Männer werden zunehmend depressiv

Ursachen für Depressionen können sehr vielfältig sein. Ein Psychologe vermutet, dass vor allem bei Männern der gesellschaftliche Druck auf die Veränderung der Rollenverteilung von Mann und Frau hineinspielen könnte.
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Bei Männern beziehen sich Depressionen oft auf Versagenserlebnisse im Beruf und auf Trennungen von der Partnerin oder von den Kindern.Foto: iStock
Von 20. November 2022

Stephan rennt am Morgen eilig zur Kita – ein Kind auf dem Arm, das andere an der Hand. Auf dem Weg ins Büro macht er einen kleinen Umweg, um seine Frau zu entlasten. Da diese wie er Vollzeit arbeitet, ihr Arbeitsweg aber länger ist, kümmert er sich am Morgen um die Kinder und liefert sie pünktlich ab. Den Einkaufszettel hat er auch in der Tasche – nach Feierabend geht er einkaufen und kocht dann für die ganze Familie. Seine Frau hat die Kinder von der Kita abgeholt und sitzt jetzt erneut am Computer, da noch ein paar Dinge zu erledigen sind.

Stephan weiß nicht so richtig, was genau seine Rolle in der Familie und der Gesellschaft ist, aber er macht es einfach. Er hatte von seinen Eltern gelernt, dass der Mann der Ernährer und Beschützer der Familie ist. Während er für den Lebensunterhalt der Familie sorgt, kümmert sich die Frau um Haushalt und Kinder. Jetzt ist Stephan irgendwie alles und nichts. Er ist nicht der alleinige Ernährer der Familie, aber wie eine Frau und Mutter fühlt er sich auch nicht – das steckt einfach nicht in seinen Wurzeln als Mann. Stephan wirkt immer irritierter und gereizter. Er funktioniert nur noch und merkt gleichzeitig, wie ihm seine Identität als Mann abhandenkommt. In den wenigen freien Minuten, die ihm am Tag bleiben, wird er immer nachdenklicher und grübelt viel.

So wie Stephan geht es tausenden von Männern in Deutschland. Der Stress durch die Doppelbelastung von Beruf und Familie macht nicht nur den Frauen zu schaffen, sondern zunehmend auch den Männern. Depressionen können eine Folge davon sein.

Laut einer aktuellen Erhebung der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) nehmen vor allem langwierige und wiederkehrende Depressionen in Deutschland zu – bundesweit stiegen diese Diagnosen im Zeitraum von 2011 bis 2021 sogar um 71 Prozent. Auffallend dabei ist, dass Frauen zwar immer noch stärker betroffen sind, aber Männer recht schnell aufholen.

Anstieg bei Männern doppelt so hoch als bei Frauen

Mittlerweile leiden bundesweit 18,4 Prozent der Frauen und 9,4 Prozent der Männer an einer oder beiden genannten Formen der Depression. Die Corona-Krise drückt sich in der KKH-Analyse zu Depressionen bislang allerdings noch verhalten aus. Vom Vor-Pandemie-Jahr 2019 auf 2021 verzeichnet die Kasse nur bei wiederkehrenden Depressionen ein leichtes Plus von bundesweit etwa sechs Prozent. Bei den Männern ist der Anstieg mit neun Prozent mehr als doppelt so groß als bei den Frauen.

Psychologe Prof. Dr. Michael Klein beschäftigt sich seit längerem mit Männerfragen. Er bestätigt gegenüber Epoch Times, dass Männer zunehmend unter Depressionen leiden, allerdings seien noch nicht alle Faktoren bekannt, die dafür verantwortlich sind.

„Der Effekt hängt auch damit zusammen, dass die Männer von einer niedrigeren Basis kommen“, erklärt der Kölner Therapeut. „Wir haben bei Depressionen etwa ein Viertel Männer und drei Viertel Frauen. Bei Männern wurde in der Vergangenheit diagnostisch oft nicht so genau hingeschaut.“

Beim genaueren Hinsehen ließen sich allerdings Symptome wie Reizbarkeit, Unruhe, Irritierbarkeit, Gedächtnisprobleme und Aggressivität erkennen, die Teil einer männlichen Depression sein können. „Dabei handelt es sich um geschlechtsspezifische Symptome, die bei Frauen kaum bis gar nicht vorkommen. Seit einiger Zeit schauen die medizinischen Fachkräfte nun genauer hin und erkennen diese Merkmale immer mehr“, so Klein.

Der Kölner Coach, der sich als psychologischer Forscher auf Männerfragen spezialisiert hat, sieht eine der Ursachen auf jeden Fall im Wandel der Geschlechterrollen von Mann und Frau in der Gesellschaft. Damit würden die Männer sensibler und emotionsfokussierter.

Klassische Männerrolle schützt vor Depressionen

In einer Studie aus Großbritannien habe man laut dem Psychologen herausgefunden, dass klassisch rollenorientierte Männer weniger depressiv werden. Das bedeute für ihn, dass die klassische Männerrolle vor Depressionen schützt. Die moderne Männerrolle sei dagegen depressionsaffiner.

„Wenn die neue Rolle bedeutet, dass die Männer alles Alte, Traditionelle ablegen sollen, dann bekommen sie auf jeden Fall Probleme“, so Klein. Leider gebe es einige Indikatoren dafür, „dass viele Männer irrigerweise diesen Weg erstmal gehen“.

Dem gesellschaftlichen Druck, dem die Männer jetzt ausgesetzt sind, könnten sie sich nur schwer entziehen. „Auch die Partnerschaften sind davon betroffen, wenn Frauen immer mehr verlangen, dass Männer mehr von der Hausarbeit machen sollen als sie selbst“, sagt Klein.

„Die Geschlechterrollenveränderung bringt beide, Männer wie Frauen, an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit. Wenn die Frauen jetzt in der Gesellschaft ‚ihren Mann stehen‘ müssen, übertragen sie den ihnen auferlegten Druck auf den Mann, der sich zusätzlich zu seinem traditionellen Vollzeitjob noch um Haushalt und Kinder kümmern soll. Damit wird er in eine Doppelrolle gepresst, die ihm bislang gar nicht vorgelebt wurde. Ist die Anpassungsfähigkeit gering, kann er seelisch krank werden.“

Versagenserlebnisse und Trennungen

Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, die das Leben stark beeinträchtigen können. Auslöser für depressive Episoden – also zeitlich begrenzte Störungen – können Verlusterlebnisse und -ängste durch private, gesellschaftliche und politische Krisen sein, aber auch scheinbar positive Veränderungen wie die Geburt eines Kindes. „Ob jemand langfristig an einer Depression erkrankt, hängt meist vom Zusammenwirken mehrerer Faktoren ab“, erläutert Aileen Könitz, Ärztin und Expertin für psychiatrische Fragen bei der KKH. Generell seien die Ursachen sehr individuell und vielfältig.

Neben traumatischen Erlebnissen wie Gewalt und Missbrauch, Verlusterfahrungen in der Kindheit, schweren Krankheiten oder chronischem Stress spielen auch die genetische Veranlagung sowie neurobiologische Faktoren eine Rolle. Leidet jemand bereits an einer Depression, könnten auch gesellschaftliche Krisen die Erkrankung negativ beeinflussen.

„Bei Männern beziehen sich Depressionen oft auf Versagenserlebnisse im Beruf und auf die Trennung von der Partnerin oder von den Kindern. Im Wesentlichen geht es darum, dass Lebenskonzepte und Rollenmuster erschüttert oder bedroht sind“, so Psychologe Klein. Oft ginge mit einer längeren Phase von Kränkung, Trennung und Versagenserlebnissen ein Gefühl der Verbitterung oder Vereinsamung einher.

Männer leiden häufiger an Schlaflosigkeit

Merkmale einer Depression sind extreme Niedergeschlagenheit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Die Betroffenen verlieren ihre Interessen und können darüber hinaus von Schlaflosigkeit, Selbstzweifeln, Schuldgefühlen und Konzentrationsstörungen geplagt sein. Erkrankte sind oft nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen und Freude zu empfinden. Häufig spielen auch Schlafstörungen oder Appetitmangel, oft verbunden mit einer Gewichtszu- oder -abnahme eine Rolle. Viele Erkrankte empfinden zudem Ängste und körperliche Beschwerden wie Magen-, Kopf- oder Rückenschmerzen.

Es sei „empirisch gesichert, dass depressive Männer etwas häufiger von Schlaflosigkeit betroffen sind und mit höherer Gereiztheit reagieren als depressive Frauen“, erklärt Klein. Auf Dauer könnten auch suizidale Gedanken und Fantasien auftreten.

„Männer begehen drei- bis viermal häufiger Suizid als Frauen, oft ohne darüber vorher zu sprechen. Die meisten dieser Männer leiden unerkannt an Depressionen“, so Klein weiter.

Laut dem Experten empfiehlt sich bei einer Depression eine intensive Psychotherapie – ambulant oder stationär – anfangs oft in Kombination mit einer antidepressiven Medikation. Dabei führt der erste Weg zum Hausarzt. Er überweist dann an einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten. Begleitend sollte auch Sport wegen seiner antidepressiven Wirkung betrieben werden.

Höchster Zuwachs an Depressionen in Baden-Württemberg

Den deutschlandweit höchsten Zuwachs an wiederkehrenden Depressionen beider Geschlechter verzeichnete die KKH mit fast 112 Prozent in Baden-Württemberg, den niedrigsten mit 39 Prozent in Hamburg. Bei depressiven Episoden, also kürzeren oder einmaligen depressiven Phasen, fällt das Plus zwar auch deutlich, aber viel geringer aus (20 Prozent). Hier liegt Sachsen-Anhalt mit rund 48 Prozent vorn. Schlusslicht ist ebenfalls Hamburg mit rund fünf Prozent.

Offenbar wirken sich Krisen wie die Corona-Pandemie vor allem negativ auf Menschen aus, die bereits an einer Depression leiden. Darüber hinaus hätten die Lockdowns zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen und zu einer wegbrechenden Alltagsstruktur geführt, die gerade für solche Patienten besonders wichtig sei, so die Erhebung der Krankenkasse.

Was Stephan betrifft, so glaubt er nicht, dass er depressiv ist. Er findet es richtig, wenn sich Mann und Frau gegenseitig unterstützen. Nur manchmal würde er gerne mal ein paar Dinge tun, die eben nur Männer machen. Jetzt hat er sich für einen Kurs im Bogenschießen angemeldet. Das wollte er schon immer mal machen. Die Zeit dafür will er sich freiräumen. Und wenn sein Sohn etwas älter ist, so hofft er, mit ihm zusammen die Autoreifen zu wechseln oder den Rasen mähen zu können. Und dann bleibt noch das gemeinsame Fußballspielen, denn Bewegung vertreibt bekanntlich die trübseligen Gedanken.

 



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