Februar 2015 gefallen.

Eine weitere Abwertung würde die jetzt schon hohen Importpreise für Erdgas, Kohle und Atombrennstoff noch mehr nach oben treiben, was die Regierung zwingen würde, die Inlandspreise für Gas, Strom, Warmwasser und Heizung stark anzuheben. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Lage bringe auch den Präsidenten in Schwierigkeiten, wird berichtet. Rund die Hälfte der Bevölkerung halte demnach die Kriegsgefahr für real.

Bidens Dilemma und die Blicke Chinas

Joe Biden stecke in einer Zwickmühle, in die er sich selbst und die USA gebracht habe, sagte Mearsheimer. Seine Umfragewerte seien im Keller und jegliche Zugeständnisse an Putin würden seinem Ansehen in der amerikanischen Öffentlichkeit weiter schaden. Dabei täten die USA und ihre Verbündeten gut daran, die Krise zu entschärfen, anstatt ein Wettrüsten mit Russland an dessen Grenzen einzugehen. Mögliche Waffenlieferungen nannte Mearsheimer „einen riesigen Fehler“. Bei solchen Schritten oder einer militärischen Kooperation mit der Ukraine würde Russland seiner Ansicht nach die Separatisten in der Ostukraine verstärkt unterstützen und seine Truppenpräsenz an der Grenze hochfahren.

John Mearsheimer hätte sogar eine Lösung für Bidens Dilemma: „Das Beste für alle Seiten wäre in meinen Augen eine neutrale Ukraine, eine Pufferzone“, so der Politexperte. Die Ukraine könnte so gute Beziehungen zu beiden Seiten pflegen und sowohl die USA als auch Russland müssten Zugeständnisse machen. „So könnten beide Seiten ihr Gesicht bewahren.“ Allerdings scheint es, dass man davon „weit entfernt“ sei und die „Leidtragenden dieser närrischen westlichen Politik sind die Ukrainer“. Russland werde die Ukraine schwer bestrafen, und zwar so lange, bis es bekomme, was es wolle.

Zu all diesen Betrachtungen komme noch ein weiterer Machthaber ins Spiel: Chinas kommunistischer Führer Xi Jinping. China verfolge ganz genau, was in der Ukraine passiere, versichert der Experte für Internationale Beziehungen. Würden die USA einlenken, könnte das seiner Ansicht nach „China ermutigen, noch aggressiver gegen Taiwan vorzugehen“.

Gegenüber der Epoch Times erklärte der Osteuropaexperte Professor Alexander Rahr, dass China nur Weltmacht werden könne, „wenn es Taiwan so wie Hongkong in sein Staatsgebiet einschließt und danach die Oberkontrolle über das Südchinesische Meer übernimmt“. Es könne durchaus sein, dass China das hysterische Kriegsgeschrei zwischen dem Westen und Russland für eine Intervention in der Taiwan-Frage nutze. Von Russland erwartet Rahr höchstens, dass es die Separatisten-Republiken in der Ostukraine anerkenne, – doch auch nur dann, falls die Ukraine diesen eine Autonomie für immer verwehre.

Europa und die Ukraine. Foto: Istockphoto/PeterHermesFurian



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