Atlantis, Titanic, bayerische Karibik: Versunkene Geschichte Deutschlands
Was liegt in Deutschlands Flüssen, Seen und Meeren? Die Antwort: alles – von untergegangenen Siedlungen und Wracks bis zu Munition und geheimnisvollen Apparaten.
0
Link kopiert
Link kopieren
In Mythen schlummern am Meeres- und Seegrund oft Ungeheuer, Schätze oder versunkene Städte.
Der Mensch benötigt Wasser, weshalb er seit seiner Existenz Gewässer aller Art nutzt. Mal werden Meere überquert, in Flüssen nach Nahrung gesucht oder Küsten und Ufer bewohnt – auch im heutigen Deutschland.
Nicht alle Aktivitäten hinterlassen Spuren, die wir nach Tausenden Jahren noch finden und lesen können. Wenn sie jedoch da sind, dann oft in einem guten Zustand. Diese zu erforschen, hat seinen Preis, und so sind wissenschaftliche Untersuchungen wie archäologische Ausgrabungen im Wasser deutlich kostenintensiver als an Land.
Dabei sind spezielle Geräte und erfahrene Taucher nötig, die in teils gefährlichen Situationen genau wissen, was sie tun. Nur wer weiß, wie und wo er sucht, kann jene alten Zeitkapseln finden und ihnen ihre Geheimnisse entlocken. Und von diesen Zeitkapseln hat Deutschland einige zu bieten.
Am Bodensee können historische Pfahlbauten besucht werden.
Foto: Gim42/iStock
Was lauert am Grund?
In Mythen schlummern am Meeres- und Seegrund oft Ungeheuer und versunkene Städte. Manche Menschen glauben, dass in jeder Sage ein wahrer Kern steckt. Im Fall der Ostsee und des bayerischen Walchensees scheint sich dies – abgesehen vom monströsen Riesenwels – zu bewahrheiten.
Die ältesten abgetauchten Relikte sind Lager und Siedlungen mit allem, was dabei anfiel. Aufgrund des nacheiszeitlichen Wasserspiegelanstiegs um bis zu 8 Metern liegen viele Spuren heute unter Wasser und es blieb erhalten, was an Land meist verrottet: Pfeil und Bogen aus Holz sowie Kleidung und Schnüre aus Pflanzenfasern. So wissen wir heute, was Menschen einst aßen, erfanden, nutzten und weiterentwickelten.
Mit einer zunehmenden Zahl an Menschen und dem Ackerbau wurden aus kleinen Dörfern große Städte. Frühe Fortbewegungsmittel zu Wasser wie Einbäume entwickelten sich zu kleinen Booten und Kähnen hin zu größeren hölzernen Segelschiffen und zu dampfbetriebenen stählernen Kriegsschiffen. Diese tauchten immer wieder – mehr oder weniger freiwillig – ab.
Manche Schiffe wurden absichtlich abgewrackt, während andere ungewollt bei einem Unglück sanken.
Foto: Velvetfish/iStock
Während moderne Kriegsschauplätze und Überreste, etwa aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, oft gut bekannt sind, ging das Wissen um ältere Konflikte über die Jahrhunderte verloren. So kommt es, dass ein unscheinbarer kleiner Fluss im Norden von Deutschland das älteste bekannte Schlachtfeld Europas birgt.
Orte wie diese zeigen, wie schlagartig das Leben zum Erliegen kommen kann. Auch die unter Tage liegenden Bergwerke ereilte ein ähnliches Schicksal: Von heute auf morgen herrschte Stillstand statt reger Betrieb, und die Natur holte sich mitunter zurück, was ihr genommen wurde.
Forscher haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Geschichten zu erhalten. Das deutsche Atlantis in der Ostsee, die deutsche Titanic in der Nordsee oder die bayerische Karibik sind nur drei Zeitkapseln, die im Folgenden vorgestellt werden.
1. Tollensetal: Europas ältestes Schlachtfeld
Mitten in Mecklenburg-Vorpommern fließt der kleine Fluss Tollense durch weite Wiesen und Auen. Niemand ahnte bis 2007, dass hier das älteste bekannte Schlachtfeld Europas liegt. Doch tatsächlich entdeckten Archäologen auf einer Fläche von 400 Quadratmetern Tausende Menschenknochen und wenige Pferdeknochen – fast alles ohne Zusammenhang miteinander vermischt. Außerdem zeigten die vom Wasser braun bis schwarz verfärbten Knochen, überwiegend von Männern zwischen 20 und 40 Jahren, unzählige Verletzungsspuren.
Inzwischen ist bekannt, dass sich hier vor rund 3.300 Jahren zwei Kriegergruppen – teilweise zu Pferd – mit Pfeil und Bogen, Äxten und Keulen gegenüberstanden. Schätzungen zufolge waren etwa 2.000 Personen verwickelt. Eine Kampfgruppe könnte aus dem heutigen Süddeutschland oder Tschechien stammen. Was zu dem Krieg am Ende der Bronzezeit führte, ist unbekannt. Sicher ist nur, dass das Tollensetal das Schicksal der gefallenen Männer bis heute verwahrt hat.
Gelegentlich kommt es vor, dass Erdmassen absacken, Sinklöcher entstehen und sich diese mit Wasser füllen. Das größte dieser Art befindet sich in Xiaozhai, China, ist über 600 Meter tief und fasst rund 220 Millionen Kubikmeter Wasser. In Sachsen-Anhalt entstand kurz nach der letzten Eiszeit ein geringfügig kleineres Exemplar: Der Arendsee fasst 160 Millionen Kubikmeter Wasser. Einer modernen Erzählung zufolge soll sich hier im 9. Jahrhundert eine Insel mit einem fränkischen Kastell, einer sogenannten Warte, befunden haben.
Tatsächlich konnten Forscher in den Tiefen des Arendsees steinerne Strukturen, Ziegel und Boote nachweisen. Ob es sich dabei aber um das besagte Kastell handelt, ist derzeit unklar. Doch was führte zu ihrem Sinken? Möglicherweise könnte ein erneuter Erdfall zum Untergang geführt haben. Ähnliches ist aus dem Jahr 1685 bekannt, als eine Mühle mitsamt 20 Hektar Land plötzlich im Arendsee verschwand.
Glaubt man einer Volkssage, liegt am Grund des Arendsees ein über 1.000 Jahre altes Kastell.
Foto: Aufwind-Luftbilder/iStock
3. Rungholt: Das deutsche Atlantis
Im Nordfriesischen Wattenmeer lebten vor 1.000 Jahren die mittelalterlichen Menschen friedlich auf ihren Warften und bauten in ihrem von Deichen geschützten Marschland Getreide an. Einer dieser Orte ist das aus Sagen wohlbekannte Rungholt, dessen Bewohner dank der günstigen Seeanbindung und des Handels mit den deutschen Hansestädten schnell Reichtum erlangten. Dies änderte sich am 16. Januar 1362 mit der „Ersten Groten Mandränke“ – auch zweite Marcellusflut genannt. Der gesamte Ort wurde zerstört, unzählige Menschen starben.
Die Überlebenden bauten Rungholt wieder auf und begannen von Neuem mit dem Handel. Am 12. Oktober 1634 brach die Burchardiflut, auch „Zweite Grote Mandränke“ genannt, herein. Rund 6.400 Menschen, zwei Drittel der Einwohner, starben, während 13.000 Hektar Land, 1.349 Häuser und 15 Kirchen verloren gingen. Dieses Mal sollte die Sintflut das Ende von Rungholt bedeuten. Im Gegensatz zum antiken Atlantis ist seine Existenz gesichert, und noch heute liegen Gebäudefundamente und Gegenstände des Lebens am Grund der Nordsee.
Der Kupferstich von Eberhard Werner Happel (1647–1690) zeigt die Burchardiflut im Jahr 1634.
Im 12. Jahrhundert entstand mit der Hanse in Nordeuropa ein Wirtschaftsverband, der in den darauffolgenden 500 Jahren zu Reichtum in der Region führen sollte. Ausschlaggebend war die Gründung der Stadt Lübeck – der „Mutter der Hanse“ – im Jahr 1143. Von da schlossen sich weitere Städte der Hanse an, neue Handelsorte wurden gegründet und der Handel florierte. Doch die Situation eskalierte und die Königreiche Norwegen, Dänemark und Schweden kämpften in den Nordischen Kriegen (1554–1721) um die Vorherrschaft in der Ostsee.
Am 30. Mai 1564 versenkte Lübeck, Verbündeter von Dänemark, das „unsinkbare“ schwedische Kriegsschiff „MARS“, welches Archäologen 2011 wiederentdeckten. Ein Zankapfel war zudem Stralsund, wo Schweden 1715 eine Sperre aus 13 versenkten, mit Steinen überschütteten Schiffen errichtete, die heute noch im Greifswalder Bodden liegen. Weil ein schwedischer Schiffslotse zu Norwegen und Dänemark überlief, konnten die Gegner die Hindernisse sicher passieren und Schweden besiegen. Mit dem Ende des Krieges endete auch die Hanse.
Noch heute können Besucher historische Segelschiffe im Museumshafen der Altstadt Lübeck sehen.
Foto: A-Tom/iStock
5. Walchensee: Die bayerische Karibik
Südlich von München liegt mitten in den Voralpen auf 800 Metern Höhe ein malerischer See, der wegen seiner Farbe auch als „bayerische Karibik“ bezeichnet wird. Hier besaß Ludwig II. von Bayern, der Herr von Schloss Neuschwanstein, eine Jagdhütte, und Richard Wagner komponierte hier einen Teil seiner Oper „Siegfried“. Doch sie waren nicht die Ersten an diesem sagenumwobenen Ort.
Einer Legende nach soll am Grund des Walchensees ein riesiger Wels leben, der niemals geweckt werden dürfe, da er sonst eine apokalyptische Sintflut auslösen würde. Deswegen war es bis in die Neuzeit verboten, Steine in den See zu werfen. Statt eines Ungeheuers fanden Forscher im Walchensee die Reste einer mittelalterlichen Fischzucht, Schiffs- und Autowracks sowie Waffen, Loren, einen Einmannbunker und Teile eines britischen Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg.
Am Grund des etwa 200 Meter tiefen Walchensees in Bayern liegen Funde aus 1.000 Jahren Geschichte.
Foto: saiko3p/iStock
6. Bergwerk Nuttlar: Zeche geflutet
Mit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert kam in Europa der Bergbau erneut für bestimmte Zeit in Mode. Egal ob über oder unter Tage, die Menschen haben in ganz Deutschland wichtige Rohstoffe abgebaut. Viele der aufgegebenen untertägigen Stollen und Schächte sind heute überflutet, so auch im Bergwerk Nuttlar in Nordrhein-Westfalen.
1985 endete hier der Abbau von Schiefer für Schul- und Schreibtafeln sowie für Dachdeckung. Weil eine Räumung der Zeche oft zu aufwendig war, blieb vieles im Berg – eine Fundgrube für Historiker. Diese tauchen noch heute in die zwei untersten, gefluteten Sohlen hinab, um hängengelassene Kleidung, Helme und Lampen sowie herumliegende Werkzeuge und Geräte zu erforschen.
7. Ägyptische Mumien in der Elbe
1822 sank der Frachtsegler „Gottfried“ vor Cuxhaven an der Elbe. Mit an Bord waren rund 100 Kisten voller ägyptischer und griechischer Relikte, die der Altertumsforscher Heinrich von Minutoli für Preußen sammelte. Während schwere Kisten mit Steinen oder Sarkophagen versanken, schwammen leichte Kisten oben und wurden an Land gespült. Neugierige öffneten die Kisten und erschraken: Im Inneren waren ägyptische Mumien, die sie aus Furcht schnell vergruben.
Das Wenige, das überlebte, bildete die Basis des Ägyptischen Museums in Berlin. Bis heute suchen Forscher nach dem Wrack und seiner Ladung. Auch auf dem Weg nach Berlin – im Werbellinsee – sind Schiffe mit einer Ladung voller Steine untergegangen. Diese waren als Baumaterial für Kirchen und öffentliche Gebäude gedacht, die der bekannte deutsche Architekt Karl Friedrich Schinkel entwarf.
Hört man vom Schicksal der deutschen Dampfsegelfregatte „SS Cimbria“, werden sich viele an die Todesfahrt der Titanic erinnern. Im kalten Frühjahr 1883 steuert ein mit europäischen Auswanderern beladenes Schiff Richtung New York. Die Sicht ist schlecht und es kommt zu einer Kollision – im Fall der aus Hamburg kommenden SS Cimbria mit einem anderen Dampfer. Das Schiff besitzt zu wenig Rettungsboote, ist nicht optimal konstruiert und geht mit seinen fast 500 Personen an Bord langsam unter. Nur 57 Menschen überleben.
1974 wurde die Position des heute als „deutsche Titanic“ bezeichneten Schiffes nahe Borkum in der Nordsee wiederentdeckt. 2007 bis 2008 und 2012 folgten erste Tauchaktionen zum Wrack, wobei Schmuck der Passagiere, eine Handglocke, ein Anker und Meißner Porzellan geborgen wurden. Teller mit der Aufschrift „Remember me“ („Erinnere mich“) und „Forget me not“ („Vergiss mich nicht“) zeugen noch heute von dem tragischen Schiffsunglück.
Zeichnung vom Untergang der SS Cimbria 1883 in der Nordsee. Später wurde das Schiff als „deutsche Titanic“ bekannt.
Mit dem Tollensetal besitzt Mecklenburg-Vorpommern den ältesten Kriegsschauplatz und mit Peenemünde den jüngsten. Hier befand sich im Zweiten Weltkrieg eine Versuchsanstalt zur Entwicklung von Waffen, was den Ort zum Hauptziel der Alliierten während des Krieges machte. Entsprechend viel Munition, abgeschossene Flugzeuge und versenkte Boote finden sich in diesem Bereich der Ostsee. Noch heute ist der Ort für Mensch, Tier und Umwelt gefährlich und gleichzeitig wissenschaftlich von Bedeutung.
Auch in anderen Gebieten der Ostsee finden sich zahlreiche Kriegsrelikte. Im November 2020 sorgte etwa die Entdeckung des Ver- und Entschlüsselungsapparates „Enigma“ in der Flensburger Förde für Aufsehen.
Die von dem Unterwasserarchäologen und Taucher Florian Huber auf dem Grund der Ostsee fotografierte Enigma-Chiffriermaschine aus dem Zweiten Weltkrieg.
Foto: Florian Huber/submaris/dpa/dpa
Aber nicht immer stehen die Gegenstände im Vordergrund der Archäologen, denn dank ihrer Kenntnisse helfen sie auch bei der Suche nach Vermissten. So arbeiten die Archäologen der Universität Kiel eng mit der US-amerikanischen Organisation Defense POW/MIA Accounting Agency zusammen, um versunkene Wracks zu finden und die sterblichen Überreste der US-Besatzung in die Heimat zurückzuführen.
Alle versunkenen Relikte sind in Deutschland rechtlich geschützt. Eine Entnahme der Objekte wird daher mit hohen Geldbußen und Strafen geahndet. Zum Schutz des Kulturgutes und des eigenen Lebens gilt daher: Sollten Sie etwas entdecken, dann fassen Sie dies nicht an und melden Sie es dem dafür zuständigen archäologischen Landesamt. Wer dennoch Projekte unterstützen möchte, kann dies über Ehrenamt, Vereine oder Organisationen in Zusammenarbeit mit Fachleuten tun.
Welche Fundstätte fasziniert Sie am meisten, sodass Sie mehr erfahren wollen? Schreiben Sie uns an [email protected].