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plus-iconWeg aus dem Strudel der Gefühle

Mit uns selbst in der dritten Person sprechen: Ein Weg zu mehr Weisheit und Einsicht

Wer wünscht sich nicht salomonische Weisheit und klares Denken? Ein Mittel ist mehr Distanz zu sich selbst, belegen Forscher in mehreren Studien. Das Werkzeug dazu ist denkbar einfach.

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Im stillen Selbstgespräch mit sich in der dritten Person zu sprechen, kann uns helfen, mit Stresssituationen besser zurechtzukommen.

Foto: Epoch Magazine

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Lesedauer: 17 Min.

Benjamin Franklin – amerikanischer Wissenschaftler, Schriftsteller, Staatsmann und Diplomat (1706–1790) – hatte eine außergewöhnliche Methode zur persönlichen Entwicklung. Im Alter von 20 Jahren begann er, sein Verhalten, welches er in verschiedenen Situationen an den Tag legte, in seinem Tagebuch festzuhalten.
Anhand von 13 Tugenden beurteilte er seine Handlungen. Zu den höchsten Werten zählten für ihn Zurückhaltung, Verhältnismäßigkeit, Bescheidenheit und Ehrlichkeit.
Franklin gab zu, dass es ihm nie gelungen sei, auch nur einen einzigen Tag „reibungslos“ und ohne Verbesserungspotenzial zu überstehen, behauptete jedoch, dass sich die Mühe gelohnt habe: Sie habe ihm Gesundheit, Wohlstand und den Ruf eines „nützlichen Bürgers“ eingebracht.

Selbstreflexion versus Grübeln

Die Idee der Selbstbeobachtung als Weg zur Weisheit ist natürlich nicht neu. Seit der Antike schätzen Philosophen und Intellektuelle die Hinwendung nach innen als Mittel zum Selbstverständnis und zum weisen Denken angesichts der Herausforderungen des Lebens. Sokrates sagte in seiner Verteidigungsrede bei seinem Prozess: „Ein Leben ohne Selbstreflexion ist nicht lebenswert.“
Aber gibt es einen richtigen Weg, uns selbst zu prüfen? Ist Franklins Methode – gekennzeichnet durch Methodik, Präzision und Ehrlichkeit – der effektivste Weg zum Selbstverständnis und einem klügeren Leben?
Psychologen weisen auf eine häufige Schwierigkeit bei der Selbstbeobachtung hin: Viele von uns neigen dazu, immer wieder auf problembehaftete Gedanken und Schwierigkeiten zurückzukommen, bis wir uns darin verfangen, ohne eine Lösung zu finden.
Das Phänomen wird als „Grübeln“ bezeichnet – ein sich wiederholendes, oft negatives Gedankenmuster, bei dem wir dieselben störenden Gedanken immer wieder „durchkauen“, ohne zu einer Entscheidung oder praktischen Einsicht zu gelangen. Meist geht es dabei um Fehler der Vergangenheit, Sorgen um die Zukunft oder ein Gefühl der Hilflosigkeit.

Festhängen in der Vergangenheit

Stellen Sie sich vor, Sie kommen gerade aus einem Arbeitstreffen und können sich seit einer Stunde nicht von dem Gespräch lösen, das dort stattgefunden hat. Der Chef hat jede Ihrer Ideen abgelehnt, keiner Ihrer Kollegen hat Sie unterstützt und selbst diejenigen, die Sie immer unterstützt haben, sind verstummt.
Sie beginnen sich zu fragen, ob tatsächlich alle dem Vorgesetzten zustimmen und ob Ihre Expertise vielleicht nicht länger relevant ist. Immer wieder gehen Ihnen die Szenarien durch den Kopf: Manchmal reagieren Sie mit brillanter Weisheit, und manchmal stehen Sie auf und gehen – in sichtlicher Wut.
Empirische Studien haben gezeigt, dass diese Denkweise die Qualität der Entscheidungsfindung in fast allen Lebensbereichen beeinträchtigt: beim Finanzverhalten durch beispielsweise die Aufnahme unrentabler Kredite, durch verminderte akademische Leistungen sowie beim Risikomanagement unter Pokerspielern oder Sportlern.
Eine Studie ergab, dass Basketballspieler unter Druck umso schlechter abschneiden, je mehr sie dazu neigen, bereits getroffene Entscheidungen zu rekapitulieren.

Distanz von sich selbst

Als Alternative zur normalen inneren Reflexion, die zum Grübeln führen kann, schlagen einige Forscher vor, eine uralte rhetorische Technik anzuwenden: in der dritten Person über uns selbst zu sprechen – eine Technik, die als Illeismus bekannt ist und vom lateinischen Wort „Ille“ abstammt, das „er“ bedeutet.
Nach einem Streit empfiehlt es sich, nicht in der ersten Person zu sich selbst zu sagen: „Ich fühle mich schlecht“, sondern in der dritten Person zu sprechen – also mit dem Vornamen oder einem Pronomen wie „er“ oder „sie“. Yossi könnte sich beispielsweise sagen: „Yossi fühlt sich schlecht. Was ihm gesagt wurde, hat ihn verletzt.“
Eine berühmte Persönlichkeit der Antike, die den Illeismus verwendete, war Julius Cäsar (44–100 v. Chr.). In seinem Buch „Annalen der Gallischen Kriege“ beschrieb er seine Taten, als wären sie von einem objektiven Beobachter geschrieben worden.
Anstatt zu schreiben „Ich rächte die Rache des Publikums“, schrieb er: „Caesar rächte die Rache des Publikums“. Anzunehmen jedoch, dass sein Ziel nicht die Selbstbeobachtung war. Vielmehr wollte er seinen Berichten einen objektiven Ton verleihen, um eine prahlerische Darstellung seiner Taten zu vermeiden.
Heutzutage mutet uns eine solche Sprache eher seltsam oder kindisch an. Genau aus diesem Grund spricht die Figur Elmo aus der „Sesamstraße“ fast immer in der dritten Person von sich selbst: „Elmo will zu Mama“, sagt er. Und im Gespräch mit ihr fragt er: „Mama, hörst du Elmo?“ – eine Sprache, die uns Infantilität vermittelt.
Solange die Verwendung der dritten Person jedoch im stillen Selbstgespräch erfolgt – als Teil eines Prozesses der emotionalen Regulierung – ist daran nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Studien der letzten zehn Jahre zeigen, dass es sich um ein wirksames psychologisches Instrument handelt.

Rezept zur Stressreduzierung

Ethan Kross, Psychologe an der University of Michigan, hat sich auf die Erforschung des „inneren Dialogs“ spezialisiert – also die Gespräche, die wir mit uns selbst über uns selbst führen. In seinen Studien fand er heraus, dass Menschen, die nicht in der Ich-Perspektive mit sich selbst sprechen, mit Stresssituationen besser zurechtkommen.
Einfach ausgedrückt: Wenn wir uns selbst so behandeln, als wären wir jemand anderes, ändern wir nicht nur unsere Denkweise, sondern auch unsere Gefühle und damit unser Verhalten.
Kross sagt, dass sein Interesse an internen Gesprächen, die nicht in der ersten Person geführt werden, durch eine persönliche Erfahrung geweckt wurde. Nachdem er eine rote Ampel überfahren hatte, ertappte er sich dabei, wie er ausrief: „Eitan, du Idiot! Warum hast du das getan?“ Dieses Ereignis weckte seine Neugier – warum hatte er sich entschieden, in der dritten Person zu sprechen? Infolgedessen bemerkte er dieses Phänomen auch bei anderen und begann, über die Bedeutung und den Wert dieser Form von Selbstgesprächen nachzudenken.
In einer 2014 veröffentlichten Studie untersuchten Kross und seine Kollegen, wie sich unterschiedliche Arten des inneren Dialogs auf die Bewältigung von Stresssituationen auswirken. In zwei Experimenten wurden die Teilnehmer gebeten, in nur wenigen Minuten eine kurze Rede vorzubereiten und diese vor einem Publikum zu halten – eine Situation, die bei den meisten ein hohes Maß an sozialer Angst hervorruft.
Die Studienteilnehmer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt: Eine Gruppe verwendete für die innere Kommunikation die erste Person, also Ich-Formulierungen. Die andere Gruppe kommunizierte auf andere Weise mit sich selbst.
Die Mitglieder der Ich-Gruppe wurden gebeten, ihre Gedanken mithilfe von Sätzen wie folgenden zu steuern: „Ich habe Angst, unprofessionell oder inkompetent zu wirken. Ich habe Angst, dass sie Fragen stellen, auf die ich keine Antwort weiß.“
Im Gegensatz dazu verwendeten die Mitglieder der zweiten Gruppe einen internen Diskurs in der zweiten oder dritten Person mit Formulierungen wie: „Du machst dir zu viele Gedanken darüber, was andere Leute denken“ oder „[Vorname] hat Angst, in den Augen des Publikums schlecht dazustehen.“
Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Verwendung eines inneren Diskurses, der nicht in der ersten Person erfolgte, den Teilnehmern half, weniger Stress zu empfinden. Auch verringerte sich die Tendenz zur Wiederholung negativer Gedanken nach dem Ereignis deutlich. Außenstehende, die sich der Trennung zwischen den Gruppen nicht bewusst waren, bewerteten die Qualität ihrer Reden besser.
Den Forschern fiel außerdem auf, dass Teilnehmer, die sich nicht in der ersten Person ansprachen – sondern mit „Sie/du“ oder mit ihrem Vornamen –, eher dazu neigten, einen positiveren und unterstützenderen inneren Dialog zu führen. Sie ermutigten sich auf ähnliche Weise, wie gute Freunde sich angesichts einer belastenden Erfahrung gegenseitig Kraft geben.
Im Gegensatz dazu neigten die Mitglieder der Ich-Gruppe dazu, selbstkritischer zu sein und Gefühle der Sorge, Scham und Zweifel auszudrücken – sowohl vor als auch nach der Rede.
„Wenn Menschen sich ängstlich oder gestresst fühlen, können sie versuchen, in Gedanken mit sich selbst zu sprechen und dabei ihren eigenen Namen verwenden“, sagt Kross. „Unsere Daten zeigen, dass sich auf diese Weise die Fähigkeit, Situationen rationaler zu analysieren, verbessert. Dies wiederum verbessert die Kontrolle über ihre Gedanken, ihre Emotionen und ihr Verhalten unter Stress.“ 

Salomonisches Paradoxon

Eine der wichtigsten Studien auf dem Gebiet des Illeismus wurde von Prof. Kross in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Dr. Igor Grossman von der University of Waterloo in Kanada durchgeführt.
Die Forscher führten eine Reihe von Experimenten durch, in denen sie untersuchten, inwieweit Menschen Merkmale rationalen Denkens aufweisen. Untersucht wurden unter anderem die Fähigkeit, sich in die Sichtweise des Gegenübers hineinzuversetzen, die Bereitschaft zum Kompromiss, das Verständnis für mögliche Informationsdefizite und die Berücksichtigung möglicher zukünftiger Veränderungen.
Nach dem vorherrschenden Verständnis der modernen Psychologie umfasst Weisheit – oder weises Denken – diese Eigenschaften.
Bei einigen Experimenten wurde das Szenario der Untreue zwischen Ehepartnern verwendet. Die Idee bestand darin, zu untersuchen, ob Menschen rationaler denken – etwa indem sie unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen, Kompromissbereitschaft zeigen, sich der Begrenztheit ihrer Informationen bewusst sind und eine dynamische Wahrnehmung der Realität haben – wenn dieser Verrat den Freund betrifft oder sie selbst.
Die Ergebnisse bestätigten die Hypothese: Menschen neigen dazu, mehr Einsicht und Weisheit zu zeigen, wenn sie sich mit den Problemen anderer befassen, als wenn sie sich mit ihren eigenen Problemen auseinandersetzen.
Mit anderen Worten: Wir sind anderen gegenüber oft die klügeren Ratgeber als für uns selbst – ein Phänomen, das nach dem biblischen König Salomon als „Salomon-Paradoxon“ bezeichnet wird. Er war für seine Weisheit und seinen Rat gegenüber anderen bekannt, traf jedoch in seinen eigenen Angelegenheiten umstrittene Entscheidungen.
Die von Kross und Grossman vorgeschlagene Lösung besteht darin, „psychologische Distanz zu schaffen“, indem Sie das persönliche Problem so betrachten, als wäre es das eines anderen. Die Forschungsergebnisse zeigten, dass Menschen, die diesen Ansatz verfolgten, ein höheres Maß an Weisheit erreichen konnten und sich ihrer eigenen Probleme beinahe identisch reflektiert zuwandten wie den Problemen anderer.
Laut Kross und Grossman tritt das salomonische Paradoxon in allen Lebensphasen auf – von der Jugend bis ins hohe Alter –, und daher kann die Technik der mentalen Distanzierung in jedem Alter wirksam sein.
Darüber hinaus betonen sie, dass wir zwar manchmal andere um Rat fragen, aber dennoch die Fähigkeit besitzen, für uns selbst zu hervorragenden Beratern zu werden. Alles, was wir benötigen, ist uns selbst, wie aus der Perspektive eines Außenstehenden zu betrachten.

Distanzierung bedeutet nicht vermehrte Anstrengung

Doch die Forschung auf diesem Gebiet war damit nicht beendet. Prof. Kross wollte testen, ob die Technik der mentalen Distanzierung uns auch dabei helfen kann, zu entspannen, ohne dass wir hierfür besondere kognitive Anstrengungen unternehmen müssen. Und zwar, ohne dass wir dazu lange „Selbsterklärungen“ abgeben müssen, um uns selbst zu beruhigen.
Zu diesem Zweck führten Kross und seine Kollegen ein Experiment durch, bei dem die Teilnehmer unangenehme Bilder betrachteten, während ihre Gehirnaktivität per EEG gemessen wurde. In einigen Fällen wurden sie gebeten, ihre Gefühle in der ersten Person zu beschreiben, in anderen Fällen in der dritten Person.
Die Ergebnisse waren eindeutig. Als sie in der dritten Person mit sich selbst sprachen, kam es zu einer Abnahme des Gehirnindex, der auf emotionale Erregung hindeutet. Gleichzeitig gab es jedoch keine vermehrten Indizien für kognitive Anstrengung.
Mit anderen Worten: Allein das Sprechen über sich selbst in der dritten Person kann beruhigend wirken – ohne dass das Gehirn dabei härter „arbeiten“ muss. Ein weiteres Experiment, bei dem die Gehirnaktivität mittels MRT gemessen wurde, lieferte ähnliche Ergebnisse.
Wenn Dana beispielsweise vor einem Vorstellungsgespräch nervös ist, ist es besser, sich selbst zu sagen: „Dana ist ein bisschen nervös, aber sie ist bereit. Sie hat sich vorbereitet, sie hat geübt, und sie wird es schaffen“ – anstatt sich mit Gedanken wie „Ich bin so nervös, was soll ich tun?“ zu beschäftigen.

Der Vorteil des Tagebuchschreibens

Die Erkenntnisse von Kross und Grossman führten zur Entwicklung von Ansätzen, die Vorteile des Illeismus zu nutzen. Eine davon ist das Tagebuchschreiben.
In einer von Grossman und seinen Kollegen durchgeführten Studie wurden die Teilnehmer gebeten, täglich ein Tagebuch zu führen, in dem sie wichtige Ereignisse beschreiben, die sie im Laufe einer Woche oder eines Monats (in zwei getrennten Experimenten) erlebt hatten – hauptsächlich negative soziale Erfahrungen.
Die Versuchsgruppe schrieb über sich selbst in der dritten Person, während die Kontrollgruppe in der üblichen ersten Person schrieb. Darüber hinaus gab es eine dritte Gruppe, die keinerlei Anleitung zum Schreibstil erhielt.
Das wichtigste Ergebnis bestand darin, dass die Teilnehmer, die das Schreiben in der dritten Person übten, eine deutliche Verbesserung ihres „smarten Denkens“ bei zwischenmenschlichen Konflikten zeigten – sogar noch nach dem Ende der Intervention, als die Forscher von ihnen nicht mehr verlangten, in der dritten Person zu schreiben.
Das tägliche Üben des distanzierten Denkens – wie durch das Führen eines Tagebuchs –, kann dabei helfen, es zur Gewohnheit werden zu lassen, sich beobachtend neben sich selbst zu stellen.
Grossman verstand, dass die wirklichen Schwierigkeiten in „Echtzeit“ auftreten – mitten in einem Streit oder einer persönlichen Konfrontation. In solchen Momenten werden die meisten von uns in einen Strudel der Gefühle hineingezogen, der es schwierig macht, eine distanzierte Perspektive einzunehmen.
Wir neigen dazu, uns auf uns selbst zu konzentrieren – wie „ich“ verletzt wurde, was „ich“ fühle – und haben Schwierigkeiten, die andere Seite oder das Gesamtbild zu sehen.
Das tägliche Üben des distanzierten Denkens hilft auch, in Konfliktmomenten gelassener zu reagieren.
Das bringt uns zurück zu Benjamin Franklin, der sein Leben dokumentierte und sich selbst in seinem persönlichen Tagebuch untersuchte. Heute, fast 300 Jahre später, scheint die moderne Psychologie zu bestätigen, dass er auf dem richtigen Weg war – fügt aber eine wichtige Erkenntnis hinzu: Selbstbeobachtung ist besonders effektiv, wenn sie aus der richtigen emotionalen Distanz erfolgt.
 
Dieser Artikel erschien im Original in der israelischen Epoch Times

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